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Meridian Czernowitz – 10. Lyrikfestival
Parade der Poeten

Czernowitz ist die Heimat des Dichters Paul Celan. Der jüdische Lyriker floh aus der heutigen Ukraine nach Paris. In der Stadt wird seit zehn Jahren ein Festival für Poeten aus aller Welt veranstaltet. Es wird diskutiert, analysiert und in mehreren Sprachen vorgelesen.

Von Sabine Adler |
Ein alter Bus fährt durch die Straßen von Czernowitz in der heutigen Ukraine
In Czernowitz, in der heutigen Ukraine, ist der Dichter Paul Celan (1920-1970) geboren und aufgewachsen (dpa)
Dass der Prophet nichts im eigenen Land gilt, trifft in der Ukraine auf kaum jemanden so sehr zu wie auf Paul Celan. Als Swyatoslaw Pomaranzew vor zehn Jahren das Lyrikfestival gründete, nannte er es Meridian Czernowitz, eine Anspielung auf Celans Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960. Erst 40 Jahre später erfuhren die Einwohner seiner Geburtsstadt Czernowicz, dass der Poet im Ausland zu Ruhm gekommen war.
Swyatoslaw Pomaranzew : "Bis zum Jahr 2000 war er völlig unbekannt in unserer Stadt. Weil er Jude war und auf Deutsch schrieb. Deutsche und Juden galten zu Sowjetzeiten als Feinde."
Hommage an den Dichter-Großvater
Zumal wenn sie – wie Paul Celan – ins westliche Ausland, nach Paris flohen. Mit dem jährlichen Literaturfest erfüllte Swyatoslaw Pomaranzews den Wunsch seines Dichter- Großvaters Igor Pomaranzew, die zu Sowjetzeiten totgeschwiegenen Autoren ins Bewusstsein zu rufen. Angetan von einem Lyrikfestivals in der Westukraine waren von Anfang an die auch international bekannten ukrainischen Schriftsteller Jury Andruchowytsch und Serhij Zhadan. Sie sind wie immer auch dieses Jahr dabei, ebenso Neuentdeckungen. Festival-Chefin Evgenia Lopata freut sich, dass Kateryna Kalytko der Einladung nach Czernowitz gefolgt ist:
"Sie ist die größte poetische Entdeckung der letzten zwei Jahre, kommt selbst aus Winnitza, der Zentralukraine, ist Lyrikerin. Sie hat auch aus den Sprachen des Balkans übersetzt. Sie ist die neue ukrainische weibliche Stimme in der Poesie. Sie hat mehre Preise bekommen, wir haben sie jetzt auch in unserem Verlag. Wir haben ihren letzten Lyrikband bei uns veröffentlicht. Also sie ist für mich wirklich die größte Entdeckung der letzten Jahre in der Literatur, sowohl in Prosa als auch in Lyrik."
Diskussionsforum statt Elfenbeinturm
In ihrem Buch "Das Land der verlorenen Menschen" schreibt Kateryna Kalytko über die Krim und deren Bewohner, denen die Heimat geraubt wurde. In ihrem neuen Band wird sie die Geschichte der Juden von Winnitza erzählen, ein Erbe, das in der Ukraine zunehmend ins kollektive Bewusstsein rückt. Das Lyrik-Festival hat sich nie als Elfenbeinturm verstanden, seit 2014, dem Jahr der Krim-Annexion und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine, will es erklärtermaßen zudem ein Diskussionsforum sein.
"In der heißen Phase des russisch-ukrainischen Krieges haben wir klargestellt, dass das kein Bürgerkrieg ist, dass hier in der Westukraine auch keine Faschisten mit Kalaschnikow herumrennen, dass hier jeder Russisch sprechen kann, wenn er gern möchte, so wie ich jetzt mit Ihnen und das man auch niemanden retten muss."
Wolodymyr Rafeenko entfloh dem Krieg im Osten. Der auch in Russland gefeierte Schriftsteller lebt heute bei Kiew, nicht mehr in Donezk, wo die prorussischen Separatisten das Sagen haben. Ihre Herrschaft wirkte sich ganz unmittelbar auf sein Schreiben aus: Er wechselte die Sprache.
"Als sie kamen und erklärten, sie müssten mich vor meinem Land beschützen, beschloss ich, das nächste Buch auf Ukrainisch zu schreiben. Dafür musste ich die Sprache lernen. Ich habe Ukrainisch verstanden, aber nicht gesprochen. In "Mondegreen", so heißt das Buch, geht es jetzt um mein Alter Ego, das erkennt, wie sehr sich Denken und Erinnerungen verändern, je nachdem, welche Sprache man gerade benutzt."
Mehrsprachige Lesungen
Im multiethnischen Czernowitz finden alle Lesungen mehrsprachig statt. Zwei Mal im Laufe des Lyrikfestivals treten die Autoren zu sogenannten Paraden an, die den Besuchern die Möglichkeit geben, in kürzester Zeit alle Poeten auf einmal kennenzulernen, einschließlich aller deutschen Teilnehmer, also Ronya Othmann, die den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Publikumspreis bekam, Uta Ackermann, Lea Schneider und Björn Kuhligk.