Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Merkel-Rückzug, EU und Welthandel
"Kein Problem, dass Merz viel Geld verdient hat"

Die Große Koalition müsse sich nach dem Rückzug von Kanzlerin Angela Merkel als Parteichefin zusammenraufen, sagte der Ökonom Marcel Fratzscher im Dlf. Seine Sorge sei, dass Europa immer stärker ins Hintertreffen gerate. Dass mit Friedrich Merz ein Wirtschaftsmann nach dem CDU-Vorsitz greift, sei kein Problem.

Marcel Fratzscher im Gespräch mit Birgid Becker | 29.10.2018
    Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), auf der Bundespressekonferenz in Berlin.
    Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) (imago stock&people)
    Birgid Becker: Angela Merkel heute Vormittag. – Erst der Abschied vom Parteivorsitz, dann der angekündigte Rückzug aus der Politik. Angela Merkel geht. Wie steht es um die ökonomischen Konsequenzen dieser Entscheidung? – Darüber habe ich vor der Sendung mit dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gesprochen, mit Marcel Fratzscher.
    Angela Merkel steht für Stabilität in Europa, steht für eine klare Haltung zu Welthandel und zu vertraglichen Verflechtungen der Staaten untereinander. Nun der angekündigte Rückzug. Was löst das aus, habe ich ihn gefragt.
    Marcel Fratzscher: Erst einmal muss man natürlich anmerken, dass die deutsche Wirtschaft brummt. Es ging Deutschland wirtschaftlich selten so gut in den letzten 30, 40 Jahren, wie das heute der Fall ist. Dazu hat natürlich auch die Bundeskanzlerin einen wichtigen Beitrag geleistet, denn sie war ein Anker der Stabilität, gerade während der europäischen Krise.
    Die große Frage ist, wie geht es weiter, und was in den letzten Jahren zu kurz gekommen ist, sind Zukunftsinvestitionen in Bildung, in Innovation, in eine gute Infrastruktur, in die sozialen Systeme, und man sieht, dass die Große Koalition immer weniger handlungsfähig ist. Diese Entscheidung der Bundeskanzlerin schafft erst einmal Unsicherheit, wie es weitergeht, und Unsicherheit ist Gift für die Wirtschaft, weil Unternehmen nicht wissen, wie sie sich darauf einrichten müssen. Deshalb richtet das natürlich auch einen wirtschaftlichen Schaden an, solange diese Unsicherheit im Raum ist.
    Forderung nach Handlungsfähigkeit
    Becker: Sie sagen, Angela Merkel war. Nun geht sie ja zunächst nur als Parteichefin. Die Kanzlerin bleibt im Amt. Aber sie ist dennoch angezählt, sagen Sie, wegen des angekündigten Rückzuges?
    Fratzscher: Nicht unbedingt. Die Frage ist, wie die CDU sich neu aufstellt, denn die Große Koalition hat ja ein ambitioniertes Programm vorgelegt, einen Koalitionsvertrag. Das Problem der Großen Koalition in den letzten Monaten war, dass sie sich untereinander gestritten hat, sich mit sich selber beschäftigt hat. Die Frage, die es in der CDU zu klären gilt: Wie kann diese Handlungsfähigkeit einer Großen Koalition wiederhergestellt werden.
    Becker: Gehen Sie denn davon aus, dass das überhaupt funktioniert, Professor Fratzscher?
    Fratzscher: Ich gehe davon aus, dass es funktioniert, denn es gibt eine Dringlichkeit, Reformen umzusetzen. Die Bundesregierung, egal wie sie aussieht, muss die Reformen Europas voranbringen. Emmanuel Macron, der französische Präsident hat den Deutschen bereits vor über einem Jahr die Hand gereicht und gesagt, bitte, Deutsche, macht die Reformen mit mir. Die Bundesregierung hat bisher noch nicht oder zu wenig darauf geantwortet.
    Wir wissen, Deutschland hat große Probleme im Bereich Innovation, was die zukünftige Infrastruktur betrifft, Digitalisierung betrifft. Die Dringlichkeit für Reformen ist da. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass es gelingen kann. Man muss sich nur zusammenraufen, um wirklich an einem Strang zu ziehen. Das ist die Hauptaufgabe der Großen Koalition, dies jetzt zu leisten.
    Becker: Wo ist denn die Lücke am größten, die Angela Merkel, auch wenn sie als Kanzlerin noch da ist, aber in ihrer Gestaltungskraft vielleicht hinterlässt? In der EU, oder als Gesprächspartnerin gegenüber den USA, gegenüber China, im großen Konzert?
    Fratzscher: Meine Sorge ist, dass Europa in den globalen Konflikten immer stärker ins Hintertreffen gerät. Donald Trump, der den globalen Handelskrieg vom Zaun bricht, gerade auch Deutschland sich als Gegner auserkoren hat, Europa, die in diesem Konflikt geschwächt sind. Aber Europa muss auch wichtige Reformen auf den Weg bringen, um den Euro nachhaltig zu machen. Wir sehen den Brexit, wir sehen die Situation in Italien. Das braucht eine starke, handlungsfähige Bundesregierung. Ohne eine starke Kanzlerin, die hier auch wirklich politisches Kapital investieren kann, die ihre Regierung, ihre Partei mitnimmt, werden diese Reformen in Europa nicht gelingen, wird Europa ins Hintertreffen geraten. Deshalb ist es so wichtig, dass die Bundeskanzlerin jetzt dieses politische Kapital aufbringt, um extern in Europa Verantwortung übernehmen zu können. Das ist meine große Sorge, dass ihr das nicht gelingen könnte.
    "Irrelevant", ob Physikerin oder Wirtschaftsexperte
    Becker: Kann sie denn überhaupt die Kanzlerschaft zu Ende bringen? Es ist ja kaum vorstellbar, wie eine Zusammenarbeit aussehen soll mit zum Beispiel einem Parteivorsitzenden Merz, oder mit einem Parteivorsitzenden Spahn. Beide sind ja anerkannte Merkel-Rivalen, die es nun offensichtlich zur Nachfolge drängt. Die Macht liegt im Kanzleramt. Haben Sie eine Vorstellung, wie da eine Zusammenarbeit funktionieren soll?
    Fratzscher: Jede Partei muss ein Team zusammenbauen, das funktionieren kann. Klar ist, dass die beiden großen Volksparteien massiv an Stimmen verloren haben. Deshalb ist es im Interesse von jedem, egal ob das jetzt ein Herr Merz, eine Frau Merkel oder ein Herr Spahn ist, dass man sich zusammenrauft, um eine gemeinsame Lösung zu finden, ein gemeinsames Programm, und das auch erfolgreich umsetzt. Ich glaube, im ureigensten Interesse werden beide große Volksparteien sich neu aufstellen müssen, um diese Herausforderung zu bestehen, um letztlich handlungsfähig zu werden, wichtige Reformen umzusetzen - mit der Hoffnung, dass dann bei den nächsten Wahlen die Menschen in Deutschland sehen, ja, diese Große Koalition hat jetzt doch geliefert, und ihnen dann weiter das Vertrauen gibt. Das ist die einzige Hoffnung. Deshalb sehe ich diesen Konflikt innerhalb der CDU nicht. Man wird sich streiten, aber es ist im Interesse von jedem, dass man dort eine Lösung findet, wo man wirklich wieder als Team funktionieren kann.
    Becker: Noch mal auf die potenziellen Nachfolger geguckt. Mit Friedrich Merz käme ein Ex-Politiker ins Amt, der jetzt einen Führungsposten hat beim weltgrößten Vermögensverwalter. Dieser auf dem Chefsessel der größten deutschen Volkspartei - ist das für Sie vorstellbar?
    Fratzscher: Ja. Die Politik muss offen sein. Es ist eigentlich irrelevant, was ein Mensch vorher gemacht hat, ob er jetzt Wirtschaftsexperte ist.
    Becker: Ist es das tatsächlich? Ist es irrelevant? Nein.
    Fratzscher: Ich bin fest davon überzeugt: Das, was wichtig ist, dass ein Parteivorsitzender eine Mannschaft formen kann, Männer und Frauen, die zusammen als Team agieren. Da ist es erst mal irrelevant, ob das jetzt eine Physikerin ist, ein Wirtschaftsexperte, ein Finanzexperte oder ein Philosoph. Es geht darum, hier eine schlagkräftige Mannschaft zusammenzubekommen, ein Team zu haben, und dann die Menschen überzeugen, dass dieses Team funktioniert. Deshalb: Ich sehe kein Problem darin, dass Herr Merz jetzt im Privatsektor war, dass er viel Geld verdient hat. Das sollte irrelevant sein. Worum es geht ist, dass erfolgreiche Politik für die Deutschen und für Europa gemacht wird.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.