Entsetzt und panisch reagierten die Hauptstädter, als am 19. September um 13.14 die Erde unter ihren Füßen zu beben begann, Bücherregale umkippten, sich Gipsplatten von den Wänden und Decken lösten. Fassungslos rannten die Menschen hinaus auf die Straßen, weil es doch erst zwei Stunden zuvor eine Alarm-Übung zur Erinnerung an die Erdbebenkatastrophe von 1985 gegeben hatte, und nur 12 Tage zuvor ein schweres Beben im Süden des Landes, dessen Erschütterungen die Hauptstadt aus dem Schlaf gerissen hatte. Da gab es kaum Zerstörungen in Mexiko-Stadt. Doch am 19. September hüllten sich viele Straßen der Millionenmetropole in den Staub der eingestürzten Gebäude. Etwa 40 hatten den schweren Erschütterungen nicht Stand gehalten. Besonders in den schicken Innenstadtbezirken sind die Zerstörungen groß. Etwa 40 Minuten nach dem Beben filmt ein junger Mann die Menschenmassen auf den Straßen und die Gebäudeschäden, als es direkt neben ihm plötzlich zu Krachen beginnt.
Ein mehrstöckiges Wohnhaus fällt in sich zusammen. Tagelang versuchten Rettungskräfte, Verschüttete zu finden. Bewohner waren nach dem Beben schon wieder in das Gebäude zurückgegangen, weil sie es für sicher hielten. Darunter auch Erick Gaona. Zwei Tage lang stand seine Schwester mit dem Megafon vor dem Gebäude, rief ihm zu, er solle durchhalten:
"Ich werde erst gehen, wenn du draußen bist und ich dich mitnehmen kann. Ich liebe dich mein Bruder", ruft die junge Frau. Aber Erick Gaona hält nicht durch. Das Megafon verstummt.
Suche nach Verschütteten 25 Meter unter dickem Beton
In der Nacht kommen deutsche Helfer der Organisation ISAR zu dem Trümmerberg, der mit Flutlicht angestrahlt wird. Mit einem speziellen Bio-Radar suchen sie Lebenszeichen. Das Gerät kann menschliche Herztöne bis zu 25 Meter unter dickem Beton ausfindig machen. Der Gründer und Geschäftsführer von ISAR, Michael Lesmeister, steigt von den Trümmern herab und zündet sich eine Zigarette an. Das Radargerät hat kein Leben mehr entdeckt. Jetzt ist die Frage: Trotzdem weitersuchen oder Schutt abtragen?
"Das ist immer eine schwere Entscheidung. Wir haben auch keine Anzeichen auf Leben. Das ist dann die Entscheidung des Einsatzleiters hier vor Ort."
"Das ist immer eine schwere Entscheidung. Wir haben auch keine Anzeichen auf Leben. Das ist dann die Entscheidung des Einsatzleiters hier vor Ort."
Erst mehr als 50 Stunden nach dem Beben hatten mexikanische Behörden die Hilfe der Deutschen bei der Rettung angefordert.
An vielen Einsturzstellen nahmen Zivilisten die Rettung in den ersten Stunden nach dem Beben selbst in die Hand: Zu traumatisch ist die Erinnerung an das Versagen der Behörden nach der Erdbebenkatastrophe von 1985, bei der nach geschönten offiziellen Angaben 10.000, nach Angaben von Hilfsorganisationen bis zu 40.000 Menschen ums Leben kamen – auch weil die Rettung erst spät begann. Und dieses Mal? "Die Gesellschaft überholt die Behörden" – titelte das wichtigste Wochenmagazin Proceso. Eine beispiellose Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft hat das Land erfasst. Auch, weil die Bürger ihren Behörden nicht vertrauen und ihnen wenig zutrauen.
Nach diesem Beben waren in Mexiko-Stadt Zivilschutz, Spezialkräfte und die Armee gemeinsam im Einsatz, unterstützt von zehntausenden Freiwilligen. Vor allem junge Mexikaner standen Schlange vor den Trümmern um zu helfen: Helm, Mundschutz, Spaten und Handschuhe musste jeder selber mitbringen. Der Student Yosimar Morales teilt einige Brigaden ein. Seit 24 Stunden hat er keine Pause gemacht.
"Ich bleibe bis zum Schluss, solange ich gebraucht werde. Alle wollen das. Sie ruhen nur mal eine halbe Stunde aus, trinken Wasser und wechseln den Mundschutz. Alle sind hoch motiviert. Alles, was sie wollen, ist: helfen. Mich treibt die Hoffnung, noch jemanden in den Trümmern zu finden. Es wäre schrecklich die Hoffnung aufzugeben. So hat meine Mutter mich erzogen."
Es sind die Kinder der Mexikaner, die das verheerende Beben von 1985 miterlebten, die sich heute besonders engagieren.
So wie Ana Gabriela: Die junge Architektin überprüft, ob beschädigte Gebäude noch bewohnbar sind oder abgerissen werden müssen. Tausende Bauten, darunter hunderte Schulen, haben tiefe Risse in den Wänden, Teile sind herabgestürzt. Einige Tage nach dem Schock des Bebens wird die Frage lauter, wie es überhaupt zu so großen Schäden und totaler Zerstörung kommen konnte.
"Jetzt kommt ans Licht, dass viele Gebäude nicht den Sicherheitsvorschriften entsprachen. Zum Beispiel ist eine Grundschule eingestürzt. Die Baustruktur war schlecht, sie hatte keine tragenden Säulen, und die Betonfundamente waren nicht tief genug. In der Theorie gibt es Sachverständige, die prüfen, ob die Bauvorschriften eingehalten werden. Aber viele versuchen, Material zu sparen oder stecken Beamten Geld zu, damit sie Konstruktionen genehmigen. Diese Sachverständigen müssen jetzt zur Rechenschaft gezogen werden."
Mindestens 19 Kinder kamen in der Grundschule ums Leben, auf deren dünnen Wänden die Besitzerin ihre private Wohnung aufs Dach hatte bauen lassen – mit Marmorplatten und Whirlpool. Genehmigungen für den Betrieb der Privatschule sollen gefälscht gewesen sein. Am 19. September 2017 rächten sich Betrug, Pfusch und Korruption brutal und ohne Ankündigung in nur wenigen Sekunden – ausgerechnet am Jahrestag des Bebens von 1985. Der Schock sitzt tief, denn die Millionenmetropole fühlte sich eigentlich sicher und gewappnet. Unzählige mittelschwere Beben hatten scheinbar bewiesen, dass heute die Bausubstanz den Naturgewalten trotzen kann. Erdbebenalarmübungen hatten schon den Kindern eingeschärft, wie sie sich zu verhalten haben. Doch dann kam der 19. September und mit den Gebäuden zerfiel das Vertrauen zu Staub.