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Michael McDowell: „Die Elementare“
Geister aus Sand

Der US-amerikanische Horrorautor Michael McDowell ist hierzulande kaum bekannt. Dank des Festa-Verlags könnte sich das bald ändern. Seine 1981 veröffentlichte Erzählung „Die Elementare“ liegt erstmalig auf Deutsch vor - eine aufwühlende Geistergeschichte und Familiendrama zugleich.

Von Raphael Smarzoch | 14.08.2019
Buchcover: Michael McDowell: „Die Elementare“
Stephen King zählte ihn zu den besten Autoren der US-amerikanischen Unterhaltungsliteratur, doch heute sind seine Texte beinahe vergessen: Michael McDowell schrieb vor allem in den 1980er Jahren Horror-Romane und -Drehbücher (Foto: Unsplash/Ethan Robertson, Buchcover: Festa Verlag)
Am Anfang steht ein Ende. Marian Savage ist tot. Die Trauerfeier findet in einer kleinen Kirche im Bundesstaat Alabama statt. Familienangehörige haben sich versammelt, um sich von der Verstorbenen zu verabschieden. Die Beerdigung verläuft ohne große Komplikationen, bis ein bizarres Bestattungsritual das friedliche Ambiente der Kirche stört, in der eine Klimaanlage die unerbittliche Südstaatenhitze der Stadt Mobile bekämpft. Bereits hier wird deutlich, dass die kulturellen Gepflogenheiten dieser Gegend anders sind. Michael McDowell gelingt es, authentische Charaktere zu erschaffen, in denen nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Dissonanzen der Südstaaten erfahrbar werden, sondern auch ihre gruselige Mythenwelt zwischen Geisterglauben und synkretistischen Religionspraktiken. In letzteren ist Odessa bewandert, die afroamerikanische Bedienstete im Hause Savage. Sie ist eine Schlüsselfigur des Romans, die in ihrer geheimnisvollen Schweigsamkeit mehr über das Jenseits zu wissen scheint als sie zugeben möchte. Das Grab ihrer Patronin präpariert sie mit Objekten, um eine Rückkehr der Toten zu verhindern.
"Wecker und Kalenderblatt sollen sie daran erinnern, dass sie gestorben ist. Die Tasse habe ich zerbrochen, um ihr damit zu sagen, dass sie tot ist. Die Schalen sollen ihr vom Wasser erzählen. Die Toten müssen ein Gewässer überqueren. Die Pillen sollen sie dran erinnern, wer sie war. Wenn die Toten zurückkommen, wissen sie nicht immer, wer sie gewesen sind."
Vor der Wiederkehr der toten Mutter fürchtet sich ihr Sohn, Dauphin Savage. Ein herzensguter Mann, der sich bis zum bitteren Ende um die Sterbende kümmert, obwohl er von ihr stets abgelehnt wurde. Verheiratet ist er mit Leigh McCray, deren Bruder Luker mit seiner dreizehnjährigen Tochter India von New York nach Mobile kommt, um der Verstorbenen zu gedenken.
Ein kompliziertes Familiengeflecht
McDowell entwickelt auf den ersten Seiten des Romans ein kompliziertes Familiengeflecht aus Namen und Beziehungen, aus denen hervorgeht, dass die im Laufe der Geschichte auftretenden Spukereignisse als Ausdruck zwischenmenschlicher Spannungen gelesen werden können. Heimgesucht werden die Savages und McCrays nämlich nicht nur von maliziösen Geistern, sondern von ganz irdischen Dingen: Alkoholsucht, Selbstmord, Hass, Trennung und Liebesentzug - Pathologien, die ein Ventil im Paranormalen finden, das auf Beldame ausbricht, einem idyllischen Urlaubsort fern von urbanen Ballungszentren, direkt am Golf von Mexiko gelegen. Hier machen beide Familien seit Jahrzehnten Urlaub. Um sich von der Trauerfeier zu erholen, zieht es sie auch diesmal dorthin. Auf ihrer Fahrt nach Beldame beobachtet India Orte des Verfalls, lebensfeindliche Zonen.
"Hin und wieder kamen sie an so etwas wie Häusern vorbei – und egal ob das Haus fünf oder 500 Jahre alt war, immer hing die Veranda durch, das Holz an den Seiten war durch die Sonne angegriffen und der Schornstein neigte sich bedenklich zur Seite. Der Verfall war überall, ebenso die offenkundige Abwesenheit alles Lebendigen."
Die Umgebung wird zum Vorboten einer drohenden Gefahr, die am Reiseziel wartet. McDowell beschreibt den Eintritt in die Gegenwelt des Paranormalen mit großer Präzision und einem Gespür für sich langsam aufbauende Spannungsbögen. Liegt doch der Horror jeder gelungen Geistergeschichte in der Antizipation des Übernatürlichen, das mit behutsamer Grausamkeit in den Alltag eindringt. Dabei bedient sich McDowell typischer Stilelemente des Southern Gothic, einer Spielart des Gothic Novels, des sogenannten Schauerromans. Allerdings fehlen die genretypischen Markenzeichen. Es gibt keinen Nebel und keine Kälte, kein einsames Gespensterschloss und keine Dunkelheit, die kahle Landschaften verschlingt. Stattdessen gleisende Hitze und eine unbarmherzige Südstaatensonne.
Das dritte Haus
Auf Beldame angekommen, beziehen die Savages und McCrays ihre Ferienhäuser. Im viktorianischen Baustil ragen die mehrstöckigen Bauten zum Himmel empor. Zwischen ihnen befindet sich ein drittes Haus, das scheinbar niemandem gehört und von einer großen Sanddüne langsam verschlungen wird. India, die zum ersten Mal Beldame besucht, bemerkt in ihrer kindlichen Neugierde schnell, dass etwas mit diesem dritten Haus nicht stimmt, das zum Ankerpunkt des Schreckens wird. Die Erwachsenen meiden es seit ihrer Kindheit und haben regelrecht Angst vor ihm. Etwas scheint dort zu leben - uralte Präsenzen, die Elementare.
"Was da drin ist, kommt nicht aus deinem Kopf. Es muss sich nicht an Regeln halten und sich so benehmen, wie man’s von Geistern erwartet. Was es tut, das tut’s, um dich zu täuschen, um dich zu überlisten, was zu glauben, das nicht stimmt. Es hat nichts Wahres an sich. Was es letzte Woche getan hat, wird es heute nicht mehr tun. Wenn du da drin irgendwas siehst, dann war’s gestern nicht da und wird auch morgen nicht da sein. Du stehst vor einer dieser Türen und glaubst, dass was dahinter ist – aber da ist nichts. Es wartet oben auf dich, es wartet unten auf dich. Es steht hinter dir."
Michael McDowells Geister sind bösartig und den Menschen nicht wohlgesinnt. Sie lassen Blumen verwelken, manifestieren sich durch Schritte in Räumen, in denen eigentlich niemand ist, verrücken Möbel, drehen an Türknäufen oder zeigen sich an Fenstern, um im nächsten Augenblick wieder zu verschwinden. Ihr Auftreten ähnelt altbekannten Spukmustern. Wie so viele Geister lassen sie sich auch durch technische Medien dokumentieren. India gelingt es, sie mit der Fotokamera ihres Vaters einzufangen.
"Etwas lehnte am Turm, an seinen verschatteten Schindeln. Es war die Silhouette einer abgemagerten Gestalt, kaum mehr als Haut und Knochen, die anscheinend versuchte, der Kameralinse zu entkommen, indem sie sich sehr nahe an die Seite des Turmes drückte."
Sand als paranormaler Schreckensträger
Ungewöhnlich ist hingegen die Rolle des Sandes. Er wird zum paranormalen Schreckensträger, der eine Allegorie auf alles Unfruchtbare und Lebensfeindliche darstellt. Im Sand kann schließlich nichts gedeihen. Assoziationen an den Tod werden auch durch die Sanddüne hervorgerufen, die das dritte Haus erfasst. Langsam rieselt der Sand durch kleine Öffnungen in das Interieur des Geisterhauses. Man muss an eine Sanduhr denken, die ein beliebtes Vanitas-Motiv ist. Die feine Stofflichkeit des Sandes fungiert außerdem als Sinnbild für den schleichenden Horror des Romans und die Hinterhältigkeit der Geister.
"Sie hatte den ganzen Morgen das Haus nicht verlassen. Wie war der Sand in ihre Ärmelaufschläge und Schuhe gelangt?"
An dieser Stelle ahnt man bereits, dass der Sand auch ein Fortbewegungsmittel der todbringenden Geister ist. Es ist allerdings nur eine Ahnung, die niemals bestätigt wird. Genau das macht die Geschichte so eindrucksvoll. Über weite Strecken bleibt das Grauen diffus. Es ist nicht greifbar und wird lediglich angedeutet. Ein nuanciertes Spiel mit der menschlichen Wahrnehmung und ihrer Interaktion mit dem Paranormalen, das durch den Schreibstil McDowells noch verstärkt wird. Der US-amerikanische Autor verwendet stets eine leicht verständliche Sprache und erschafft dadurch eine packende Unmittelbarkeit. So wirken selbst die kleinsten gespenstischen Ruhestörungen furchteinflößend. Die Integration lokaler Dialekte in die Dialoge verstärkt die atmosphärische Dichte des Romans, funktioniert allerdings in der deutschen Übersetzung nur bedingt. "Die Elementare" ist ein unterhaltsamer Gespensterroman, der nur ein Problem hat: Sein actiongeladenes Ende. Liegt doch die Stärke von McDowells Erzählkraft in der Darstellung dessen, was nicht sichtbar ist und in den Schatten der grellen Südstaatensonne lauert.
Michael McDowell: "Die Elementare"
Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann
Festa Verlag, Leipzig. 416 Seiten, 34,99 Euro.