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Michał Książek: "Straße 816. Eine Wanderung in Polen"
Unterwegs im letzten europäischen Urwald

Rodungen sollten im ostpolnischen Urwald von Białowieża eigentlich nicht mehr vorkommen. Mit "Straße 816. Eine Wanderung in Polen" setzt nun der Kulturwissenschaftler und Ornithologe Michał Książek der bedrohten Landschaft entlang des Flusses Bug ein literarisches Denkmal.

Von Katrin Hillgruber | 27.08.2018
    Buchcover: Michał Książek: "Straße 816. Eine Wanderung in Polen"
    Buchcover "Straße 816. Eine Wanderung in Polen" und ein Blick in die waldreiche Natur Polens (Buchcover: S. Fischer Verlag, Foto: Deutschlandradio / Michael Frantzen)
    Ob er einem Braunkehlchen begegnet, einem Spitzwegerich oder einer alten Dorfbewohnerin, die vor einem Holunderbusch sitzt und mit diesem eins zu werden scheint: Dem Vogelkundler, Schriftsteller und passionierten Wanderer Michał Książek sind alle Lebewesen gleich bemerkens- und beschreibenswert. Das macht sein Buch "Straße 816. Eine Wanderung in Polen" zu einer ungewöhnlichen Phänomenologie, zu einer ebenso stillen wie heiteren Feier alles Lebendigen. Diese zelebriert er zum Beispiel an einer Haltestelle der staatlichen polnischen Busfirma:
    "Die PKS-Haltestelle in Dorohusk ist ein ganz spezieller Ort. Der Westen hat so etwas nicht. Vor der blechernen Überdachung war eine niedergetrampelte Stelle im Grün zu sehen, der Platz zum Warten. An Regentagen sammelte sich Wasser darin. Der Warteplatz war von Vogelknöterich umgeben, einem gegen Tritte widerstandsfähigen Zeugen der Reise. Eine seiner volkstümlichen Bezeichnungen ist podorożnik (worin das ostslawische Wort doroga, Weg, steckt), das entspricht dem deutschen 'Wegerich'."
    Der Fluss Bug ist der wahre Protagonist des Buchs
    Weiter im Osten könne man in Polen nicht sein, stellt Michał Ksiażek einmal auf seiner Wanderung entlang des Flusses Bug fest, mit einer Mischung aus Stolz und Erstaunen. Der Westliche Bug markiert die historische Grenze zwischen Polen, der Ukraine und Weißrussland und damit seit Mai 2004 auch die EU-Außengrenze. Hinter dem belarussischen Brest macht er einen großen Schwenk nach Westen und mündet schließlich nach knapp 800 Kilometern kurz vor Warschau in die Weichsel. Der Fluss ist der eigentliche Protagonist dieses Buches, und Ksiąsek überlässt ihm bereitwillig den großen Auftritt:
    "In Gołębie macht die Staatsgrenze eine Metamorphose durch, eine völlige Verwandlung wie ein Insekt. Das Flussbett des Bugs verliert sich in der Tiefe des Ostens, und Polens Limes wird von einer Flussgrenze zu einer Landgrenze."
    "Nicht Wasserstoff und Sauerstoff, sondern Silizium und Sauerstoff bilden die Substanz der Grenze. Die farbigen Pfähle stehen einander gegenüber wie kurz vor dem Duell. Und dann gibt es noch ein recht großes Stück verrosteten Stacheldraht, der vermutlich die Undurchlässigkeit der Grenze verstärken sollte. Ein Limes aus einem Drahtzaun! Offensichtlich war er nicht dicht, da man im nahe gelegenen Dorf unversteuertes ukrainisches Bier kaufen konnte."
    Spuren von Konzentrationslagern und Massakern in Ostpolen
    Die Woiwodschaftsstraße Nr. 816 wird auch Nadbużanka, Bugstraße, genannt. Sie ist erst seit etwa fünfzig Jahren asphaltiert und wurde gebaut, um die Anwohner und Reisenden vom Fluss unabhängiger zu machen. Die Landschaft an den Ufern des Bugs wurde jahrhundertelang von Ukrainern, Weißrussen und Polen besiedelt, mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Auf polnischer Seite umfasst sie unter anderem das Gebiet Podlasie, was soviel wie "unter dem Wald gelegen" bedeutet. In dieser Gegend, die den meisten Zentralpolen als wilder Osten gilt, finden sich noch viele Holzhäuser sowie orthodoxe Kirchen, deren Gemeinden nach dem Zweiten Weltkrieg zwangskatholisiert wurden. Zahlreiche Ukrainer wurden bei der sogenannten Aktion Weichsel verschleppt. Michał Ksiażek stößt bei seiner Wanderung aber ebenso auf Spuren des Massakers, das Ukrainer in Wolhynien an Polen verübten. Und er kommt an dem ehemaligen deutschen Konzentrationslager Sobibór vorbei:
    "Die historische Ausstellung des Museums von Sobibór besucht man unter freiem Himmel. Was ist von dem Lager übrig geblieben? Verbogene Schienen, das grüne Haus des Kommandanten, in dem heute Leute aus Sobibór wohnten. Und natürlich die Kiefern, Pinus sylvestris. Wenn sie es nicht schafften, die Leichen zu vergraben, verbrannten sie sie auf Rosten, und die entstandene Kohle wurde von den umliegenden Bäumen gebunden. Dadurch blühten und wuchsen sie. Macht sie das zu etwas Besonderem? Oder ist es nicht von Bedeutung?"
    Die Natur hat keine Meinung von uns
    Laut Friedrich Nietzsche befinden wir uns deshalb so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat. Umgekehrt bringt Michał Książek allen Phänomenen gleich viel Interesse und Sympathie entgegen, seien es Spuren des Polnisch-Litauischen Großreichs, das 1386 in dieser Gegend gegründet wurde, sei es dem triumphalen Zwitschern eines Grünfinks, dessen Gesang die Welt geradezu durchbohre, wie er schreibt. Das verleiht seiner Kritik an der zeitgenössischen Zivilisation eine besonders feine ironische Note:
    "Die neuen Häuser waren genauso hässlich und prätentiös wie in Polesie oder Zentralpolen. Gefällt den Polen vielleicht nur, was neu ist? Stützt sich ihre Ästhetik etwa auf dieses Kriterium? Wichtig war nur, etwas Neues zu bauen, egal was, egal wo – Hauptsache neu. […] Ganze Reihen von Thujen, als wäre man in der Toskana. Hinter den Thujen verbarg sich die komplizierte Infrastruktur der Erholung. Schaukeln, Lauben, Grill-Terrassen. Aufblasbare Schwimmbecken für Erwachsene. Werkzeuge und Geräte, um die Zeit totzuschlagen. Ob die Anlagen leer oder besetzt waren - sie machten den Eindruck, als gäbe es irgendwo ein Übermaß an Leben, als wartete man nur darauf. Als harrte man wartend aus. Als hinge dieses Etwas in der Luft und könnte jeden Moment kommen."
    Der Kulturwissenschaftler und Ornithologe Michał Książek machte seine Aufzeichnungen über die Straße 816 im Frühjahr und Sommer 2015, noch bevor die nationalkonservative Kaczyński-Regierung mit den illegalen Rodungsaktionen im Urwald von Białowieża begann; dabei hat dieser den Status des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Einsatz für das Amazonien des Nordens ist Książeks eigentliche Herzensangelegenheit, hier forscht er nach seltenen Spechtarten. Und so erscheint es nur logisch, dass seine ganz besondere Phänomenologie aller Lebewesen entlang der Straße 816 im Urwald von Białowieża mündet. Als Anhang hätte man sich eine Karte gewünscht.
    Der Urwald und die Leere
    Aber der Autor ist nicht nur ein Naturliebhaber, dessen Begeisterung ansteckt, sondern ebenso ein Liebhaber von Worten wie "aprilgesättigt" und von Wortbedeutungen - ein besessener Etymologe. So verweist er darauf, dass im Polnischen das Wort für Urwald "puszcza" mit dem Wort für Leere "pustka" verwandt ist – wie in Puszcza Białowieska, dem dringend zu schützenden letzten europäischen Urwald. Und Renate Schmidgall, die vielfach gerühmte Übersetzerin polnischer Literatur, lässt auch die Reportage über die "Straße 816" im Deutschen botanisch, zoologisch und literarisch glänzen.
    Michał Książek: "Straße 816. Eine Wanderung in Polen"
    aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
    S. Fischer Verlag, 272 Seiten, 22 Euro.