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Michel Foucault: „Die Geständnisse des Fleisches"
Wie verhindert man die Wollust?

Der vierte Band von Foucaults Hauptwerk "Sexualität und Wahrheit" erscheint über drei Jahrzehnte nach seinem Tod. Galt der französische Philosoph und Historiker bislang als Denker des Individualismus, kriegt dieses Bild mit dem Erscheinen von "Die Geständnisse des Fleisches" nun Risse.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 01.09.2019
Michel Foucault, "Die Geständnisse des Fleisches", Suhrkamp Verlag
Der vierte Band "Die Geständnisse des Fleisches" aus Foucaults Hauptwerk "Sexualität und Wahrheit" ist da (Buchcover: Suhrkamp Verlag / Foto: dpa / AFP)
Nicht erst der militärische Drill lässt den modernen Soldaten gehorchen ohne nachzudenken. Vielmehr fordert bereits um 400 der Theoretiker des Klosterlebens wie der Bibelexegese Johannes Cassianus hochmodern:
"Ein Befehl muss, selbst wenn er sinnlos ist, vollständig ausgeführt werden. […] Die Ungerechtigkeit eines Befehls, dass er zur Wahrheit oder zur Natur in Widerspruch stehen kann, darf niemals verhindern, dass er ausgeführt wird."
Also auch nicht erst Eichmann in Jerusalem beteuert, nur Befehle befolgt zu haben. Ja, das lässt sich – so Michel Foucault im vierten Band seines Großprojektes "Sexualität und Wahrheit" – sogar noch steigern. Im sechsten Jahrhundert nämlich ...
"... wird [der Abt, der Heilige [*]] Dorotheos von Gaza von der Heldentat eines Schülers […] [des Eremiten] Barsanuphius berichten, der, ausgezehrt von einer Krankheit, es sich dennoch versagte zu sterben, solange sein Lehrer ihm nicht die Erlaubnis dazu erteilt hatte."
Der Gehorsam als Grundlage der christlichen Ethik
Das Thema dieses letzten Bandes über "Die Geständnisse des Fleisches" ist der kirchliche Umgang mit der Sexualität zwischen dem zweiten und dem fünften Jahrhundert, als die Kirchenväter die christliche Theologie begründeten. "Die Geständnisse des Fleisches" enthalten drei große Themenblöcke: die Rolle des Gehorsams, die Jungfräulichkeit und die Ehe.
Foucault skizziert die Anfänge einer umfassenden sozialen, moralischen und religiösen Disziplinierung. Dadurch wird eine Persönlichkeit geprägt, die nicht gezwungenermaßen, sondern freiwillig, ja gerne gehorcht. So bemerkt Foucault:

"... dass das Vermögen die anderen zu führen, grundsätzlich mit der Akzeptanz der Bereitschaft verbunden ist, die Führung hinzunehmen."
Der Gläubige entwickelt geradezu ein Bedürfnis nach Führung, so dass er gar nicht mehr auf eigene Gedanken kommt. Ja, wenn diese der Ordnung widersprechen, muss er sie freiwillig bekennen und beichten. So schreibt Foucault:
"Seit sich die christliche Religion als Kirche organisiert hat, die über eine stark gemeinschaftliche Struktur und eine hierarchische Ordnung verfügt, konnte ohne eine Reihe von Proben und Garantien kein schwerer Verstoß vergeben werden."
Um Vergebung zu erlangen, muss der Gläubige vor allem seine geheimsten Gedanken kundtun, muss er sein Innerstes, seine tiefste Wahrheit offenbaren. Denn, so Foucault:

"Wer seine Verfehlungen gesteht, rechtfertigt sich nicht nur vor Gott, sondern rechtfertigt Gott selbst und seinen Zorn auf die Schwäche der Menschen."

Mit Gehorsam, Beichte und Buße entwickelt die katholische Kirche ein Regime, das sich auf die Offenbarung der innerlichen Wahrheit stützt und dadurch die Gläubigen kontrolliert und lenkt.
Foucaults Analyse der christlichen Ethik als Theorie der Macht
Damit schließt Foucault an seine Vorlesungen in den Jahren 1977-79 über Biopolitik an, in denen er analysiert, wie zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert die europäischen Staaten zunehmend ihre Bevölkerung lenken. Diese Politik stützt sich auf das Pastorat, das christliche Modell der Menschenführung. Dabei geht der Klerus mit den Gläubigen im Stile eines Schäfers um, der sich einerseits um das Heil der Herde und andererseits um das Heil eines jeden Schafes kümmert. "Die Geständnisse des Fleisches" beschreiben die Entstehung des christlichen Pastorats, über das Foucault bereits in der Vorlesung am 22. Februar 1978 sagt:

"... das Pastorat hat eine Beziehung […] zur Wahrheit, da man im Christentum, wie in allen Schriftreligionen, sein Heil freilich nur [dadurch] erreichen kann […], dass man eine bestimmte Wahrheit anerkennt, an sie glaubt und sie kundtut."
Besonders diese Vorlesungen über Biopolitik fügen den jetzt erschienenen vierten Band von "Sexualität und Wahrheit" in Foucaults Denken der siebziger Jahre ein, wenn er sich primär mit dem Verhältnis von Macht und Wissen beschäftigt. So bezweifelt Foucault 1975 in seinem bekanntesten Werk "Überwachen und Strafen":

"... dass das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt […]; dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen."
Unter dem Untertitel "Die Geburt des Gefängnisses" beschreibt Foucault die Entstehung des militarisierten Staates des 19. Jahrhunderts durch neue Technologien der Disziplinierung – Vorläufer des heutigen Überwachungsstaates.
Ein Jahr später veröffentlicht Foucault den ersten Band seines Großprojektes "Sexualität und Wahrheit", dessen Titel "Der Wille zum Wissen" seinen Inhalt spiegelt. Denn er skizziert die staatliche Biopolitik im 17. Jahrhundert, der es um Bevölkerungswachstum ging. Im Rückgriff auf die gerade entstehenden modernen Naturwissenschaften interessierte man sich für alles, was mit Sexualität zu tun hatte. Foucault schreibt 1976:

"Der Sex, […] muss analytischen Diskursen anvertraut werden. Der Sex wird im 18. Jahrhundert zu einer Angelegenheit der ‚Polizei’."
Kehrt sich Foucault von seiner Machttheorie doch nicht ab?
Der jetzt erschienene vierte Band schließt an diese Macht-Studien an und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten der Menschensteuerung. Damit skizziert er eine Art frühe Biopolitik wenn auch über 1000 Jahre vorher. Foucault schreibt in "Die Geständnisse des Fleisches":
"Von Clemens [von Alexandria um 200] zu Augustinus besteht ganz offensichtlich der Unterschied zwischen einem vom Hellenismus und der Stoa beeinflussten Christentum, das darauf ausgelegt ist, eine Ethik der sexuellen Beziehungen ‚einzubürgern‘, und einem strengeren, pessimistischeren Christentum, das die menschliche Natur nur über den Sündenfall denkt und die sexuellen Beziehungen folglich mit einem negativen Vorzeichen versieht."

Clemens möchte den Menschen noch in eine natürliche Ordnung einfügen, zu der eine gemäßigte Enthaltsamkeit gehört, wie sie auch ein göttliches Gebot verlangt. Auch der Heilige Methodius von Olympus im 3. Jahrhundert dekretiert noch:
"Wer es fertigbringt und darauf hält, sein Fleisch jungfräulich zu bewahren, der tut besser; wer dies aber nicht kann, vielmehr sein Fleisch nach Recht und Gesetz […] in die Ehe gibt, der tut gut."
Augustinus um 400 geht es dagegen um die absolute Unterwerfung unter die göttliche Ordnung, zu der primär die Enthaltsamkeit gehört.
Wenn sich "Die Geständnisse des Fleisches" folglich in Foucaults Machtanalysen aus den siebziger Jahren einklinken, stellt sich die Frage: Muss man nach diesem vierten Band von "Sexualität und Wahrheit" auch Foucaults Spätwerk der achtziger Jahre unter dem Blickwinkel der siebziger Jahre sehen?
Denn kurz vor seinem Tod 1984 veröffentlichte Foucault den zweiten und den dritten Band von "Sexualität und Wahrheit", die das Bild Foucaults als eines Machttheoretikers in Frage stellten. Der zweite Band beschäftigt sich unter dem Titel "Der Gebrauch der Lüste" mit der sexuellen Praktik während des vierten Jahrhunderts vor Christus in Griechenland. Der dritte behandelt unter dem Titel "Die Sorge um sich" das erste und zweite nachchristliche Jahrhundert in der griechisch römischen Kultur.
Jungfräulichkeit und Ehe als Kontrollregime
Beide Bücher schildern zwar einen asketischen Umgang mit der Sexualität, der jedoch im Dienste der Betroffenen steht, wenn der einzelne Herr seiner Lüste sein soll, nicht um sie schlicht zu unterdrücken, sondern um sie zu genießen. Denn so Foucault:
"Was in den Augen der Griechen die ethische Negativität schlechthin darstellt, ist […] dass man gegenüber den Lüsten passiv bleibt."
Um eine derart souveräne Persönlichkeit zu werden, muss daher die individuelle Lebensführung so gelernt werden, dass der Umgang mit der Sexualität zu einer Ästhetik der Existenz beziehungsweise zu einer Lebenskunst führt. So heißt es in "Die Sorge um sich":

"Am Ursprung dieser Modifikationen in der Sexualmoral steht nicht die Verschärfung der Verbotsformen, sondern die Entwicklung einer Kunst der Existenz […]."

Außerdem wurden solche Thesen auch als Empfehlung an Foucaults Zeitgenossen gedeutet: Plötzlich konnte er als Denker eines zeitgenössischen Individualismus betrachtet werden. Schließlich versuchten sich ja viele seit den 1960er-Jahren von der traditionellen Unterdrückung der Sexualität zu befreien. Eine solche Wende zum Individuum verdarb Foucault kräftig den Ruf, ist Individualismus in allen politischen Lagern bis heute verpönt.
Dieses Bild einer späten Abkehr von der Machttheorie hin zu einer individuellen Moral bekommt indes Risse, wenn man den jetzt erst erschienenen vierten Band betrachtet. Denn dieser betont eindeutig wieder die Thematik der Disziplinierung, wenn er zeigt, wie die frühen Kirchenväter an Themen der vorchristlichen antiken Welt anschließen und diese in eine neue christliche Ethik transformieren. Die antike Askese verwandelt man in ein Kontrollregime der Gläubigen, das die Sexualität als Sünde umwertet. Den Sex darf man nicht mehr individuell gebrauchen. Vielmehr gilt es ihn religiös gelenkt zu vermeiden. So wird im Laufe der ersten Jahrhunderte die Jungfräulichkeit zunehmend zu einer höchsten Orientierung, die das Jenseits antizipiert. Foucault schreibt:
"Als Tugend und Gipfel aller Tugenden, als Vorbereitung auf die Beendigung der Zeiten soll die Jungfräulichkeit keine Ablehnung des Körpers sein, sondern eine Arbeit der Seele an sich selbst."
Nicht nur steht die Jungfräulichkeit weit über der Ehe, selbst wenn die Eheleute keusch leben. Vielmehr avanciert die Jungfräulichkeit zu einer eigenen Lebensform. Wer sie wählt, gehört schon zu den Heiligen. Im Christentum stellt sie sogar eine Kunst dar, die an die Stelle der antiken Lebenskunst tritt.
Allemal verblassen die individualisierenden Tendenzen des zweiten und des dritten Bandes von "Sexualität und Wahrheit", erscheinen sie nur als historischer Hintergrund einer Entwicklung, die das Christentum nachhaltig umlenkte und eine Entwicklung anschob, die in den militarisierten Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhunderts gipfelt. Dieses Bild ergibt sich aus der Reihenfolge der Bände.
Während der erste Band "Der Wille zum Wissen" ein gut geschriebenes und spannendes Buch ist, präsentieren die anderen drei Bände gleichermaßen ein umfängliches Material, was häufig in Wiederholungen gerät: die typische Schreibweise Foucaults.
Im Zusammenhang der letzten drei Bände von "Sexualität und Wahrheit", die alle in den frühen Achtzigern fertigwerden, präsentiert sich die Geburt des christlichen Kontrollregimes der Sexualität als ein umfassender Disziplinierungsversuch. Dass Foucault sich in seinem letzten Werk primär um die Analyse von Macht- und Disziplinarstrukturen kümmert, zeigt sich auch besonders anhand der Bedeutung und Funktion der Ehe bei den Kirchenvätern. Zunächst klingt es noch harmlos:
"Die Jungfräulichkeit steht über der Ehe, ohne dass die Ehe ein Übel oder die Jungfräulichkeit eine Pflicht wäre."
Sex im Paradies und die unkontrollierbare Wollust
Vor allem versuchte man, die mit der Sexualität verbundene und in der Antike hoch geschätzte Wollust zu unterbinden. Denn als absolut individuell lässt sie sich schon gar nicht kirchlich kontrollieren. Daher gab es unter den Kirchenvätern eine Debatte darüber, ob Adam und Eva Sex im Paradies hatten: Leider ja, hätte es ansonsten keinen Grund für die Schöpfung von Eva gegeben. Denn die biblische Rolle eines hilfreichen Gefährten hätte ein zweiter kräftigerer Mann in jeder Hinsicht besser ausgefüllt. Selbstredend galt ein Mann auch immer als ein besserer Gesprächspartner. Eva musste also als Gebärerin geschaffen worden sein. Aber Wollust beziehungsweise Libido kann es im Paradies natürlich nicht gegeben haben. Foucault schreibt:

"Somit wird der Geschlechtsverkehr im Paradies von Augustinus vornehmlich als ein Akt definiert, bei dem die ‚libido‘ ausgeschlossen ist, […]. Es handelt sich […] um einen Akt, der in all seinen Bestandteilen ohne Ausnahme der genauen Kontrolle des Willens unterliegt. Alles, was hier passiert, kann der Mensch wollen und will es tatsächlich."

Augustin erkennt zwar an, dass die Ehe von einem Nutzen für die Menschheit ist. Eigentlich sollte sie denn auch zu einer keuschen Zeugung führen. Sie sollte die Wollust bremsen, damit zu einer kontrollierten Lust führen. Doch – so Foucault ...

"... wenn es nicht möglich ist, die Ehe zu gebrauchen, nicht einmal zu den besten Zwecken, ohne dass beim Geschlechtsverkehr jene Regungen ins Spiel kommen, die wir nicht beherrschen können, dann ist der Grund dafür, dass jeder Mensch seit dem Sündenfall als Subjekt eines begehrlichen Willens geboren wird."
Die Strafe für die Erbsünde liegt in einer unkontrollierbaren Wollust oder der Libido, die bereits Adam und Eva dazu zwingt, ihre Sexualorgane zu verhüllen, damit sie ihre eigene Erregung verbergen beziehungsweise die anderen nicht erregen. Augustin trennt diese Erregung auch nicht als natürlichen Teil von der Seele ab, so dass diese unvermeidbar schuldig wird. Daher begleitet die Sünde jeden sexuellen Akt, den auch die Ehe nicht entschuldigen kann. Foucault schreibt:
"Es sei dahingestellt, ob [Augustins Schrift] ‚De bono conjugali‘ nun die erste große christliche Systematisierung des Ehelebens und der darin herrschenden Beziehungen war oder nicht, auf alle Fälle ist es für das mittelalterliche und moderne Christentum die maßgebliche Referenz für die Moraltheologie der Ehe."
Betrachtet man allein "Die Geständnisse des Fleisches", dann spricht alles dafür, dass Foucault zu Lebzeiten gar keine Wende zu einer individuellen Ethik vollführte, dass er vielmehr der Machtanalytiker geblieben ist, als der er seit den Siebzigern galt.
Hat die Abkehr von der Machttheorie doch stattgefunden?
Allerdings weist der Herausgeber Frédéric Gros in seinem Vorwort daraufhin, dass Foucault ursprünglich einen ganz anderen Plan für sein Werk "Sexualität und Wahrheit" hatte. Nach dem ersten Band über das Interesse an der Sexualität im 17. Jahrhundert wollte er sich strukturell der Gegenwart nähern, zunächst aber noch auf das 16. Jahrhundert zurückgreifen. Unter dem Titel "Das Fleisch und der Körper" sollte sich der zweite Band mit der katholischen Sexuallehre im Angesicht der Reformation beschäftigen, denn – so Foucault:
"Das mittelalterliche Christentum ist – vor allem ab dem 13. Jahrhundert – zweifellos die erste Zivilisationsform, die in Bezug auf die sexuellen Beziehungen zwischen Ehegatten derart weitschweifige Vorschriften entwickelt."
Daran anschließend wollte er die spätere Entwicklung analysieren. Doch bald schon schwenkt sein Blick weiter in die Vergangenheit, nämlich um über 1000 Jahre zurück zu den Kirchenvätern. So schreibt Foucaults Lebenspartner, der Soziologe Daniel Defert, über den August 1977:"
"Foucault ist in Vendeuvre. Er schreibt über die Kirchenväter und beginnt seine Geschichte der Sexualität um einige Jahrhunderte zu verschieben."
In den Jahren 1981-82 vollendet er dann "Die Geständnisse des Fleisches" und gibt sie auch in den Druck. Er denkt aber noch nicht an eine baldige Veröffentlichung, weil er zwischenzeitlich einsah, dass er die griechische Antike analysieren müsste, um die Hintergründe der späteren christlichen Entwicklung zu klären. So schreibt er Band zwei und drei und veröffentlicht sie 1984 noch vor dem zuvor schon fertigen Band IV und bleibt damit in der historischen Reihenfolge.
In den Monaten vor seinem Tod beschäftigte er sich intensiv mit den Korrekturen von "Die Geständnisse des Fleisches", was er indes nicht mehr vollenden konnte – eine Arbeit, die in den letzten Jahren der Herausgeber abschloss, nachdem die Inhaber der Rechte an Foucaults Nachlass erst nach drei Jahrzehnten den vierten Band freigaben.
Daraus zeichnet sich indes nun ein ambivalentes Bild ab. Das letzte, das Foucault selber schrieb, waren doch die beiden Bände über die Antike mit ihrer Tendenz zur individuellen Ethik. "Die Geständnisse des Fleisches" hatte er vorher geschrieben, obgleich er ganz zuletzt noch daran korrigierte, was aber nicht allzu viel bedeuten kann. Im Vorwort bemerkt Frédéric Gros:
"Parallel dazu vollzieht [Foucault] […] immer massiver seine antike ‚Wende‘. Das griechisch-lateinische Moment wurde […] von 1978-1980, auf die Rolle eines Kontrapunkts reduziert […]. Nun aber wird das, was ein bloßer Kontrapunkt war, immer mehr zu einem konsistenten und insistenten Forschungsgegenstand an sich."

Dann bleibt jenes Foucault-Bild doch grundsätzlich erhalten, dass sich Foucault in den letzten Lebensjahren von der reinen Machttheorie abwandte. Trotzdem relativieren "Die Geständnisse des Fleisches" diesen Wandel. Ist Foucault doch stärker ein Machttheoretiker geblieben, als es zu Lebzeiten zuletzt den Anschein hatte? Hat sich im Denken von Foucault seit seinen Anfängen in den sechziger Jahren überhaupt nicht so viel verändert, wie er es in seiner letzten Vorlesung 1984 selbst behauptet? Aber der Autor ist niemals Herr über die Interpretation seines Werkes.
Wenn Foucault zuletzt Vordenker einer individuellen Ethik war, dann können sich heute emanzipatorische Bewegungen – der Frauen, Schwulen, Lesben oder von Minderheiten – weiterhin auf ihn berufen. Wenn er das doch nie war, dann kann man von ihm lernen, auf welchen Mythen auch das heutige Verständnis von Sexualität immer noch aufruht. Daraus lassen sich emanzipatorische Forderungen ableiten. Berufen könnte man sich dann aber dabei nicht mehr auf ihn.
[*] Einschübe des Autors sind mit einer [Klammer] gekennzeichnet.
Michel Foucault: "Sexualität und Wahrheit - Vierter Band: Die Geständnisse des Fleisches"
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger
Suhrkamp Verlag, Berlin. 556 Seiten, 36 Euro.