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Migrationsforscher zur Lage an griechisch-türkischer Grenze
Das Stillhalten der EU "kann man noch korrigieren"

Schon vor Wochen hätte die EU der Türkei zusagen müssen, sie in der Flüchtlingsfrage weiter zu unterstützen, sagte Migrationsforscher Gerald Knaus im Dlf. Dieser politische Fehler könne durch eine Konferenz korrigiert werden. Dort müsse geklärt werden, was mit den Menschen passiere, die aus Idlib kommen.

Gerald Knaus im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 29.02.2020
Flüchtlinge in der türkischen Provinz Edirne wärmen sich auf, bevor sie den Versuch starten, nach Griechenland durchzukommen.
"Was wir jetzt an der griechischen Grenze sehen, ist ja eigentlich ein Widerspruch zu EU-Recht", sagt Migrationsforscher Knaus. So breche jede Glaubwürdigkeit weg, etwa der Türkei zu sagen, wie sie sich an ihren Grenzen verhalten solle. (abaca/DHA/Can Erok)
Der türkische Präsident Erdogan hatte heute früh erklärt, seine Regierung werde Flüchtlinge nicht an einer Ausreise nach Griechenland und Bulgarien hindern.
Zum Umgang der EU mit den Flüchtlingen an der EU-Außengrenze die Position von Gerald Knaus, Vorsitzender des 'Think-Tanks Europäische Stabilitätsinitiative'. Von ihm stammt die Grundidee des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei.
"Hunderttausende stehen in Idlib davor, in die Türkei zu kommen"
Ann-Kathrin Büüsker: Europa hat ja seit 2015 um eine Lösung gerungen, um einen gemeinsamen Umgang mit den Flüchtlingen, insbesondere was die Verteilung angeht. Jetzt wird in Griechenland mit Tränengas auf Flüchtlinge geschossen. Hat Europa versagt?
Gerald Knaus: Ja, es hat hier ganz vieles nicht geklappt, und drei Dinge sind jetzt besonders wichtig, wenn man sich die Frage stellt, wie es weitergehen soll. Das eine ist, dass Europa erfolgreich die Syrer in der Türkei unterstützt hat, das sind ja vier Prozent der Bevölkerung, also allein dreimal mehr Syrer in der Türkei als in der gesamten EU. Diese Unterstützung hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren kaum noch Syrer Richtung Europa gekommen sind, sondern in Schulen gingen, medizinische Versorgung hatten, Sozialhilfe hatten. Aber dieses Geld ist jetzt verplant. Das war gedacht für vier Jahre, es wird noch ausgegeben, aber es werden keine neuen Projekte mehr geplant.
Die Frage ist, wie geht das weiter? Hier ist die Türkei unter enormem Druck, weil ja weitere Hunderttausende in Idlib davor stehen, in die Türkei zu kommen. Dann haben wir in Griechenland eine ungelöste Krise auf den Inseln, das hat noch nie geklappt, auch als sehr wenige Leute auf den Inseln waren, weil Griechenland es nicht schaffte, Verfahren durchzuführen. Die Leute wurden festgehalten, aber niemand wurde zurückgeschickt. Jetzt versucht die Regierung, unter Druck das zu machen, aber die Inselbewohner spielen nicht mit, weil sie kein Vertrauen mehr haben. Es sind 42.000 Menschen unter erbärmlichen Zuständen auf den Inseln.
Neu angekommene Flüchtlinge aus Syrien auf der griechischen Insel Lesbos. Kinder sitzen dich eingehüllt am Fuß eines Baumes.
Kiesewetter (CDU): "Wir dürfen die Türkei jetzt nicht im Stich lassen"
Die EU müsse die Türkei dabei unterstützen, die etwa eine Million Flüchtlinge im Norden Syriens auf türkischem Boden zu versorgen, sagte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter im Dlf. Wichtig sei jetzt, die Lage zu deeskalieren.
Und das Dritte, wo die EU ebenfalls versagt, ist in ihrer Politik an den Grenzen selbst. Wir haben seit Jahren jetzt Pushbacks, also irreguläres Zurückstoßen von Flüchtlingen, an der kroatisch-bosnischen Grenze, an der ungarisch-serbischen Grenze. Und das, was wir jetzt an der griechischen Grenze sehen, ist ja eigentlich ein Widerspruch zu EU-Recht. Und wenn das Brechen von EU-Gesetzen und -Konventionen der Standard wird, dann bricht auch jede Glaubwürdigkeit weg, anderen Ländern – etwa der Türkei – zu sagen, wie sie sich an ihren Grenzen verhalten sollen. Und dann ist die Flüchtlingskonvention am Ende dieses Jahres tot.
"Flüchtlinge unterstützen, wo sie sind"
Büüsker: Herr Knaus, warum bricht das, was Griechenland da gerade macht, EU-Recht?
Knaus: Weil Menschen, die an Grenzen gestoppt werden - jeder Staat hat das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren - nicht einfach ins Niemandsland zurückgestoßen werden dürfen. Man müsste ein Verfahren machen, man müsste feststellen, ob sie Schutz brauchen. Natürlich braucht man dazu, weil man ja die Landesgrenze kontrollieren will, einen Partner. Und das Fatale an der jetzigen Situation ist, dass hier jetzt Populismus und Panik auf allen Seiten regiert.
Was die Türken ja machen, ist absurd, Leute mit Bussen an die Grenze zu fahren. Was die Griechen machen, ist genauso absurd, denn es wird nicht dazu führen, dass diese Menschen aufgehalten werden. Vor allem auf dem Meer kann man keine Mauern bauen, die Schiffe auf die Ägäis-Inseln werden weiter kommen. Man braucht die Partnerschaft, die Türkei, Griechenland, Deutschland, das ist ein Hauptzielland für viele, die da auf dem Weg sind, müssen erkennen, dass sie ein gemeinsames Interesse haben, irreguläre Migration zu stoppen, dafür Flüchtlinge zu unterstützen, wo sie sind, die EU-Hilfe für die Türkei fortführen – und eine Koalition und eine Konferenz einzuberufen, was mit den Menschen passieren soll, die jetzt aus Idlib kommen. Da kann man nicht einfach sagen, das ist ein türkisches Problem und wir kümmern uns da nicht darum.
Zu sehen eine startende Militär-Rakete mit Feuerschweif.
FDP-Außenpolitiker - "Türkei hat sich in Syrien komplett verzockt"
Die Türkei hat sich in Syrien auf ein Abenteuer eingelassen, so FDP-Außenpolitiker Bijan Djir-Sarai. Russland habe kein Interesse, die Türkei aus dieser Situation zu entlassen - Europa dürfe sich mit dem Druckmittel Flüchtlinge nicht erpressen lassen.
Zusammenbruch von Standards "unter dem Druck des Populismus"
Büüsker: Wenn wir jetzt noch mal auf die Position der EU schauen. Sie haben ja schon benannt, was da aus Ihrer Sicht falsch gemacht wird. Aber wir müssen schon festhalten, das, was Griechenland da gerade tut, ist ja eigentlich auch das, was sich EU-Akteure wie beispielsweise Victor Orbán wünschen würden, dass die EU-Außengrenzen geschützt werden – und zwar mit allen Mitteln.
Knaus: Natürlich, wir haben seit vier Jahren im Grunde eine Diskussion darüber, ob alle die Konventionen – etwa das Recht auf Asyl, das Recht auf menschenwürdige Behandlung an den Grenzen, die Flüchtlings- und Folterkonvention, die bedeutet, dass wir niemanden einfach zurückschicken oder zurückstoßen –, ob diese ganzen Konventionen und Rechte eigentlich noch zeitgemäß sind. Und Herr Orbán, der ungarische Premierminister, sagt in Rede nach Rede, wir müssen alle diese Konventionen aufgeben, Menschenrechte haben keine Zukunft, universelle Menschenrechte sind Heuchelei, wir brauchen keine Grenzschützer an den Grenzen, sondern Soldaten. Und mit dieser Rhetorik hat er sich bisher nicht durchgesetzt.
Wir haben weiterhin versucht, auf den griechischen Inseln Asylverfahren durchzuführen, nur haben wir das so schlecht gemacht, mit so wenig Ressourcen, so unorganisiert, dass stattdessen menschliches Leid produziert wurde. Aber was wir jetzt zunehmend sehen, dass immer mehr europäische Regierungen Victor Orbán folgen, das Ergebnis, zusammen mit anderen Entwicklungen, etwa Donald Trumps Politik an der Grenze zu Mexiko, wird sein, dass eine Konvention, die 1951 beschlossen wurde und die sagt, jeder Mensch hat das Recht auf menschenwürdige Prüfung, ob ein Zurückstoßen ihn in Gefahr bringt, dass das vor unseren Augen zerbricht.
Das ist eine Tragödie, denn es gäbe Alternativen durch Zusammenarbeit, wo jeder besser wegkäme – etwa weitere Unterstützung für die Syrer in der Türkei, schnellere Verfahren an den EU-Außengrenzen, Rücknahme von denen, die keinen Schutz brauchen, und Anerkennung, dass die größte Katastrophe seit Jahrzehnten, was Flüchtlinge betrifft in der Welt, nämlich in Syrien, natürlich gemeinsame Anstrengungen bedarf. Mehr Druck auf Russland, das hier Spitäler bombardiert in Idlib seit Monaten, aber auch Realismus: Hunderttausende werden in die Türkei fliehen müssen, wenn sie nicht in Idlib sterben werden.
Wir müssen dort auch die Grenze öffnen, aber das kann man nicht einfach der Türkei alleine überlassen. Wir wollen auch Dschihadisten herausfinden, wir wollen die Menschen überprüfen, wir brauchen Kontrolle, aber wir müssen denen, die schutzbedürftig sind, helfen. Und was wir jetzt sehen ist der Zusammenbruch unter dem Druck des Populismus von all diesen Standards an allen europäischen Grenzen.
Staatenkoalition handelte 1979 für Bootsflüchtlinge aus Vietnam
Büüsker: Sie haben jetzt die Komplexität der aktuellen Situation sehr differenziert dargestellt. Wenn ich noch mal das Stichwort Vertrauen aufgreifen darf, was Sie ja gerade mit Blick auf die Türkei ins Spiel gebracht haben, da sehen wir jetzt ja eben, dass Erdogan im Prinzip den geschlossenen Deal aufkündigt, dass er gerade auch Vertrauen verspielt, indem er versucht, die Europäische Union unter Druck zu setzen, indem er die Grenze öffnet. Da werden jetzt viele sagen, puh, wie können wir denn mit dem überhaupt zusammenarbeiten, der unser Vertrauen missbraucht.
Knaus: Erdogan hat sich auf so vielen Ebenen verzockt, und auch sein ganzes Spiel mit Putin führt dazu, dass die Türkei keines ihrer Ziele erreicht in Nordsyrien und sich sogar zum Verbündeten macht mit ihrer auch manchmal vollkommen menschenrechtswidrigen Politik. Aber darüber hinaus dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, die Türkei hat seit Jahren der größten Zahl von Flüchtlingen in der Welt Schutz geboten. 3,5 Millionen Syrer sind in der Türkei, und es ist legitim, es ist im Interesse der EU, diesen Menschen zu helfen, dass ihre Kinder in Schulen gehen und medizinische Versorgung haben.
Und auch, wenn es jetzt so aussieht, und natürlich macht es uns die Rhetorik und auch die Aktionen der letzten 24 Stunden der türkischen Regierung schwieriger, aber auch, wenn es so aussieht, als würden wir hier auf Druck reagieren, eigentlich hätte die Bundeskanzlerin, hätte die EU schon vor Wochen, als sie in der Türkei war, fix zusagen müssen, dass die EU natürlich die Syrer in der Türkei weiter unterstützen wird. Weil es das Richtige ist und in europäischem Interesse, denn trotz dem Druck auf den griechischen Inseln, sind im letzten Jahr 99,5 Prozent der Syrer in der Türkei in der Türkei geblieben. Und hier weiter zu helfen, ist im Interesse der EU. Dass die EU nicht reagiert hat, als klar war, dass diese Hilfe kommen sollte, vor allem mit dem Druck an der türkisch-syrischen Grenze, das war ein politischer Fehler. Aber den kann man noch korrigieren, wir müssen jetzt sofort hier klare Signale setzen und eine Konferenz einberufen, etwa in Genf. 1979 hat man das gemacht, damals ging es um die vietnamesischen Bootsflüchtlinge, und eine Koalition von Staaten hat gesagt, wir helfen den Transitländern, wir nehmen Leute auf, wir verteilen sie auch in einem geregelten Verfahren. So etwas bräuchten wir jetzt für die nächste Flüchtlingswelle aus Syrien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.