
"Meine Damen und Herren, ich freue mich …"
Zweieinhalb Jahre lang haben 13 Landtagsabgeordnete aller Fraktionen darüber beraten, wie Vielfalt in der Demokratie gestärkt werden könnte. Dazu stellen sie nun als Enquete-Kommission "Subsidiarität und Partizipation – Zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie" ihren Abschlussbericht vor.
"Wir haben intensive Diskussionen gehabt", sagt der Kommissionsvorsitzende und CDU-Abgeordnete Stefan Nacke. 85 Handlungsempfehlungen haben er und sein Team erarbeitet. Es geht darum, politische Bildung schon früh in der Schule zu verankern, Prozesse direkter Demokratie zu fördern und Beteiligungsmöglichkeiten außerhalb der Parlamente zu schaffen.
"Demokratie braucht mündige Bürger und braucht politische Bildung."
Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert
"Es gibt schon einige Frauen, aber Menschen mit Migrationshintergrund sehe ich kaum und in den Parlamenten ist das natürlich ein großes Problem. War das bei Ihnen überhaupt Thema, diese Frage Diversität?"
Kurzes Schweigen – und dann fraktionsübergreifende Selbstkritik:
"Parlamente müssen schon die unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung aufgreifen und deshalb war es uns ein Anliegen, da Lösungen anzubieten. Da sind wir nun nicht an allen Stellen übereingekommen."
"Ich finde, sie haben den Finger durchaus in eine richtige Wunde gelegt, weil wir natürlich aus einem Parlament kommen, das nicht repräsentativ in dem Sinne besetzt ist."
"Wir haben wirklich viele sehr intensive Diskussionen darüber geführt …"
"… hatten dann aber auch Grundfragen zu klären: Wer repräsentiert denn eigentlich wen in so einem Parlament?"
In den Parlamenten sind die Anteile dagegen weitaus geringer: In Nordrhein-Westfalen haben nur drei Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, im jüngst gewählten Landtag von Rheinland-Pfalz liegt der Anteil bei zwei Prozent, in Baden-Württemberg immerhin bei knapp zehn Prozent. Im Bundestag haben gut acht Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund.
Unterschiedliche Interessen brauchen unterschiedliche Vertreter
"Der Begriff der Repräsentanz ist überaus schwierig", stellt die Juristin Sophie Schönberger klar. Sie sitzt nahe der Universität in Düsseldorf in ihrem Garten. Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht sowie Ko-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung.
"Also Repräsentanz in unserer repräsentativen Demokratie bedeutet nicht und kann nicht bedeuten, dass wir ein exaktes Abbild haben der Bevölkerung im Parlament. Das Parlament ist keine Miniatur-Bevölkerung. Das geht auch gar nicht, denn dann hätten wir keine freie Wahl mehr."
"Aber auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass Demokratie davon lebt, dass unterschiedliche Interessen artikuliert werden. Und dafür ist es ganz zentral, dass eben das Parlament divers zusammengesetzt ist und auch Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und natürlich auch mit unterschiedlichen sonstigen biografischen Hintergründen inklusive einer Migrationsgeschichte eben dann vereint."
Geld und Netzwerke als Hürden
"Es ist im Moment definitiv nicht divers genug."
Woran liegt das? An mangelndem Interesse wohl nicht. Verschiedene Studien, zum Beispiel der Bertelsmann-Stiftung, haben in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass sich Menschen mit Zuwanderungsgeschichte durchaus engagieren wollen – und sie tun das auch, allerdings vor allem in Sportvereinen, Kulturclubs, Kirchen und Moscheen. Warum nicht auch in der Politik?
"Wenn man nicht einen seltenen Quereinsteiger-Weg wählt, muss man sich sehr früh dafür entscheiden, darauf zuarbeiten. Man muss sehr viel Zeit investieren, mitunter auch Geld investieren für solche Kandidaturen. Das ist etwas, was natürlich Hürden aufbaut, völlig klar. Und diese Hürden sind natürlich größer für jemanden, der vielleicht nicht den familiären Hintergrund hat, wo irgendwie schon der Onkel oder wer auch immer in der politischen Partei aktiv war, vielleicht mal ein kommunales Mandat hatte. Also das sind faktische Hürden."
"Allein diesen Wahlkreis zu holen, ist ja wirklich schon schwierig. Das sind ja auch eigene Erlebnisse, die ich hatte. Wo dann natürlich so im Flurfunk, insbesondere dann, wenn es eben mehrere Bewerber gibt, dann natürlich auch intern gesagt wird: ob wir das mit einem türkischen Namen auf einem Wahlplakat schaffen."
Zunehmender Rassismus blockiert
"Über all die Jahre hinweg baut man sich ja auch so eine Mauer um sich herum und lässt so etwas nicht an sich herankommen. Ich habe aber sehr deutlich gemerkt, dass diese Mauer auch anfängt zu bröckeln."
Er habe Verständnis dafür, dass sich viele diesen Angriffen nicht aussetzen wollen.
Gesetzliche Quote problematisch
"Diskriminierung findet ja nicht nur in den Feldern außerhalb der Parteien und der Politik statt, sondern auch in Parteien und Politik."
Zwar sprechen sich fast alle Parteien offen gegen Rassismus aus und geloben, mehr Vielfalt in den eigenen Reihen zu fördern. Aber bei konkreten Maßnahmen sieht es dünn aus, auch in Yetims eigener Partei.
"Was wir jetzt für den Bundestag aufgestellt haben – das ist, das habe ich auch sehr deutlich gesagt - das ist ein Armutszeugnis für uns als NRW-SPD."
Unter den ersten 20 Listenplätzen sei niemand mit Migrationshintergrund.
"Die Parteien, wir tragen ja zur Willensbildung bei. Wir sagen ja immer alle – bis auf eine Partei – sagen wir ja immer: Wir sind ein Einwanderungsland und so weiter. Das ist ja mittlerweile Konsens bei uns. Und wenn wir unseren Auftrag wahrnehmen wollen, die Willensbildung in der Gesellschaft voranzubringen, dann müssen wir genau das tun."
"Mit gezielten Maßnahmen von oben, also wirklich mit staatlicher Steuerung kann man da relativ wenig erreichen."
Was also tun? Schönberger sieht wie Yetim die Verantwortung bei den Parteien.
"Die Parteien selber sind natürlich gefragt, die Menschen zu ermutigen, und natürlich auch eigene Hürden abzubauen, eigene rassistische Strukturen und Vorurteile zu hinterfragen."
Als erste Partei in Deutschland haben sich Ende vergangenen Jahres die Grünen ein sogenanntes Vielfaltsstatut gegeben. Es ist so etwas wie eine parteiinterne Quote. Bisher unterrepräsentierte Gruppen sollen bei den Grünen künftig gemäß ihrem Anteil an der Gesellschaft vertreten sein – und zwar auf allen Ebenen der Partei.
Noch ist es zu früh, um abschätzen zu können, ob solch eine Selbstverpflichtung wirklich greift. Blickt man auf die aktuellen Fraktionen im Bundestag, zeigen Berechnungen des Mediendienstes Integration: Bei den Grünen haben 15 Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, bei den Linken sind es 19 Prozent, bei der SPD etwa zehn Prozent. Die Quoten der restlichen Fraktionen liegen im einstelligen Bereich, die CDU hat mit nur drei Prozent den geringsten Anteil an Abgeordneten mit Migrationshintergrund im Bundestag.
Schema des klassischen Politikers greift immer noch
"Meine Motivation war ja auch, dass ich mir dachte: Okay, ein Cem Özdemir hat es geschafft. Also kann man das schaffen. Es ist nicht einfach, er war ja lange der einzige. Lale Akgün war ja die zweite, die haben es geschafft. Also kannst du das auch schaffen."
Es sei natürlich nicht immer einfach gewesen, aber das gehöre zur politischen Karriere dazu und habe nicht immer gleich etwas mit ihren türkischstämmigen Eltern zu tun, sagt Güler.
"Manche Dinge sind anstrengend, das ist richtig, und in manchen Bereichen ist die Konkurrenz auch größer. Das ist richtig. Aber ich glaube, das belebt auch hier politisch das Geschäft, weil man immer ein Stückchen besser sein will als der andere. Das ist gut für eine Demokratie."
Sophie Schönberger beschreibt das politische Geschäft so:
"Man darf nicht vergessen, es geht hier auch um die Verteilung von Machtpositionen. Also Listenplätze sind begehrt. Und da greifen eben ganz schnell alte Mechanismen, Seilschaften, die schon vorhanden sind. Und da gibt es dann Hürden, dass Menschen, die irgendwie anders sind und die nicht in das Schema des klassischen Politikers – der eben immer noch weiß, mittelalt und männlich, sehr, sehr grob vereinfacht, ist – die da nicht so ganz reinpassen."

Lamya Kaddor für die Grünen in den Bundestag
"Ja, ich glaube, es ist eine Sache zu kritisieren, zu kommentieren, zu beobachten und vielleicht auch zu analysieren. Und eine ganz andere Sache ist, dann auch die Möglichkeit zu haben, das in gewisser Weise umzusetzen und zu verändern."

Gerade sitzt Kaddor in Duisburg in einem schicken Hinterhof-Büro. "Dass die Grünen sehr homogen wirken, auch lange mit dem Vorwurf zu kämpfen haben, als weiße, als zu weiße Partei, das wissen wir. Es ist ein erster Schritt gewesen, mit mir jedenfalls auch mal was dagegen zu tun, aber es reicht natürlich nicht."
"Wir haben genau wie viele andere Parteien das Problem, dass Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Rassismuserfahrung bei uns unterrepräsentiert sind", sagt Felix Banaszak, Vorsitzender der NRW-Grünen. "Das ist jetzt nicht der alleinige Grund, sondern es geht natürlich auch um die Person Lamya Kaddor, die extrem viel beizutragen hat, enorm vernetzt ist, die ganz viel Expertise hat in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen. Aber es geht natürlich auch darum, dass wir besser werden müssen, diese vielfältige Gesellschaft auch in unseren eigenen Strukturen abzubilden und auch zur politischen Teilhabe über parlamentarische Arbeit zu verhelfen. Deshalb ist das, glaube ich, eine Win-Win-Situation."
"Es ist auch dringend notwendig, dass wir ein stückweit auch unsere Gesellschaft im Bundestag darstellen. Also die können doch nicht über unsere Gesetze entscheiden, über unsere Gesellschaft entscheiden, über uns, über unser Zusammenleben entscheiden, wenn nicht unterschiedliche Teile dieser Gesellschaft schlichtweg auch mitentscheiden dürfen."
Repräsentation wird immer noch unterschätzt
"Weil das im Jahr 2021 immer noch so ist, gehöre ich zu denjenigen, die finden, wir brauchen eine Quote, damit es tatsächlich endlich umgesetzt wird. Denn wir wissen aus dem Frauen-Gleichstellungsbereich, dass das ohne Quote in manchen Gruppen einfach nicht passiert."
Ataman plädiert für freiwillige Quoten, Selbstverpflichtungen der Parteien oder Institutionen.
"Ich glaube, dass Parteien immer noch massiv unterschätzen, wie wichtig Repräsentation ist und das Gefühl haben, sie würden es ja alles irgendwie mitdenken und mitberücksichtigen. Und deswegen sei das schon okay."
"Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass Menschen sich mit Dingen identifizieren, wenn sie ein Nähe-Gefühl haben, das kennt aber auch jeder und jede aus ihrem Alltag. Wenn ich eine junge Frau bin, dann fühle ich mich von einem 60, 70-jährigen Mann, der vielleicht auch noch ganz anders redet, von seiner Art her als ich und ein anderer Typ ist, nicht unbedingt repräsentiert oder angesprochen."
Projekt "Brand New Bundestag" will zu Diversität verhelfen
Einige Menschen wollen auf die Eigeninitiative von Parteien und Parlamenten nicht mehr warten – und versuchen, selbst Einfluss auf die Zusammensetzung von Parlamenten zu nehmen. Max Oehl ist einer von ihnen. Der Anwalt hat das Projekt "Brand New Bundestag" mitgegründet.
"Brand New Bundestag ist eine Graswurzelorganisation, die gezielt Menschen dabei hilft, politisch erfolgreich zu sein und sich dabei auf die Fahnen geschrieben hat, den Bundestag zum einen progressiver und zum anderen diverser zu machen."
"Es ist ja kein Geheimnis, dass zum Beispiel allein Frauen im Bundestag unterrepräsentiert sind, Menschen mit Migrationsbezug unterrepräsentiert sind, aber eben auch Ostdeutsche. Vor allem großes Problem: Menschen ohne höheren Bildungsabschluss sind im politischen Betrieb generell unterrepräsentiert. Und wir haben quasi auch Leute, die alle diese Erfahrungen und Perspektiven mit in ihre politische Arbeit mit einbringen in unserem Kandidierenden-Portfolio."
Vorbild von "Brand New Bundestag" ist das US-amerikanische Projekt "Brand New Congress", das die 31 Jahre alte Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez unterstützte. Sie wurde 2019 in den Kongress gewählt und gilt mittlerweile als eine Ikone der Linken in den USA.
Oehl ist optimistisch, dass der neu zu wählende Bundestag zumindest ein bisschen vielfältiger aufgestellt sein wird.
"Wenn man sich vor Augen hält, was für große Reformen wir ja vor der Brust haben, als Gesellschaft, die große, nachhaltige Transformation, da brauchen wir natürlich auch einen breiten Rückhalt und da können wir es uns nicht erlauben, auf gewisse Gruppen mehr oder weniger zu verzichten, weil das natürlich auch total destabilisierend sein kann für unser ganzes System."
Bessere Integration erforderlich
"Ich glaube, man kann das nicht isoliert lösen, sondern man kann das nur lösen, so wie man es in der gesamten Gesellschaft lösen kann. Sobald da einfach die Integration noch besser wird, sobald da Hürden abgebaut werden, sobald rassistische Vorurteile stärker abgebaut werden. Aber sobald eben auch insgesamt die Chancen von Menschen mit Migrationsgeschichte besser werden, auch im beruflichen Bereich, sodass überhaupt vielleicht erst Ressourcen frei werden, um zu sagen: Okay, jetzt habe ich auch die Zeit und die materiellen Ressourcen, um mich in der Partei zu engagieren. Sobald das erreicht ist, wird sich das auch in den politischen Parteien verbessern."
Und damit auch in den Parlamenten, ob nun in Düsseldorf, Mainz oder Berlin.