Freitag, 10. Mai 2024

Archiv

Migrantenparteien- und Initiativen
Der Kampf für die Vielfalt politischer Perspektiven

Fast jeder vierte Bundesbürger hat eine Zuwanderungsgeschichte. In der Politik wird diese Realität aber kaum abgebildet: Gerade einmal acht Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Inner- und außerparteiliche Initiativen versuchen das zu ändern.

Von Luise Sammann | 17.05.2020
Farhad Dilmaghani, DeutschePlus (l), Ferda Atamam, Neue deutsche Medienmacher (M), Tahir Della, Initiative Schwarze Menschen (h.r) und Leila Youngs El-Amaire, JUMA - Jung, Muslimisch, Aktiv (r) am 09.02.2015 bei der Pressekonferenz «Wer wir sind, was wir wollen» in Berlin
"Auch wir sind das Volk" - Rund 80 Initiativen aus ganz Deutschland fordern Mitsprache (Archivbild aus dem Jahr 2015) (dpa / Felix Zahn)
Wenn Achim Seger, alias Waseem, Musik macht, dann macht er gleichzeitig Politik: "Für uns ist Hiphop eben in einem politischen Kontext zu sehen und auch entstanden", so der deutsch-ägyptische Rapper, Veranstalter und YouTuber aus München.
"Also, wo Menschen mit historischen Problemen zu kämpfen hatten und das eben gemacht haben durch einen künstlerischen Ausdruck. Hiphop ist in diesem Kontext entstanden und der besteht fort. White Supremacy ist so ein Stichwort, Alltagsrassismus. Deswegen braucht es eigentlich immer noch das gleiche empowernde Tool, das Hiphop war und immer noch ist."
Mit diesem Grundgedanken engagiert sich der 35-jährige bekennende Moslem bei der Hiphop-Partei "die Urbane" gegen Rassismus und Diskriminierung. Vor zwei Monaten trat er bei den Kommunalwahlen in München für den Stadtrat an. Dass der Politikneuling zunächst scheiterte, überraschte ihn nicht.
Auf einem Plakat während einer Mahnwache steht: Stoppt die Hetze! Rassismus tötet!
Anschlag von Hanau / Ataman: "Wir wollen Schutz"
Migranten in Deutschland fühlten sich massiv unsicher, sagte die Journalistin Ferda Ataman im Dlf. Die Gesellschaft habe schon lange ein Rassismusproblem, dem die Politik entgegenwirken müsse.
Und doch sagt es viel über Vielfalt und Diversität in der Bayerischen Landeshauptstadt aus: "Also, der prozentuale Anteil der Stadträte und Stadträtinnen mit Migrationshintergrund jetzt, einen Monat nach Hanau war die Wahl, und es ist noch weniger geworden. Also, wir haben jetzt nur noch zwei Stadträte mit Migrationshintergrund, davor waren es vier. Und München ist eine Stadt mit fast 50 Prozent Migrationsanteil. Und das ist nicht repräsentativ. Das ist eigentlich rassistisch."
Wahlbeteiligung von türkischstämmigen Deutschen niedrig
In einer Demokratie soll das Volk durch gewählte Vertreter repräsentiert werden. In Deutschland hat heute etwa jeder Vierte eine Zuwanderungsgeschichte. Doch auch im aktuellen Bundestag sitzen nur 58 von 709 Abgeordneten mit einem so genannten Migrationshintergrund - gut acht Prozent.
"Also, man kann nicht Politik - das ist demokratietheoretisch auch nicht vorstellbar – Politik abseits dieser Gruppen zu machen", sagt Professor Haci-Halil Uslucan, Migrationsforscher an der Universität Duisburg-Essen.
Haluk Yildiz, Vorsitzender von Bündnis für Innovation & Gerechtigkeit (BIG), stellt auf einer Pressekonferenz das Wahlprogramm seiner Partei für die Europawahl 2019 vor
Haluk Yildiz, Vorsitzender von Bündnis für Innovation & Gerechtigkeit (BIG), stellt das Wahlprogramm seiner Partei für die Europawahl 2019 vor (dpa / Wolfgang Krumm)
"Wenn diese Menschen weder die Möglichkeit haben Gehör zu finden, dann sind sie letztlich, was die politischen Maßnahmen betrifft, fühlen sie sich auch dem nicht verpflichtet. Weil sie nicht an der politischen Willensbildung beteiligt waren."
Wer sich nicht vertreten fühlt, sich nicht mit Personen und Themen identifizieren kann, der wendet sich häufig ab. Nicht zufällig zeigte eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen nach der Bundestagswahl 2017, dass die Wahlbeteiligung von türkischstämmigen Deutschen deutlich unter der der Gesamtbevölkerung lag.
Serap Güler, Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, aufgenommen am 30.06.2017 in der Staatskanzlei in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen). Foto: Rolf Vennenbernd/dpa | Verwendung weltweit
Angekommen, um mitzubestimmen
Migranten haben es in der Politik auffällig schwer: Sie haben kaum Netzwerke, sind häufig auf Migrationsthemen abonniert. Und seit einigen Jahren stockt die Integration, auch weil die Flüchtlingsdebatte die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt.
"Man ist nur teilweise vertreten", erklärt Haluk Yildiz, Unternehmensberater und Kommunalpolitiker aus Bonn. "Das heißt, es gibt Positionen, wo sie sagen, aha, die SPD hat Positionen, die sind gut. Aber dann gibt es Positionen, mit denen kommt man gar nicht klar. Das ist ja meistens so in den Parteien. Aber wenn das dann Positionen sind, die gegen meine Identität sind, dann sagen sie sich natürlich, das hat für mich Priorität."
Das Thema doppelte Staatsbürgerschaft zum Beispiel, das bis heute nicht abschließend geklärt ist, besonders für türkischstämmige Deutsche aber existenzielle Bedeutung hat.
Aber auch das Thema Alltagsrassismus ist für Haluk Yildiz zu wenig präsent in der deutschen Politik: "Also, man wird bei der Bewerbung schon diskriminiert. Das gleiche haben sie auf dem Wohnungsmarkt, das gleiche im öffentlichen Bereich. Das ist ja, was die Leute uns erzählen, ich kann mich mit vielen dieser Sachen nicht identifizieren, komme mir vor wie Bürger zweiter oder dritter Klasse und keine Partei hat das bisher gelöst."
Bis heute fehlt ein Antirassismus-Gesetz
Und das, obwohl es immer wieder Anläufe gab. Lange war es vor allem die SPD, die als politische Heimat von Wählern mit Migrationshintergrund galt. Später starteten auch Linke, Grüne und selbst die CDU gezielte Kampagnen.
Politisch hat sich dennoch wenig getan. Nicht einmal ein Anti-Rassismusgesetz gibt es bis heute in der Bundesrepublik. Diejenigen, die es am nötigsten bräuchten, sind unter den Entscheidungsträgern nach wie vor kaum vertreten.
Annette Widmann-Mauz trägt den Integrationsreport im Dezember 2019 in Berlin vor
"Wir müssen unsere Bildung und interkulturelle Kompetenz stärken"
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz, hat einen verstärkten Einsatz gegen Rassismus gefordert. Es gäbe viele Migrantinnen und Migranten, die schlichtweg Angst hätten. Ihnen müsse kurzfristig geholfen werden.
"Wenn die Vielfalt nicht da ist, die Pluralität der verschiedenen Perspektiven eben bezogen auf Diskriminierungserfahrungen in dem Raum nicht vorhanden sind, dann werden die Debatten auch ohne einen Bezug auf diese Form der Diskriminierung geführt", weiß Filiz Keküllüoglu, Grünen-Politikerin aus Berlin. Sie vergleicht es mit einer Diskussion, in der die Frauenperspektive schlicht fehlt, solange nur Männer am Tisch sitzen.
Aber wollen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte überhaupt politisch mitwirken? Warum treten sie deutlich weniger auch in die Parteien ein, die ihre Offenheit betonen? Vielleicht engagieren sich Charlotte und Andreas einfach häufiger als Aynur und Mohammed?
Ferda Ataman, Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, sitzt nach dem Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt bei einer Pressekonferenz.
Die Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, Ferda Ataman (Jens Büttner/dpa/picture-alliance )
Die Journalistin und Publizistin Ferda Ataman widerspricht: "Das Argument, dass sich Leute nicht genug engagieren, ist sehr alt. Wir hören das zum Beispiel auch im Journalismus bei meinem Verein 'Neue deutsche Medienmacher‘ immer: Ja, die bewerben sich ja nicht. Und das gleiche kommt dann natürlich auch von der Politik. Wir leben im Jahr 2020. Wir haben, was die Gastarbeiternachkommen angeht, schon teilweise die dritte Generation, mindestens aber die zweite. Von denen haben viele inzwischen studiert, sprechen einigermaßen gut Deutsch, behaupte ich jetzt einfach mal (*lacht*). Das ist einfach überholt."
Auch Rapper Waseem aus München ist sicher: Die Leute sind da, nur schaffen sie es häufig nicht an Positionen, auf denen sie Aussicht auf Erfolg hätten.
Viel Engagement, aber nicht in der Politik
Und selbst da, wo Bewerber fehlten, seien die Parteien selbst in der Pflicht: "Also wenn uns zusammen auffällt, warum gibt es denn hier so wenige Betroffene, die für sich selber sprechen können. Woran liegt das denn? Liegt es daran, dass sie den Weg noch nicht gehen können, dass sie keinen Zugang finden? Dann müssen wir einen Zugang schaffen. Das meine ich mit ehrlichem Engagement der Mehrheitsgesellschaft Minderheiten gegenüber. Nämlich eine Hand zu reichen, hinzugehen und zu fragen, hey, was braucht ihr und wie kriegen wir das zusammen umgesetzt?"
Studien – zum Beispiel von der Bertelsmannstiftung – belegen: Menschen mit Zuwanderungsgeschichte engagieren sich überdurchschnittlich viel in Deutschland. Ausgerechnet in der Politik aber landen sie selten. Teils wegen formeller Hürden, wie der fehlenden Staatsbürgerschaft.
Der Grünen-Politiker Omid Nouripour
"Verein der Nicht-Moscheegänger wäre wünschenswert"
In Deutschland müssten auch Muslime gehör finden, die nicht regelmäßig zur Moschee gingen und sich nicht durch Moscheevereine repräsentiert fühlten, sagte Grünen-Politiker Omid Nouripour.
Häufig aber auch wegen fehlender Vorbilder oder der fehlenden Willkommenskultur etablierter Parteien, so Filiz Keküllüoglu von den Grünen: "Wenn man irgendwo reinkommt und angeguckt wird, es ist nicht selten, dass Menschen mit Rassismus-Erfahrung leider sich dann auch die Frage stellen, bin ich denn hier überhaupt erwünscht, so wie ich phänotypisch aussehe oder passe ich überhaupt in diese Gruppe?"
Keküllüoglu weiß, wovon sie spricht. Die 33-Jährige bezeichnet sich selbst als woman of color. Als Frau, die - obwohl hier geboren und aufgewachsen – allein wegen ihres Aussehens oder ihres Namens immer wieder als nichtdeutsch wahrgenommen wird:
"Diese Selbstverständlichkeit, dahin zu gehen und einfach mal die Meinung zu sagen, das ist nicht immer gegeben. Weil man eben auch Rassismus-Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten gemacht hat, ist man manchmal eben auch verunsichert. Ist es einfach nur, weil ich neu bin, ist es, weil ich so aussehe, weil ich so rede? Und das kann auch manchmal eine zusätzliche Belastung sein."
Politologin: Homogene Gruppen bedeuten automatisch Diskriminierung
Das Ergebnis: Sämtliche etablierten Parteien in Deutschland sind nach wie vor so homogen, so überwiegend weiß, dass wir sie eigentlich als Parallelgesellschaften bezeichnen müssten, so Emilia Roig, Politologin und Gründerin des "Center for Intersectional Justice in Berlin".
Das tun wir nicht, warum? Weil es die dominante Gruppe ist, im Sinne von, die Gruppe, die am meisten die politische, kulturelle, wirtschaftliche Macht hat, also darüber verfügt. Und deswegen nennen wir das nicht so. Wir denken, solange wir offen sind und sagen Menschen mit Migrationshintergrund sind willkommen, dann haben wir kein Problem."
Homogene Gruppen aber, so die Politologin, bedeuten immer auch automatisch Diskriminierung. Ob bewusst oder unbewusst.
Eine Parteiliste, die die Vielfalt der Menschen abbildet
"In der Tat gibt es natürlich mit den Grünen und den Linken und manchmal auch teilweise bei der SPD durchaus Sensibilitäten für das Thema oder auch Programmpunkte, die sich damit beschäftigen", so die Journalistin Ferda Ataman.
"Nur tatsächlich ist oft der Habitus, dass es eben eine weiße Partei ist, die Ausländer mag und nett ist und sozusagen offen auf sie zugeht, aber nicht, die sie als Teil dieser Gesellschaft wahrnimmt. Also, das ist so: Wir tun was für unsere Mitbürgerinnen, statt zu finden, selbstverständlich ist in unseren eigenen Reihen, wenn wir eine Landesliste, eine Parteiliste aufstellen, auch darauf zu achten, dass da Leute dabei sind, die die Vielfalt im Land abbilden. Und das sehen wir bei keiner der Parteien genügend."
Joshua Kwesi Aikins (l-r), Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V., Kübra Gümüsay, Initiatorin von #schauhin und #ausnahmslos, Sheila Mysorekar, Neue deutsche Medienmacher e.V., und Nariman Reinke, Deutscher Soldat e. V., am 26.02.2016 beim Bundeskongress der Neuen Deutschen Organisationen in Berlin. Motto "Deutschland, wir müssen reden!". Die Organisatoren fordern "Keine Debatten über Migration und Asyl ohne uns".
Migranten müssen in die politische Debatte einbezogen werden, forderte der Bundeskongress der Neuen Deutschen Organisationen 2016 (dpa / Bernd von Jutrczenka)
Und während einem Teil der Menschen in Deutschland dieses Ungleichgewicht gar nicht auffallen mag, weil es sie persönlich nicht betrifft, wächst bei anderen die Wut, so Journalistin Ataman.
"Ich beobachte schon seit einer ganzen Weile – also ich nenne das: Es brodelt in Kanakistan. So hatte ich das mal in einer Kolumne genannt. Dass die Wut und vor allem auch die Enttäuschung – ich glaube, das ist das richtige Wort – die Enttäuschung über die etablierten Parteien oder klassischen Parteien, nennen wir sie mal so, doch sehr groß ist, weil seit 2015, seit es diesen wirklich sichtbaren und spürbaren und auch parlamentarisch nachweislichen Rechtsruck gibt, in dem eine rechtsradikale bis teilweise rechtsextreme Partei in allen Parlamenten sitzt, seitdem sind die anderen Parteien nicht klarer und eindeutiger, haben sich nicht vor die offene Gesellschaft und für Inklusion ausgesprochen, sondern sind eher auch nach rechts gerückt und haben signalisiert: Oh ja, da gibt es offenbar besorgte Einheimische, um die müssen wir uns besonders kümmern, deren Belange sind besonders wichtig."
Niederländische Migrantenpartei DENK hebt Wahlbeteiligung
Ferda Ataman gehört zu den Gründerinnen der Neuen Deutschen Organisationen. Einem "postmigrantischen" Zusammenschluss von über 100 Initiativen, die sich für Vielfalt und gegen Rassismus einsetzen. Beim Bundeskongress im Februar kam auch hier die inzwischen immer öfter gestellte Frage auf: "Bräuchten wir eine eigene Partei, die Minderheitenpunkte, also Bedürfnisse, Themen, sehr in den Blick nimmt?"
Es wäre nicht der erste Anlauf für eine sogenannte "Migrantenpartei" in Europa. In den Niederlanden gründete sich im Jahr 2015 die DENK-Partei als Antwort auf die rechtsnationalistische Rhetorik von Politiker Geert Wilders.
Inzwischen ist sie in 13 Gemeinden und mit immerhin drei Abgeordneten im Parlament vertreten. Vor allem aber schaffte sie es, die Wahlbeteiligung von türkischstämmigen Niederländern von 37 auf 47 Prozent anzuheben.
Von solchen Erfolgen träumte auch Unternehmensberater Haluk Yildiz, der bereits vor zehn Jahren mit anderen BIG gründete – Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit. Über 45 Nationalitäten seien unter den BIG-Mitgliedern vertreten, so der Vorsitzende Yilidiz: "Das heißt wir sind eine soziale Partei, wir sind eine Vielfaltspartei und wir sind eigentlich eine Partei, die versucht, so Identitäten zu schützen. Das heißt, jede Identität, die in Deutschland vorhanden ist, soll auch eine Möglichkeit finden, politisch zu partizipieren und vertreten zu werden."
Migrantenbündnis BIG - verschrien als Erdogans Lobbytruppe
Viele Forderungen von BIG ähnelten denen von SPD, Linke und Grünen, so Yildiz. Zugleich aber sei es die Enttäuschung über eben diese Parteien, die viele Menschen zu BIG treibe. Nicht nur wegen ungelöster Themen wie doppelter Staatsbürgerschaft oder kommunalem Wahlrecht. Sondern zum Beispiel auch wegen des in den eher linken Parteien vorherrschenden Familienbildes.
Der Schutz der klassischen Familie aus Mutter, Vater, Kind ist den in dieser Hinsicht klar konservativen BIG-Anhängern genauso heilig wie etwa die Ablehnung des Adoptionsrechts für homosexuelle Paare. "Das ist etwas, was unsere Partei ablehnt. Aber nicht, weil wir gegen homosexuelle Menschen sind, sondern weil wir haben ein anderes Verständnis von Familie und von Kind. Das heißt, das Kind hat ein Recht auf Vater und auf Mutter. Und wenn ihm das verwehrt wird, sagen wir, ist das nicht in Ordnung. Das ist jetzt ein Weltbild, das kann man mögen oder nicht – bis vor vielleicht 20 Jahren oder kürzer, würde ich sagen, war das ja hier nicht anders."
Als Erdogans Lobbytruppe und antischwule Partei wurde das Bündnis wegen solcher Aussagen schnell verschrien. Nicht ernst zu nehmen, islamistisch oder radikal, beschlossen auch Journalisten schnell, ignorierend, dass zum Beispiel in der CSU ganz ähnliche Positionen zum Programm gehören.
BIG-Partei auch unter Menschen mit Zuwanderungsgeschichte umstritten
Vor allem aber: Auch andere Forderungen der BIG-Partei, zum Beispiel zur Gleichstellung von Religionsgemeinschaften, waren damit gleich mit vom Tisch.
Ein Schicksal, dass auch einer deutlich liberaler aufgestellten Partei blühen könnte, glaubt Integrationsforscher Uslucan aus Köln: "Meine zentrale Kritik an solchen Bestrebungen ist die, dass gleichwohl diese Parteien ihre Berechtigung vielleicht dahingehend haben, dass sie ihren Finger auf eine Wunde legen, die von den anderen Parteien vielleicht nicht genug gesehen wird. Aber die Gefahr, dass sie marginalisiert werden, dass sie als Migrantenpartei, Türkenpartei usw. Eigentlich sind es verlorene Stimmen."
Auch unter Menschen mit Zuwanderungsgeschichte war die BIG-Partei von Anfang an umstritten. Denn wer sagt, dass jeder Deutsche mit türkischen oder arabischen Großeltern automatisch gegen das Adoptionsrecht für Homosexuelle sein muss?
Filiz Keküllüoglu von den Grünen etwa betont: "Es gibt auch POCs in den anderen Fraktionen und da merke ich, okay, das einzige, was uns vielleicht wirklich verbindet, dass der aufgrund seines Namens auch manchmal Diskriminierung erfährt. Aber er hat einfach ein ganz anderes Weltbild."
Die Frage, die sich bei einer eigenen Partei für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte also immer stellen würde, lautet: Reicht die Tatsache, dass man nicht ausreichend repräsentiert ist und ähnliche Erfahrungen mit Rassismus gemacht hat, um gemeinsam Politik zu machen? Im Jahr 2011 träumte man bei der BIG-Partei davon, in zehn Jahren "in der Regierung" zu sein. Die Realität sieht anders aus und bestärkt so diejenigen, die sämtliche Forderungen der BIG-Partei als Minderheitenpositionen abbügeln.
Bunt-Grün - Netzwerk für Grüne mit Zuwanderergeschichte
"Warum ich ein bisschen gespalten bin bei dem Thema Neue Partei gründen", so Journalistin Ferda Ataman. "Also die müsste ja dann auch schon reinknallen und auch im besten Fall, wie die Piraten und auch die AfD – auch wenn ich sie ungern als Vorbild nennen will – aber schon sehr effektiv sein und die anderen Parteien verunsichern und ihnen klarmachen, dass da ein Bedarf ist, so dass sie thematisch mitgehen, und das ist natürlich wahnsinnig viel Arbeit. Also, möglicherweise ist es leichter, in etablierte Parteien reinzugehen und zu versuchen, von innen sozusagen, mitzumischen."
Diesen Weg verfolgt Filiz Keküllüoglu mit dem Netzwerk Bunt-Grün, das 2013 innerhalb des Berliner Verbandes der Grünen entstand und dem heute mehr als 200 Parteimitglieder angehören. Ein Netzwerk, das sich für die stärkere Einbindung von Menschen mit Rassismus-Erfahrungen und ihren Themen einsetzt.
"Es geht nicht darum, dass wir uns irgendwie nur mit Rassismus per se und mit unserer Identifizierung oder unserer Erfahrung mit Rassismus beschäftigen, sondern dass wir in den verschiedenen Politikbereichen die rassismuskritische Perspektive als ein Querschnittsthema reinbringen."
Neue Perspektive innerhalb etablierter Parteien
Filiz Keküllüoglu erinnert sich noch gut an ihre erste Debatte als Besucherin bei den Grünen im Jahr 2007. Es ging um die sozialen Folgen steigender Mieten in Berlin. Die Stimmung war aufgeheizt. Doch niemand im Raum sprach die Tatsache an, dass Menschen mit arabisch oder türkisch klingenden Namen ganz besonders von der Verdrängung betroffen sind. Es fehlte die Perspektive von Menschen wie Filiz.
Der Schriftzug "BERLIN FOR SALE" steht an einer Hauswand in der Erich-Weinert-Strasse in Berlin-Prenzlauer Berg
Migranten sind von steigenden Mieten besonders betroffen, etwa in Berlin (imago images / Seeliger)
Seitdem hat sich viel verändert bei den Grünen. Vor allem durch das Netzwerk Bunt-Grün hat die Partei inzwischen Diversitätsbeauftragte in allen Bezirks-, Kreis- und Landesvorständen. Mit dem Parteibeschluss "Plural nach vorne" aus dem Jahr 2017 bekannten sich die Berliner Grünen gar dazu, den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund unter den Fraktionsträgerinnen, dem in der Berliner Gesellschaft anpassen zu wollen. Stand heute: 31Prozent.
Damit sind die Grünen den anderen etablierten Parteien weit voraus. Und hinter Filiz Keküllüoglu und ihren Kolleginnen bei Bunt-Grün liegt ein langer, nicht immer einfacher Weg. "Es wurde nicht sofort und nicht von allen erkannt, dass wir als Partei einfach auch genau das reproduzieren, wie andere gesellschaftliche Institutionen. Die Grünen sind immer an der vordersten Front gegen Nazi-Demos und setzen sich eben auch für Einwanderung ein. Und dann ist es natürlich auch nicht so einfach, auf sich selbst zu schauen und zu sagen, okay, wir haben hier bestimmte eingespielte Routinen, und systematisch schließen die eben POCs und Schwarze Menschen aus. Und das müssen wir erst mal kleinteilig erarbeiten, dieses Thema."
CDU: Nur drei Prozent Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund
Die nächsten Wahlen und ihre Kandidatenlisten werden zeigen, wie erfolgreich Bunt-Grün innerhalb der Partei wirklich ist. Immerhin: Seit dem letzten Jahr hat sich auch in der LINKE ein ähnliches Netzwerk gegründet.
Andere Parteien bewegen sich sehr viel langsamer. In der CDU etwa liegt der Anteil von Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund bei gerade einmal drei Prozent.
"Es ist schwierig, weil ich glaube, es gibt tiefsitzende Ängste, obsolet zu werden. Und es geht um Überlebensmechanismen, die ganz tief verankert sind. Wir müssen für unseren Platz noch kämpfen, sonst werden wir ersetzt", analysiert die Politologin Emilia Roig.
Vor allem aber macht der langsame Fortschritt eines deutlich: Es geht nicht allein um die Frage, ob Deutschland eine Partei für Menschen mit Migrationsgeschichte braucht. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass unsere Demokratie einen großen Teil ihrer Bevölkerung nicht repräsentiert.
Die Frage, wieso das so ist und wie es sich ändern ließe, müssen nicht allein die Betroffenen stellen, sondern auch und vor allem diejenigen, die die Macht innehaben.
"Wenn wir anerkennen, dass es ein Problem gibt, dann haben wir die halbe Strecke schon gemacht. Und das ist das, was uns im Moment noch fehlt. Weil dann würde es heißen: Oh Gott, wir sind schlechte Menschen, wir diskriminieren, wir sind immer noch rassistisch. Wir sollten einfach sehen: Ja das haben wir und was können wir jetzt tun?"