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Milena Jesenská: „Prager Hinterhöfe im Frühling“
Die Radikalität des Herzens

Sie galt lange Zeit lediglich als Kafkas Freundin. Dabei war Milena Jesenská eine der engagiertesten und besten Journalistinnen der Prager Avantgarde in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Eine Auswahl ihrer Feuilletons und Reportagen liegt nun in deutscher Übersetzung vor.

Von Angela Gutzeit | 25.01.2021
Alena Wagnerová und das von ihr herausgegebene Buch: Milena Jesenská: „Prager Hinterhöfe im Frühling"
Die tschechische Publizistin Alena Wagnerová hat Milena Jesenskás journalistische Arbeiten herausgegeben (Foto: Karel Šanda/Wallstein Verlag, Buchcover: Wallstein Verlag)
20 Jahre war Milena Jesenká journalistisch tätig. Es war die Zeit zwischen 1919 und 1939. Eine politisch instabile Zeit nach einem verheerenden Krieg. Der deutsche Kaiser hatte abgedankt, das österreich-ungarische Reich war zerfallen, Nationalismen und radikale Ideologien fanden reichlich Nahrung und bedrohten die noch jungen Demokratien in Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei. Gleichzeitig aber war es auch eine Zeit der aufblühenden Künste, des engagierten Journalismus und der kreativen Kaffeehauskultur. Im Café Arco, dem Treffpunkt der Prager deutschen Literaturszene, lernte die 22jährige Milena Jesenká den österreichischen Literaturkritiker Ernst Pollak kennen und zog mit ihm, ihrem ersten Ehemann, 1918 nach Wien. Die Jahre in der österreichischen Hauptstadt von 1918 bis 1924 bezeichnet Alena Wagnerová, die Herausgeberin des vorliegenden Reportage-Bandes und eine der Biografinnen Jesenkás, als "Wiener Lehrjahre" der jungen Journalistin. Ihre ersten Texte schrieb sie für die liberaldemokratische Tageszeitung "Tribuna" in Prag. Ja, sicherlich, es waren Lehrjahre. Aber was für ein fulminanter Auftakt! Welch großes Talent meldete sich hier zu Wort! In dieser frühen Phase widmete sich Jesenká vor allen Dingen der sozialen Frage, dem Elend der Arbeitslosen in der Inflationszeit, den Lebensverhältnissen der Ärmsten, der Kinder in den Hinterhöfen und Gassen Wiens. Sie schaute genau hin – kompromisslos und ungeschönt:
"Da müssen die Schulkinder dann den Haushalt versorgen, für den Vater kochen, die kleinen Geschwister kämmen und hüten, wo bleibt da noch Zeit für Rechnen und die Grammatik! Nachmittags fahren die Kleinen regelmäßig mit der Elektrischen bis zur letzten Station ins Holz und kehren mit Bündeln und Bündelchen und erfrorenen Händen und Füßen heim. An Hausaufgaben kann kein Gedanke sein. Sie sind ein kleines, kränkliches Völkchen, schlecht ernährt und in den Jahren ihres Heranwachsens von ebenso schwerer Arbeit gedrückt wie die Erwachsenen, die keine Verschnaufpause kennen."

Der emphatische Blick

Es ist nicht nur die Empathie, die diesen Texten eingeschrieben ist und sofort die Leserschaft anspricht. Oft noch verstärkt durch die Ich-Perspektive, den Fragegestus und die wörtliche Rede. Es ist diese geradezu brennende Leidenschaft, als Zeitzeugin Ungerechtigkeit und Unrecht zur Sprache zu bringen. Als Einstieg wählt sie dabei häufig eine Beobachtung, die sie in der Elektrischen, an der Straßenecke, in der Vorstadt oder im Schlachthof gemacht hat. Sie selbst schreibt dazu. "Aufmerksamkeit für das Detail macht aufmerksam für das Große." Wobei das Große nicht immer die Gesellschaft sein muss. Das Große kann auch ein Nachdenken sein über die Natur, das Leben und die Beschaffenheit des Menschen. So wie in diesem Artikel in der "Tribuna" vom 25. Juni 1921 – vor der Kulisse einer von ihr geliebten Landschaft an der bayrisch-böhmischen Grenze:
"Nach Jahren bin ich wieder einmal hergekommen. In manchen Augenblicken erfasst mich ein Schwindel bei dem Gedanken: Tut sich denn auf der Welt gar nichts? Ein ganzes Leben und wie viele Kämpfe mit ihm. Und der Krieg. Der Umsturz. Ein ganzes Kapitel ungeheuerlicher Geschichte liegt zwischen meinem heutigen und meinem letzten Aufenthalt. Und ich finde hier Pfad um Pfad, Schneise um Schneise, Lichtung um Lichtung: unverändert, in ihrer stillen, freundlichen, sanften, warmen Schönheit. Als gäbe es weder Zeit noch Schicksal."
Franz Kafka, mit dem Milena Jesenká eine tiefe, aber problematische Beziehung bis zu seinem Tod 1924 verband, bezeichnete ihre Feuilletons und Reportagen bewundernd als wahre "Prosastücke". Aber das unermüdliche Engagement, das Scheitern ihrer Ehe mit Pollak, die existentielle Unsicherheit, was sie immer wieder nötigte, auf Übersetzungsarbeit zurückzugreifen, forderte auch ihren Tribut. 1923 unternahm Milena Jenseská einen Selbstmordversuch.

Zunehmende Politisierung

Im Jahre 2016 veröffentlichte die Literaturhistorikerin Marie Jirásková eine große tschechische Ausgabe von Jesenskás Reportagen und Feuilletons. Auf diese Quelle stützt sich Alena Wagnerová bei ihrer Auswahl der Texte für diesen Band. Sie hat Jensekás journalistische und essayistische Beiträge drei Lebens- und Schaffensphasen zugeordnet. Da sind die Jahre in Wien, die Rückkehr nach Prag 1925 und Jesenkás Wechsel zur tschechischen Tageszeitung "Narodni listy". Schließlich ihre Tätigkeit u.a. für die Wochenzeitschrift "Pritomnost" ab 1937 bis zu deren Verbot 1939 als Folge der sogenannten Sudetenkrise und der endgültigen Vereinnahmung der "Rest-Tschechoslowakei" durch Nazi-Deutschland.
In diesen wildbewegten Prager Jahren, in denen Jesenská eine Tochter bekam, aber auch ihre zweite Ehe scheiterte und eine Krankheit ihr Bein lähmte, emanzipierte sie sich zunehmend von der ihr stets zugewiesenen und ungeliebten Rolle als Journalistin für die Frauenseiten. Sie wurde politischer, radikaler, fühlte sich der neuen tschechischen Frauen-Avantgarde zugehörig, kämpft gegen das gesellschaftliche Eheverständnis wie auch für die Befreiung der Frauen aus der Zuschreibung der Männer.
"Ich glaube nicht, dass die Männer heute grundsätzlich anders sind. Aber die Frauen sind es. Man muss keine allzu intellektuelle oder emanzipierte Frau sein, und doch wird man leicht die Wahrheit entdecken, dass seelischer Einklang sich niemals einstellen wird, wo ein Mensch Besitz des anderen ist."
Nach einem Intermezzo bei der Kommunistischen Partei, der sie – angewidert durch deren revolutionären Dogmatismus - schließlich den Rücken kehrte, erhielt Jesenká bei "Pritomnost" endlich die Chance ihres Lebens. Weg von der Frauenseite, hin zur politischen Berichterstattung. Eine Seltenheit für eine Frau ihrer Zeit. Diese Texte geben Einblick in das letzte Kapitel kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, als Demagogen, Antisemiten, Kriegstreiber, Aufrührer und Schlägertrupps die Oberhand gewannen und die Demokratien versagten. In 55 gut recherchierten Artikeln beschreibt Jesenká die Situation im aufgewühlten Sudentenland, in dem die faschistische Partei Konrad Henleins die Eingliederung ins Nazi-Reich betrieb. Mit einem offensichtlich unbezwingbaren Mut, der allmählich lebensgefährlich wurde, informierte Jesenská ihre Leserschaft über die Situation der gestrandeten Emigranten aus Deutschland und des ehemaligen Österreichs, insbesondere über die rastlose, atemlose Flucht der jüdischen Menschen.
"Ich sollte wohl die Not, in der sie leben, genauer schildern. Etwa ein Viertel ist krank, unterernährt sind alle. Ich kann mich aber nicht von dem Eindruck freimachen, dass da noch etwas Schlimmeres ist, als das tägliche Elend. (…) diese Menschen stehen da, dürfen nicht arbeiten, sie hören die Zeit verrinnen, stehen da und warten auf morgen."

Der Untergang der Demokratie

Und die Wohltätigkeit, so schreibt Milena Jesenká im Oktober 1937, nehme mit der wachsenden Not dieser Menschen ab. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit würden auch in den Besten schlummern, und, so ergänzt sie, nichts sei so leicht, wie sie zu wecken.
Dann das Finale: "Am 15. März 1939 um fünf nach halb neun", wie die Journalistin schrieb, erreichte die reichsdeutsche Armee Prag. Und nicht wenige Tschechen begrüßten diese mit "Heil Hitler!" In einem ihrer letzten Artikel schreibt Milena Jesenká:
"Werden die Staaten sich eines Tages wirklich verstehen, wie sich einzelne Menschen verstehen? Werden die Grenzen zwischen den Ländern fallen, wie in den Beziehungen zwischen Menschen?
Wie wäre das schön, das zu erleben."
Es war ihr nicht vergönnt. Im Oktober 1940 wurde Milena Jesenská in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Am 17. Mai 1944 erlag sie dort einer schweren Erkrankung. Ihre Empathie, ihr Bestreben, Menschenleben zu retten und Hoffnung zu bewahren, so berichtete ihre Mitgefangene und spätere Biografin, Margarete Buber-Neumann, habe sie bis zuletzt aufrechterhalten.
Milena Jesenská: "Prager Hinterhöfe im Frühling.
Feuilletons und Reportagen 1919-1939"
Herausgegeben von Alena Wagnerová
aus dem Tschechischen von Kristina Kallert
Wallstein Verlag, Göttingen. 416 Seiten, 32 Euro.