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Mindestlohn
"Es geht hier auch um ein Stück Menschenwürde"

Bei den Koalitionsverhandlungen habe er den Eindruck, dass das Thema Mindestlohn bis "weit in die Reihen der Union hinein akzeptiert und gewollt ist", sagt der Finanzminister von Rheinland-Pfalz, Carsten Kühl (SPD).

Carsten Kühl im Gespräch mit Silvia Engels | 20.11.2013

    Silvia Engels: Einem Finanzexperten in der Politik kommt traditionell eine klare Rolle zu: die des Spielverderbers. Wenn Sozialpolitiker, Familienpolitiker oder Arbeitspolitiker schöne Konzepte entwickeln, um den Menschen das Leben zu erleichtern, streichen Haushälter und Finanzkenner diese Ideen oft zusammen, da sie nicht bezahlbar sind. Damit muss sich heute wohl auch die Finanzarbeitsgruppe der Koalition befassen. Eigentlich will sie ja über Steuerkonzepte reden, doch damit allein scheint es angesichts der milliardenschweren Wünsche überall nicht getan.
    Mitgehört hat Carsten Kühl, er ist Finanzminister von Rheinland-Pfalz, gehört der SPD an und er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Finanzen. Guten Morgen, Herr Kühl!
    Carsten Kühl: Schönen guten Morgen, Frau Engels.
    Engels: Stehen Ihnen denn schon die Haare zu Berge, wenn Sie diese Wunschzettel, diese F-Liste "Finanzierungsvorbehalt" aus den Arbeitsgruppen im Volumen von bis zu 50 Milliarden Euro Ausgabenwünsche sehen?
    Kühl: Nein, da stehen einem nicht die Haare zu Berge. Erstens ist es für einen Finanzminister eine relativ normale Aufgabe, haushaltspolitische Bedürfnisse und finanzpolitische Wünsche miteinander in Einklang zu bringen, und zum zweiten wird in der öffentlichen Diskussion, was die Dimensionen angeht, ziemlich viel übertrieben. Finanzpolitiker neigen dazu, rational zu sein, und wir versuchen jetzt, durch Überprüfung der Zahlen ein bisschen Rationalität in die Diskussion zu bringen, und denjenigen, die es letzten Endes entscheiden müssen, die Möglichkeit zu geben, vernünftig und in der Abwägung zu entscheiden.
    Engels: Auf was für eine Summe kommen Sie denn, wenn Sie die Mehrausgabenwünsche zusammenrechnen?
    Kühl: Erstens werden wir heute über diese sogenannte F-Liste, über die Maßnahmen aus den Arbeitsgruppen, die finanzwirksam sind, erst beraten und heute die letzten Papiere der anderen Arbeitsgruppen bekommen. Die haben ja zum Teil bis gestern Abend noch getagt. Man darf auch nicht ungleiche Dinge miteinander addieren. Ich gehe mal davon aus, dass die Diskrepanz deutlich niedriger ist, als das seit einigen Wochen in den Medien uns dargestellt wird. Das ist übereinanderzubringen.

    Generationenprinzip bei der Finanzierung beachten

    Engels: Nennen Sie doch mal ein Beispiel, was Sie vom Wunschzettel wieder los werden wollen?
    Kühl: Ich glaube, es ist nicht unsere Aufgabe, als Finanzpolitiker zu sagen, die Mehrausgaben in einem bestimmten Politikbereich wollen wir nicht. Das ist eine allgemeinpolitische Abwägung. Es geht eher darum, dass wir in bestimmten Bereichen sagen, wenn man etwas finanzieren will, dann sollte man es nicht mit diesen Instrumenten, sondern mit jenen Instrumenten finanzieren.
    Ich gebe ein Beispiel: Bei der Rentenversicherung gibt es eine Diskussion darüber, wenn man bestimmte Mehrleistungen darstellt, ob man die über die Beitragssätze finanziert, oder durch einen Zuschuss aus dem allgemeinen Haushalt. Das hat etwas mit dem Generationenprinzip zu tun, das hat etwas mit der Nachhaltigkeit des Rentensystems zu tun, und da kann man als Finanzpolitiker schon, wie ich finde, Ratschläge geben, was systemgerecht ist und was nicht.
    Engels: Das heißt, die Mindestrente, die ja steigen soll, oder die Mütterrente, die ja die Union unbedingt anheben will, die soll aus Steuermitteln bezahlt werden und nicht aus Beitragssätzen? Ist das Ihre Idee?
    Kühl: Systematisch würde man das auf jeden Fall so sehen. Ich glaube, da gibt es auch grundsätzlich keinen Dissens, und deswegen muss man darüber nachdenken, ob man es sich aus allgemeinen Haushaltsmitteln leisten kann, oder ob man es sich jetzt noch nicht leisten kann. Aber man sollte aufpassen, dass man die Nachhaltigkeit, die Finanzierbarkeit und damit auch die Generationen- und Beitragsgerechtigkeit nicht kaputt macht, indem man die Beitragsfinanzierung mit versicherungsfremden Leistungen überfrachtet. Das ist keine Aussage dazu, ob man diese Maßnahme machen sollte, nur man sollte die Dinge nicht durcheinanderbringen, weil man sonst ein stabiles Rentenversicherungssystem, was wichtig ist und auf das die Menschen, die viele Jahre gearbeitet haben, auch einen Anspruch haben, ein Stück weit kaputt macht.
    Engels: Wollen Sie die Union damit doch dahin treiben, dass am Ende die Steuern erhöht werden müssen?
    Kühl: Wir sind im Gegensatz zur Union, glaube ich, weniger ideologisch behaftet, was Finanzierungsfragen angeht. Ich halte es immer für klug, wenn man sich als Finanzpolitiker verschiedene Optionen, die man hat, offenhält. Bei der Union gibt es – das ist bekannt – keine Bereitschaft, Steuern zu erhöhen. Bedauerlich ist, dass die Union auch die Struktur ihres jetzigen Haushalts für gegeben ansieht. Das heißt, dass wir als Länderfinanzminister seit vielen Jahren tun müssen und auch tun, zu gucken, wo kann man aus einzelnen Ausgabenpositionen ein bisschen was rausstreichen, um andere wichtigere Dinge zu tun und um zu sparen. Diese Aufgabe musste sich der Bundeshaushalt, weil die wirtschaftliche Entwicklung gut war, weil er sich ein Stück weit automatisch konsolidiert hat, nicht stellen. Ich glaube, da ist viel Potenzial.
    Das gleiche gilt für den Abbau von Steuersubventionen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir da mehr konkretisieren, jetzt in den Koalitionsverhandlungen. So muss das im Laufe der Legislaturperiode passieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn man viele schwierige Entscheidungen am Anfang einer Legislaturperiode, nämlich im Koalitionsvertrag trifft – so haben wir das in Rheinland-Pfalz gemacht -, dann lässt sich auch finanzpolitisch dieses leichter oft in vier Jahren durchsetzen. Sie haben in den vergangenen vier Jahren gemerkt, was passiert, und das wird hoffentlich in diesem Koalitionsvertrag nicht passieren, wenn man offene Dinge in den Koalitionsvertrag reinschreibt und sich dann vier Jahre zwischen den Koalitionspartnern streitet, ob oder wie man etwas tut. Ich denke nur an die Steuerreformgedanken von Schwarz-Gelb.
    Engels: Herr Kühl, umso wichtiger wäre es doch, sich auf Haushaltsgrundsätze zu verständigen. Die Union will ja ab 2015 ausgeglichene Haushalte erreichen und das auch im Koalitionsvertrag festschreiben. Sie nicht. Warum?
    Kühl: Deutschland hat seit 2009 ganz wichtige Haushaltsgrundsätze, die Verfassungsrang haben. Danach gibt es auf europäischer Ebene weitere Konkretisierungen. Die Stichworte sind die deutsche Schuldenbremse und der europäische Fiskalvertrag. Da ist sehr detailliert geregelt, was öffentliche Haushalte in Deutschland und was öffentliche Haushalte in Europa dürfen und was nicht.
    Ich halte wenig davon, dass man sich über die in der Verfassung festgeschriebenen Grundsätze und Eckwerte, die ja mit Bedacht gewählt sind und unter makroökonomischen, also volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgewählt sind, dass man die apodiktisch enger fasst, um eine momentane Stimmung zu bedienen, sondern ich glaube, Finanzpolitik – und das hat die Erfahrung von Finanz- und Wirtschaftskrise gezeigt – ist immer gut beraten, wenn sie im Rahmen der bestehenden Regelungen (und das sind die verfassungsrechtlichen und die europäischen Regelungen) flexibel und schnell reagieren kann, ohne sich, wenn es notwendig ist, zunächst ideologische Diskussionen leisten zu müssen, ob man das, was man irgendwann mal aus einem Eifer heraus festgeschrieben hat, wieder revidieren kann.

    Streitpunkt Mindestlohn

    Engels: Ideologisch ist ein gutes Stichwort. Das hält Ihnen nämlich die Unions-Seite in Sachen Mindestlohn vor. Wir haben es gerade heute Morgen gehört: Die Linke der SPD will da konkrete Zahlen von mindestens 8,50 Euro erreichen. Nun ist das etwas, wo Experten ja vor einer Betroffenheit des Wachstums auch warnen, also möglicherweise mittelfristig auch Ausgaben, die Sie dann nicht tätigen können. Denken Sie, hier müsste die SPD doch ein wenig nachgeben?
    Kühl: Ich habe erstens den Eindruck, dass ein Mindestlohn bis weit, weit in die Reihen der Union hinein akzeptiert und gewollt ist. Es geht um die Form, wie man diesen Mindestlohn etabliert. Ich kenne übrigens viele Analysen, die nicht sagen, dass das wachstumsfeindlich sein muss, sondern im Gegenteil wachstumsstimulierend sein kann. Es gibt ja nicht nur die sogenannte Angebots-, sondern auch die Nachfrage-, also die konsumtive Seite. Und zum letzten – und deswegen sollte man auch immer einen nüchternen gesellschaftspolitischen Blick auf die Dinge werfen: Es geht hier auch um ein Stück Menschenwürde, wenn man arbeitet, das heißt darum, dass man, wenn man vollschichtig 40 Stunden arbeiten geht, dass man davon leben kann. Das sollte uns als Gesellschaft, als Politik wichtig sein, dass wir den Menschen, die 40 Stunden ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, dass die auch die Möglichkeit haben, davon zu leben. Das hat etwas mit würdigem Arbeitsleben und mit anständigem Umgang mit Menschen zu tun.
    Engels: In Ihrer Arbeitsgruppe, Herr Kühl, geht es auch um die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Dazu passt, dass heute der neue Bericht zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt wird, der aussagt, dass die Abwanderung von Ost nach West gestoppt ist. Verlangen Sie dann nach Auslaufen von den Solidarpakthilfen 2019 nun einen Solidarpakt West?
    Kühl: Zunächst ist das ja mal eine erfreuliche Entwicklung. Das war die Zielsetzung dieser Aufbau-Ost-Leistung und ich bin sehr optimistisch, dass das bis 2019 sich noch weiter in die richtige Richtung entwickeln wird. Und dann wird man gucken müssen, ob es mittlerweile in Deutschland, möglicherweise bedingt durch den schwierigen Finanzierungsprozess der vergangenen Jahre, in anderen Regionen Deutschlands Entwicklungen, Fehlentwicklungen gibt im infrastrukturellen Bereich, oder in den öffentlichen Haushalten, die korrigiert werden müssen.
    Ich vermute, wenn wir in Richtung Verkehrsinfrastruktur gucken, aber auch, wenn wir in die Verschuldung der kommunalen und Länderhaushalte in den westlichen Ländern in den letzten 20 Jahren schauen, dass es da Ansatzpunkte gibt, wo man entsprechende Zuschüsse oder Zuweisungen neu verwenden könnte, und deswegen bin ich auch hier für eine ideologiefreie, für eine pragmatische Diskussion. Etwas, was einmal erfolgreich war, sollte man möglicherweise nicht alleine aus ideologischen Gründen für die Zukunft Tabu erklären.
    Engels: Carsten Kühl war das, er ist Finanzminister von Rheinland-Pfalz, gehört der SPD an und ist Mitglied der Arbeitsgruppe Finanzen. Vielen Dank für das Gespräch.
    Kühl: Gerne.
    Carsten Kühl (SPD)
    Geboren 1962 in Lauterbach, Hessen. Studium der Volkswirtschaftslehre an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Promotion 1994. Seit Juli 2009 Finanzminister in Rheinland-Pfalz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.