Donnerstag, 28. März 2024

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Missbrauch
"In jeder Klasse sitzen zwei bis vier von sexueller Gewalt betroffene Kinder"

Der Fall Elysium zeige, dass Missbrauch nicht durch Mafia-Banden geschieht, sondern immer im sozialen Nahfeld beginnt, sagte Julia von Weiler von Innocence in Danger im Dlf. Man müsse sich der Realität stellen, dass wir überall von Mädchen und Jungen umgeben sind, die betroffen sind und Hilfe brauchen, sagte Weiler.

Julia von Weiler im Gespräch mit Daniel Heinrich | 08.03.2019
Die Geschäftsführerin von Innocence in Danger, Julia von Weiler.
Die Geschäftsführerin von Innocence in Danger, Julia von Weiler. (imago stock&people/Heinrich)
Daniel Heinrich: Am Telefon ist jetzt Julia von Weiler von Innocence in Danger, einer Nichtregierungsorganisation, die sich gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern positioniert. Guten Abend, Frau von Weiler.
Julia von Weiler: Guten Abend.
Heinrich: Lassen Sie uns kurz noch mal auf die "Eckdaten" – schlimmes Wort in dem Kontext – blicken. Knapp 112.000 Nutzer weltweit auf dieser ehemaligen Darknet-Plattform Elysium, Bilder und Videos zu sehen gewesen von Vergewaltigungen von Säuglingen, von Kleinkindern, Sodomie-SM-Darstellungen mit Mädchen und Jungen. – Sie sind von Berufswegen mit solchen Fällen konfrontiert. Aber wie erschrocken, wie schockiert waren Sie über die schiere Dimension dieses Falles?
von Weiler: Na ja, ehrlicherweise nicht so sehr erschrocken, weil wir schon ganz lange wissen, dass es solche Dimensionen gibt. Das sagen die Strafverfolger und auch Menschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Die sagen schon seit vielen Jahren, die Taten in den Darstellungen werden immer krasser, die Kinder werden immer jünger – schlicht, weil sie nicht über diese Taten sprechen können.
"Über das Darknet ist die Verbreitung enorm leicht"
Heinrich: Ist das Normalität?
von Weiler: Das wird tatsächlich immer normaler, weil es auch immer leichter wird zu produzieren, so zynisch das klingt, und weil natürlich über das Darknet die Verbreitung enorm leicht ist. Das, was dieser Fall besonders zeigt, ist, dass der Missbrauch nicht durch irgendwelche Mafia-organisierten Banden geschieht, sondern dass der Missbrauch wie immer eigentlich im sozialen Nahfeld beginnt, in der Familie, in der Kernfamilie, Vater, Stiefvater, Onkel, Tante, und dass dann aber dank der digitalen Technik und des Internets sich diese Menschen wahnsinnig gut zusammenfinden können, um eine so versierte Plattform zu gestalten. Das wäre vor 20 Jahren schlicht nicht möglich gewesen.
Heinrich: Das ist auf eine pervertierte Art und Weise ein Katalysator?
von Weiler: Absolut! – Absolut! – Und dadurch finden sich, wenn Sie so wollen, Menschen, die sich gegenseitig recht geben und sagen, ich habe das Recht, Kinder zu quälen, ich habe das Recht, mit Kindern zu machen was ich will, wann ich es will, wie ich es will, und ich habe das Recht, mich mit Gleichgesinnten zu verabreden, um noch härtere Taten zu planen.
"Strafverfolgungsbehörden können Situation nicht im Griff haben"
Heinrich: Ich habe, Frau von Weiler, bei der Vorbereitung auf das Interview gelesen: Es gibt eine Schätzung von den Vereinten Nationen und vom FBI. Knapp 750.000 Pedokriminelle weltweit, die online sind. Jetzt hat in Deutschland zum ersten Mal dieser Fall dazu geführt, dass deutsche Ermittler eine kinderpornographische Plattform dieses Ausmaßes auch abgeschaltet haben. Haben die Behörden da die Situation im Griff?
von Weiler: Ich glaube ehrlicherweise nicht, dass die Strafverfolgungsbehörden diese Situation im Griff haben können – schlicht, weil Kriminelle sich an kein einziges Gesetz halten müssen und wollen und tun, was sie wollen, und Strafermittler natürlich von Gesetzeswegen schon vor natürliche Schranken gestellt sind und Schwierigkeiten haben zu ermitteln, und das Darknet mit allen seinen Möglichkeiten, Quellen zu verschleiern, seinen Standort zu verschleiern, macht es einfach noch mal unendlich viel schwieriger.
Heinrich: Würden Sie denn sagen, dass sich die Verbrecher dort sicher fühlen können auf eine gewisse Art und Weise?
von Weiler: Ja, so sicher, wie man sich fühlen kann, wenn man sich organisierter Kriminalität hingibt. Am Ende des Tages stolpert man dann doch oft über irgendwie den Idioten, über den dann die Ermittler das Einfallstor gewinnen. In diesem Fall kam ja der Hinweis von australischen Strafverfolgern, die nämlich für eine Weile lang in Australien eine Plattform übernommen haben, weitergeführt haben, um an Konsumenten und auch Produzenten zu kommen, und die haben dann den entscheidenden Hinweis nach Deutschland gegeben. Das zeigt einfach auch, wie wichtig die internationale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden ist in diesem Bereich.
Heinrich: Kann dann nicht im Umkehrschluss die logische Folge lauten, dass die weltweite Vernetzung auch für die Strafverfolgungsbehörden ein Vorteil ist?
von Weiler: Absolut! – Ganz wichtig! – Wichtig ist eine gute Zusammenarbeit. Die braucht allerdings Personal und Ressourcen, meistens Geld und Material, gute Rechner, gute technologische Programme, aber einfach auch ausreichende Beamtinnen und Beamte, die unterwegs sein können, um zu recherchieren.
Heinrich: Ich höre durch, in Deutschland fehlt es da?
von Weiler: Es fehlt, glaube ich, tatsächlich weltweit daran. Es fehlt auch in Deutschland daran. Und das Phänomen ist einfach ein steigendes Phänomen. Auch das zeigt Elysium noch mal ganz besonders. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Fall in Staufen, über den im letzten Jahr wahnsinnig viel berichtet wurde, ein neunjähriger Junge, der von seiner Mutter und dem, wenn Sie ihn so nennen wollen, Stiefvater verkauft wurde über das Internet, das war ein Elysium-Fall. Das heißt, die digitalen Technologien machen da Dinge möglich an Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen, die uns ein bisschen die Schuhe ausziehen und wo wir uns wirklich gut aufstellen müssen und sehr viel mehr Ressourcen in die Strafverfolgungsbehörden geben müssen, als das bisher der Fall ist.
"Sexueller Missbrauch ist alltäglich gelebter Terror"
Heinrich: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass da noch nicht genügend passiert ist? Müssen da die nächsten Wochen "Bild"-Schlagzeilen rausgehauen werden? Müssen wir häufiger darüber berichten? Was muss da passieren?
von Weiler: Ich glaube tatsächlich, dass die Aufmerksamkeit beständig darauf bleiben muss. Wir sagen, sexueller Missbrauch ist alltäglich gelebter Terror von Kindern auch in Deutschland. In jeder Klasse sitzen zwei bis vier betroffene Kinder sexueller Gewalt, und zwar täglich. Wenn wir als Gesellschaft uns dieser Dimension nicht endlich mal anfangen zu stellen, dann werden wir in 20 Jahren wieder irgendwelche Aufarbeitungskommissionen brauchen, die uns erzählen, hätte man damals nur genauer hingeschaut, dann wäre das alles viel besser gewesen. Da müssen wir strenger sein und es braucht neben der "Bild"-Schlagzeile die vielen differenzierten Berichte und Auseinandersetzungen, und am Ende braucht es jeden einzelnen von uns, der aufwacht oder die aufwacht und genauer hinschaut und dann hoffentlich auch handelt, wenn sie Missbrauch vermuten.
"Wir sind von Mädchen und Jungen umgeben, die betroffen sind"
Heinrich: Die Differenzierung bringen wir dann hoffentlich rein. – Aber was würden Sie denn sagen, dass das immer noch nicht geschehen ist? Ich frage noch mal nach, weil eigentlich ist das ja, um den englischen Begriff zu gebrauchen, ein No Brainer, dass da was passieren muss.
von Weiler: Ja. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass wir uns nicht wirklich der Realität stellen wollen. Wir wollen denken, dass das ein amerikanisches oder ein thailändisches oder sonst wie Problem ist. Nicht in meiner Nachbarschaft, nicht in meiner Klasse, nicht in meiner Gegend. Das was wir uns auf gar keinen Fall vorstellen wollen, aber dass es eine Realität ist, der wir uns stellen müssen, ist, dass wir, wenn wir wissen, wir sind von Mädchen und Jungen umgeben, die betroffen sind von sexueller Gewalt, dann heißt das im Umkehrschluss sofort auch, wir sind umgeben von Männern und Frauen, die Mädchen und Jungen sexuell missbrauchen, und diesen Gedanken wollen wir nicht denken. Wir müssen uns aber der Realität stellen und wir müssen verstehen, dass Kinder in Not Hilfe brauchen und dass wir diejenigen sind. Jeder einzelne und jeder einzelne von uns sind diejenigen, die den ersten wesentlichen Schritt machen können für ein Kind aus einer solchen Situation heraus.
"Diese Dimension ist längst überall Realität"
Heinrich: Es gibt ja in Frankfurt, Frau von Weiler, die Staatsanwaltschaft, die diese Zentralstelle zur Ermittlung von Internet-Kriminalität aufgestellt hat. Müsste das deutschlandweit so funktionieren?
von Weiler: Die funktioniert tatsächlich deutschlandweit. In Deutschland ist es ja so, in dieser Zentralstelle kommen die Fälle aus dem Ausland an, und die schauen dann, welches Bundesland ist betroffen, und geben das weiter an die LKAs. Am Ende des Tages, wenn Sie es wirklich runterbrechen und wenn wir uns noch mal klarmachen, dass im Elysium-Fall jetzt auch ein Täter verurteilt wurde, der seine Kinder und Kinder von Freunden missbraucht hat, dann müssen die lokalen Polizeibehörden – und da zeigt Lügde gerade, dass das ein bisschen kompliziert zu sein scheint -, die lokalen Polizeibehörden, die lokalen Jugendämter, die lokale psychosoziale Versorgung, die muss sich darüber im Klaren sein, dass diese Dimension längst überall, nicht nur in Berlin, sondern auch in Lippe oder in Leese an der Weser, wo ich groß geworden bin, Realität geworden ist, und da müssen wir anfangen. Denn da sehen wir die Kinder, in dieser Schule, in diesem Kindergarten, bei diesem Jugendamt, und da müssen bereits die entscheidenden Hinweise fallen. Davon sind wir leider noch super weit entfernt, weil Menschen überfordert sind, weil sie nicht gut genug ausgebildet sind und weil am Ende des Tages, ich glaube, in Deutschland momentan 30.000 Stellen in Jugendämtern nicht besetzt sind.
Sexuelle Gewalt geht auch von Frauen aus
Heinrich: Sie hatten es vorhin im Gespräch erwähnt. Es waren auch Frauen beteiligt. Es ist nicht nur eine Sache, die Männer betrifft?
von Weiler: Nee! Sexuelle Gewalt durch Frauen ist nach wie vor, glaube ich, das letzte große Tabu, dem wir uns stellen müssen. Es gibt eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, die herausgefunden hat, dass knapp 50 Prozent, 46 Prozent der betroffenen Jungs von mindestens einem Missbrauch durch eine Frau berichten. Das ist kein Randphänomen und Frauen führen Kinder zu, Frauen missbrauchen auch strategisch und sadistisch, und Frauen sind im Übrigen auch in solchen Netzwerken durchaus ganz kluge strategische Strippenzieherinnen.
Heinrich: Im Falle Elysiums haben wir jetzt gehört, die Köpfe sind verurteilt, viele tausend Nutzer allerdings unbekannt. Für wie realistisch halten Sie es denn, dass man die oder zumindest einen Teil von denen auch noch drankriegt?
von Weiler: Ich glaube, dass die Strafverfolger sich alle Mühe geben, das zu bewältigen. 111.000 Kunden zu ermitteln, ist eine Mammutaufgabe, und das, was ich weiß von der Strafverfolgung in Deutschland, ist, dass bei jedem LKA in jedem Bundesland derzeit ein Rückstau von ungefähr zwei Jahren herrscht. Dann können wir anfangen, diese Rechnung aufzumachen, und wissen, wie lange und wie realistisch das sein kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.