
Der 9. Juni 2010 ist ein besonderer Tag für die Chicago Blackhawks. Erstmals nach 49 Jahren gewinnen sie wieder den Stanley Cup. Während Spieler und Verantwortliche jubeln, ist Kyle Beach zu tiefst verletzt. Der damals 20-jährige Nachwuchsspieler war nach eigener Aussage einen Monat zuvor, im Mai 2010, von Brad Aldrich, dem Video-Coach der Blackhawks, sexuell missbraucht worden, wie er diese Woche dem kanadischen Fernsehsender TSN sagte.
"Ich fühlte mich alleine und hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte. Als 20-Jähriger kannst du dir nicht vorstellen, in diese Situation gebracht worden zu sein - von jemandem, der dir eigentlich helfen und dich zu einem besseren Eishockeyspieler machen soll."
Die vereinseigenen Richtlinien zu sexueller Belästigung besagen, dass sämtliche Vorfälle diesbezüglich "sofort und gründlich" zu untersuchen seien. Obwohl Beach das Vorkommnis umgehend bei Al MacIsaac, dem Director of Hockey Administration gemeldet hatte und dieser ihm versicherte, die Angelegenheit an die Personalabteilung weiterzuleiten, passiert zunächst nichts.
Klage gegen Chicago Blackhawks
All das ist nachzulesen auf 107 Seiten des in dieser Woche veröffentlichten Ermittlungs-Berichtes des ehemaligen US-Staatsanwaltes Reid Schar. Diesen hatten die Blackhawks im Juni dieses Jahres mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragt, nachdem ein ehemaliger Spieler mit dem Pseudonym "John Doe" sie im Mai wegen der Vorkommnisse vor elf Jahren verklagt hatte. Am Mittwoch hat "John Doe" seine Identität öffentlich gemacht - als Kyle Beach.
Die Ergebnisse offenbaren, dass er bei den Blackhawks unter einem Klima der Gleichgültigkeit, des Wegschauens und Weghörens gelitten hat. Geschäftsführer Danny Wirtz: "Es ist eindeutig, dass den Führungskräften dieses Vereins 2010 die Leistungen des Teams wichtiger waren als alles andere. Nachdem sie über das mutmaßliche Verhalten von Aldrich gegenüber dem Spieler informiert wurden, ist drei Wochen lang nichts unternommen worden."
Den Ermittlungen zufolge, sind unter anderem Manager Stan Bowman und Trainer Joel Quenneville am 23. Mai 2010 über den Vorfall informiert worden. An jenem Tag hatten die Blackhawks das Stanley Cup-Finale erreicht. Laut Bowman soll Quenneville deshalb gesagt haben, dass er dafür jetzt keine Zeit habe. Auch niemand anderes aus der Führungsetage nahm die Sache ernst.
"Sein Leben schien ganz normal weiterzugehen"
So jubelte Brad Aldrich mit den Spielern beim Titelgewinn und war Tage später auch bei der Meisterschafts-Parade dabei. Ein Schock für Kyle Beach. "Mir war speiübel. Sein Leben schien ganz normal weiterzugehen. Als ich ihn mit dem Stanley Cup und auf der Parade sah, habe ich mich wie ein Nichts gefühlt. Es war, als hätte er Recht und ich Unrecht."
Aldrich’s Name ist sogar auf dem Stanley Cup eingraviert. Mitte Juni 2010 stellt die Blackhawks-Personalabteilung ihn vor die Wahl: entweder, er kündigt oder der Verein leitet eine Untersuchung ein. Aldrich geht, eine Anzeige gegen ihn wird nicht erstattet. So kann er anschließend unbelastet für den US-Eishockey-Verband und an High Schools arbeiten. 2013 bekennt er sich schuldig, im US-Bundesstaat Michigan einen 16-Jährigen sexuell missbraucht zu haben. Er bekommt eine neunmonatige Gefängnisstrafe und wird seitdem in Michigan als Sex-Täter geführt.
Für Bowman und Quenneville haben die Untersuchungs-Ergebnisse Konsequenzen gehabt. Bowman ist als Blackhawks-Manager zurückgetreten. Quenneville, seit 2019 Trainer der Florida Panthers, hat seinen Posten nach einer Anhörung bei NHL-Commissioner Gary Bettman, geräumt.
Auffällig ist, dass ehemalige Blackhawks-Profis, die ihre Karrieren beendet haben, sehr detaillierte Erinnerungen an die Vorkommnisse damals haben. Quenneville hingegen will erst in diesem Summer davon erfahren haben. Und auch die Stars seiner Blackhawks-Meistermannschaften von 2010, 2013 und 2015, Patrick Kane und Jonathan Toews, geben sich ahnunglos.
Kane will nichts gewusst haben
Er habe nichts gewusst, betont Kane und an angebliches Mobbing sowie homophobe Verunglimpfungen gegenüber Beach könne er sich nicht erinnern.
Kane spielt noch bei den Blackhawks, Kapitän Toews ebenso. "Rückblickend wünsche ich mir, wir hätten mehr für ihn tun können. Es soll keine Entschuldigung sein, aber die Wahrheit ist, viele von uns waren einfach darauf fokussiert, Eishockey zu spielen."
Kyle Beach hat jahrelang versucht, den Vorfall zu vergessen, nicht darüber zu reden - und seine seelischen Schmerzen zwischendurch mit Alkohol und Drogen betäubt. Er hat sich nicht nur von den Blackhawks im Stich gelassen gefühlt, sondern auch von der NHL und der Spielergewerkschaft.
Mittlerweile ist er 31 Jahre alt und spielt rund 7000 Kilometer von Chicago entfernt Eishockey, bei den Erfurt Black Dragons, in Deutschlands dritter Liga. "Meine Freundin und ich werden hier sehr gut behandelt. Das Management tut wirklich alles, damit wir uns sicher und dazugehörig fühlen. Und das ist etwas, was ich sehr zu schätzen weiß."
NHL-Boss Bettman will mit Beach reden, Don Fehr, Chef der Spielergewerkschaft, auch. Und die Chicago Blackhawks haben darum gebeten, den Namen Brad Aldrich vom Stanley Cup zu entfernen.