Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Missbrauchte Kinder
Wenn das Urvertrauen verloren geht

Nicht nur sexueller Missbrauch, auch massive Vernachlässigung oder Gewalterfahrungen im Krieg oder auf der Flucht können Kinder traumatisieren. Wie kann man das Trauma überwinden? Internationale Analytiker haben in Frankfurt neue Forschungsergebnisse und Förderungsprojekte vorgestellt und diskutiert.

Von Peter Leusch | 05.03.2015
    "Bei diesem Fangen-Spiel war etwas sehr Gehetztes dabei, Getriebenes, das war nicht dieses lockere Wir-fangen-uns-und-haben-Spaß-dabei, sondern da war noch eine andere Fantasieebene, die wir geteilt haben."
    Robert Müller, Pädagogikstudent an der Universität Frankfurt, schildert das besondere Spiel eines traumatisierten 6-jährigen Jungen.
    "Da wurde ein Dritter erfunden, diesem Dritten, diesem Wesen hatte er einen bestimmten Namen gegeben, ein bestimmtes Aussehen. Und vor diesem Wesen mussten wir praktisch flüchten. Da gab es bestimmte Räume, in die wir uns flüchten konnten, bestimmte Türme oder ein Labyrinth. Dann mussten wir manchmal leise sprechen, damit uns dieses Wesen nicht weiter verfolgen kann."
    Ängste und Abträume in Spiele verpackt
    In dieses Spiel hat der Junge seine Ängste und Albträume hineingepackt, über die er nicht sprechen kann. Robert Müller begleitet ihn seit drei Jahren. Der Student hat eine Patenschaft übernommen in einem Projekt zur Förderung psychisch gefährdeter Kinder, das das Sigmund-Freud-Institut gemeinsam mit der Universität Frankfurt ins Leben gerufen hat, erläutert die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen:
    "Das ist ein ganz konkretes Projekt, in dem die Studierenden einmal in der Woche - vor dem Übergang in die Schule und dann auch danach - sich mit dem Kind treffen, das Kind unterstützen und Gesprächsangebote liefern, Freizeit mit ihm erleben und ganz unterschiedliche Dinge machen."
    Kigru, ein Kürzel für Kindergarten-Grundschule, heißt das Projekt, weil es in einer kritischen Phase Unterstützung bieten will. Denn solche Übergänge seien insbesondere für psychisch gefährdete oder geschädigte Kinder problematisch, erklärt die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber. Das Projekt entsprang ihrer empirischen Studie in Frankfurt, an der 340 Kinder aus Stadtteilen mit prekären Lebensverhältnissen teilgenommen hatten.
    "Wir haben untersucht, was für Bindungstypen diese Kinder haben, und haben festgestellt, dass ein Drittel dieser Kinder den sogenannten desorganisierten Bindungstyp aufweist, das sind Kinder, die Traumatisierung erlebt haben, entweder selbst oder die Kinder schwer traumatisierter Eltern sind."
    Verlust des Urvertrauens durch Traumatisierung
    Die psychoanalytische Bindungsforschung, auf die sich Marianne Leuzinger-Bohleber spezialisiert hat, geht davon aus, dass jeder gesunde normal entwickelte Mensch als Kind ein Grundgefühl von Sicherheit in seinen Beziehungen und gegenüber der Welt gewonnen hat. Der Psychoanalytiker Erik Erikson nannte es das Urvertrauen, also die feste Hoffnung, dass man in der Not nicht allein ist, dass jemand da ist, der einem hilft.
    "In der Normalbevölkerung haben etwa 60 Prozent so einen sicheren Bindungstyp. Und jetzt bei desorganisierten Kindern, die hatten meist schwer traumatisierte Eltern, die selber keine Basissicherheit haben, kein Urvertrauen, sondern durch die traumatische Erfahrung ist das zusammengebrochen, und sie können den Kindern nicht etwas geben, was sie selber nicht haben. Also wenn die Kinder in Gefahr sind, wenn sie schreien, dann reagieren solche traumatisierten Mütter selber mit einer Überflutung von Angst und Panik. Das Kind hat dann die Erfahrung, wenn ich in Not bin, dann ist niemand da, im Gegenteil, dann fangen andere auch noch an zu schreien zu schlagen und so weiter."
    Die Traumatisierung kann die kindliche Psyche noch stärker zerrütten, sogar die Identität zerreißen, wenn zum Beispiel die frühkindlichen Beziehungen durch sexuellen Missbrauch vergiftet sind.Die klinische Psychologin Siri Gullestad von der Universität Oslo berichtete von einer Patientin mit dissoziativer Persönlichkeitsstörung. Sie war als kleines Mädchen von ihrem Vater missbraucht worden.
    "Es ist ein psychischer Mechanismus, den wir Dissoziation nennen. Das bedeutet, dass man einen Teil seiner Erfahrungen abspaltet, die gehören zu einem ersten Selbst. Es gibt andere Selbst, mehrere Selbst existieren parallel. Verständlich wird das, wenn man sich vor Augen ruft: Ein kleines Mädchen, fünf Jahre alt, wird vom eigenen Vater vergewaltigt, diesen Vater muss sie am nächsten Tag zum Frühstück treffen, also es ist ein Schutzmechanismus, dasjenige Selbst abzuspalten, das bei der Vergewaltigung, beim brutalen sexuellen Missbrauch dabei war. Das ist ein anderes Selbst sozusagen."
    Massive Verletzungen der kindlichen Psyche
    Aber nicht nur solche massiven Verletzungen der kindlichen Psyche können dauerhaften seelischen Schaden anrichten, auch soziale Verhältnisse bilden Risikofaktoren für die psychische Gesundheit. In ihrem Vortrag über Trauma und Armut benutzt die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen einen sehr weiten Begriff von Traumatisierung.
    "Traumatisierung geht einher, wenn die Würde und die Integrität von Kindern verletzt wird, wie das dann jeweils wirkt, kann ganz unterschiedlich sein, wenn die Integrität des Kindes durch Mobbing in der Schule, durch Gewalterfahrungen unter Peers massiv verletzt wird. Welche Möglichkeiten hat ein Kind, das was es erlebt, zur Sprache zu bringen? Hat eine Mutter, hat ein Vater die psychosozialen Ressourcen, um zu erkennen, mit meinem Kind stimmt etwas nicht."
    In der interdisziplinären Diskussion wird eine Bandbreite traumatisierender Bedingungen sichtbar: Von den prekären sozialen Verhältnissen über gestörte frühkindliche Beziehungen bis hin zu offener Gewalt und sexuellem Missbrauch. All dem sind Kinder ausgesetzt. Gleichwohl sind Kinder auch stark und halten sehr viel aus. Die jüngere Forschung betont ihre innere Widerstandsfähigkeit, ihre Resilienz. Aber der norwegische Psychoanalytiker Serre Varvin von der Universität Oslo, der mit traumatisierten Flüchtlingen arbeitet, warnt: Resilienz sei kein Wundermittel des Einzelnen, sodass man die Gesellschaft aus der Verantwortung entlassen könnte:
    "Gewöhnlich wurde Resilienz als ein Merkmal der Persönlichkeit verstanden. Aber jetzt zeigt eine Untersuchung: Resilienz ist da, weil es eine Interaktion mit der Umgebung gibt. Flüchtlinge haben das Potenzial Resilienz zu entwickeln und beides zu managen: Ihre Probleme genauso wie ihr Leben, wenn die Bedingungen gut genug sind. Aber wenn diese Bedingungen schlecht sind, was oft in Asylheimen der Fall ist. Dann werden die Widerstandskräfte nicht wirksam. Also Resilienz ist eine Art Schlüsselbegriff, aber er hat vielleicht mehr mit uns zu tun als mit den Flüchtlingen."