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Moira Frank: "Nachtschwärmer"
17 verpasste Jahre

17 Jahre lang haben Helena und ihr Halbbruder Lukas gleichzeitig auf der Welt gelebt, ohne voneinander zu wissen. Drei Wochen nachdem sie sich auf Facebook gefunden haben, ist Lukas tot. Helena reist in eine fremde Vergangenheit und gewinnt dabei eine neue Erkenntnis über sich selbst.

Von Verena Specks-Ludwig | 28.09.2019
Buccover Moira Frank: „Nachtschwärmer“
Queere Figuren, wie bei Moira Frank, sind immer noch selten in der deutschsprachigen Jugendliteratur (Buchcover cbj Verlag)
"Als mein Halbbruder starb, kauerte ich 90 Kilometer entfernt vor dem Klo und wartete darauf, mich endlich zu übergeben. Ich war schon im Bett gewesen und dann doch noch mal aufgestanden, ungefähr in dem Moment, als Lukas am anderen Ende von Brandenburg den Reißverschluss seiner Jacke zuzog, die Tür des Gartenhäuschens schloss und seinem Tod entgegen ging."
Als die 17-jährige Helena vom Tod ihres Halbbruders Lukas erfährt, versucht sie nachzufühlen, ob sie den Moment, als es passierte, irgendwie realisiert hat. Helena ist die Hauptfigur und Ich-Erzählerin in Moira Franks Roman "Nachtschwärmer". Sie hat Lukas nie getroffen. Erst seit ein paar Wochen wusste sie überhaupt, dass sie einen Halbbruder hat. Er hatte sie auf Facebook gefunden und kontaktiert. In der Nacht, in der Lukas von einem Auto überfahren wird, hat Helena einfach nur panische Angst vor einer Mathe-Arbeit:
"Ich ahnte nichts. Ich fühlte keine wissenschaftlich unerklärliche kosmische Verbindung zwischen uns reißen. Dabei überfiel es mich seit drei Wochen ständig unpassend aus heiterem Himmel, die stromschlagartige Erkenntnis, dass ich jetzt einen Bruder hatte, dieser absolute helle Wahnsinn, und dass ich ihn treffen würde und mein ganzes Leben sich dadurch ändern würde."
Ein Leben voller ungenutzter Chancen
17 Jahre lang haben Helena und ihr Bruder nur etwa 120 Kilometer voneinander entfernt gelebt. Helena mit ihrem Vater in Berlin - und Lukas mit seiner Familie in der Uckermark. Helena ist ohne die gemeinsame Mutter aufgewachsen. Die hatte Helena als Baby beim Vater zurück gelassen und seitdem nie mehr Kontakt zu ihrem Kind aufgenommen. Jetzt ist Lukas tot, und ein Leben voller ungenutzter Chancen scheint an Helena vorbeigezogen zu sein. Das ist die Ausgangssituation in Moira Franks Roman. Die Ich-Erzählerin beschreibt sie so packend, dass man als Leser unbedingt wissen will, wie sie damit umgeht.
Helena versteckt ihren Schmerz vor allen anderen. Und das nicht, weil sie keiner verstehen würde. Die Autorin hat ihrer Hauptfigur eine starke Persönlichkeit gegeben, ein wenig borstig und zugleich sympathisch. Eine selbstbewusste junge Frau, die auch ohne Mutter glücklich groß geworden – aber eben, was ihre Gefühle angeht, sehr verschlossen ist.
Helena hat niemandem von Lukas erzählt. Zuerst, weil sie sie ihn für sich haben wollte. Drei Wochen lang haben sie telefoniert und sich Nachrichten geschrieben. Für die Sommerferien hatten sie sich verabredet. Als Helena dann von seinem Tod erfährt, ist sie wie gelähmt und schafft es nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Nicht ihren Freundinnen, nicht ihrem Freund, nicht ihrem Vater und seiner Frau. Sie zieht sich immer mehr zurück, und alle schieben das auf Helenas Mathe-Panik, den Lernstress und darauf, dass sie zu wenig isst.
Eine Art Roadnovel
Am Ende des Schuljahrs ist klar, dass sie sitzen bleibt. Und da beschließt Helena, sich auf die Suche zu machen. Sie will sehen, wo Lukas gelebt hat. Sie überredet ihren Freund zu einem Camping-Trip in der Uckermark, allerdings ohne ihm zu sagen, warum sie da hinwill. Vor Ort fängt sie an, auf eigene Faust nach Spuren einer Vergangenheit zu suchen, die vielleicht auch ihre hätte sein können. Dabei lernt sie die besten Freunde ihres Halbbruders kennen: den schönen, scharfzüngigen Victor, den immer angetrunkenen Mike und Clara, zuerst abweisend, aber bald auf ihre einsilbige Art sehr einfühlsam. Zu viert sind sie in Mikes Auto unterwegs. Die Geschichte wird dabei zu einer Art Roadnovel. Moira Frank beschreibt, wie die Jugendlichen sich näher kommen.
Dabei ist ihre Sprache untereinander zum Teil sehr derb. Daran werden sich manche Leser stören: Ausdrücke wie "die Fresse polieren", "Wichser" oder "Spast" mögen Jugendsprache authentisch wiedergeben – sie häufen sich aber stellenweise im Buch. Und dabei werden leider auch ein paar Klischees produziert: über die Rückständigkeit in der ostdeutschen Provinz und über ihre Bewohner, die eingeteilt werden in Nicht-Nazis und Nazis, die sich Deutschlandfahnen in den Vorgarten hängen oder ihren Pferden sprechende Namen geben.
"'Auf dem da habe ich reiten gelernt', sagte Viktor und deutete auf das graue. 'Stalin'. ,Stalin?' - 'Klar, kannst ja nicht den Grauen Hitler nennen.'
Diesmal war ich sicher, dass er mich verarschte.
'Wir sind in Brandenburg, Baby. Egal, ob dein Hund oder dein Pferd braun ist, du nennst ihn besser wie den guten alten Führer. Und wenn du ein richtiger deutscher Vorzeigebürger bist, dann bringst du ihm den Hitlergruß bei.'"
Ob Moira Frank hier ein authentisches oder ein überzogenes Bild zeichnet, sei dahingestellt. Mit ihren Figuren geht sie viel weniger plakativ um, die gewinnen immer wieder neue Facetten hinzu. Und das macht den Roman so lebendig. Die Handlung plätschert ab der Mitte etwas dahin. Darüber kommt man als Leser aber hinweg, weil man wissen will, welche Geheimnisse die Figuren noch preisgeben. Allen voran die verschlossene Clara, mit der Helena sich anfreundet.
"Der Blitz musste irgendwo eingeschlagen haben. (...) Clara lachte. Ich hörte sie nicht, weil der Regen über uns rauschte und schon wieder Donner kam, aber ich sah sie ja. Sie lehnte sich mit ihrem Bier zurück und sah mich an, erwartungsvoll mit leuchtenden Augen, als hätte sie mir etwas gezeigt, das ich noch nie gesehen hatte. Und irgendwie hatte sie das. Ich hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper Meine Kopfschmerzen hatte ich vergessen".
Suche nach Identität
Moira Franks Stärke liegt in atmosphärischen Szenen. "Nachtschwärmer" ist ein Roadtrip mit dem Weg als Ziel. Und dass sich auf diesem Weg zwei Mädchen ineinander verlieben, kommt wunderbar unaufgeregt und überhaupt nicht plakativ daher. Es ist ein Thema dieses Buches, nicht das Thema. Lesbische Liebe oder queer sein steht nicht im Mittelpunkt. Es geht darum, neue Gefühle zu entdecken - nicht für ein Geschlecht, sondern für eine Person. "Nachtschwärmer" erzählt von der Suche nach Identität: Wo komme ich her? Was fühle ich und wen macht das aus mir?
Dabei macht sich Moira Frank mit ihren queeren Figuren für ein Thema stark, das in der deutschen Jugendliteratur immer noch selten vorkommt. Aber ihr Roman ist kein sozialpolitischer Appell, sondern eine einfühlsame Coming-of-Age-Geschichte.
Moira Frank: "Nachtschwärmer"
cbj Verlag, München. 400 Seiten, 17 Euro. Ab 14 Jahren