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BGH erklärt Urteile für rechtskräftig
Die Hintergründe zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke

Der Rechtsextremist Stephan Ernst wurde 2021 für den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zu lebenslanger Haft verurteilt. Viele Fragen blieben im Prozess offen. Der Bundesgerichtshof hat die Urteile nun für rechtskräftig erklärt.

Von Ludger Fittkau |
Ein Hinweisschild mit Bundesadler und dem Schriftzug "Bundesgerichtshof", aufgenommen vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Der Dritte Strafsenat verhandelt über die Revisionen von Bundesanwaltschaft, Angeklagten und Nebenklägern, rund drei Jahre nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke.
Der BGH überprüft die Revisionen zum Urteil im Mordfall Lübcke (picture alliance / dpa / Uli Deck)
Am 1. Juni 2019 wurde der damalige Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) spätabends auf der Terrasse seines Hauses aus nächster Nähe erschossen. Als Mörder verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main im Januar 2021 den Rechtsextremisten Stephan Ernst. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein aktiver Politiker von einem rechtsextremen Täter ermordet.

Das erste Urteil im Fall Lübcke

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verurteilte den Rechtsextremisten Stephan Ernst im Januar 2021 wegen Mordes an Walter Lübcke zu lebenslanger Haft, stellte die besondere Schwere der Schuld fest und behielt die Sicherungsverwahrung vor. Damit ist eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren rechtlich zwar möglich, in der Praxis aber so gut wie ausgeschlossen. Ernst wurde gleichzeitig von dem Vorwurf freigesprochen, 2016 einen Asylbewerber mit einem Messer hinterrücks angegriffen und schwer verletzt zu haben. Der Mitangeklagte Markus H. wurde in Frankfurt vom Vorwurf der psychischen Beihilfe zum Mord freigesprochen und nur wegen eines Waffendelikts verurteilt.
Bei der Verhandlung wurde deutlich, dass wesentliche Fragen für Anklage und Nebenkläger - die Familie Lübcke und der angegriffene Asylbewerber - noch offen sind. So äußerte Ernst sich bei den Vernehmungen in Frankfurt unterschiedlich zu einer möglichen Beteiligung von H. an der Tat. Auch wie eine DNA-Spur von Ernst an Lübckes Hemd gekommen war, konnte das Gericht nicht aufklären. Außerdem geht es um ein oder mehrere Messer. Bei Ernst wurde nämlich ein zum Dolch geschliffenes Messer gefunden, an dem sich Restspuren befanden, die zu dem attackierten Asylbewerber passen könnten. Das Oberlandesgericht kam aber zu der Überzeugung, dass es sich nicht um die Tatwaffe handle. Denn Ernst hatte einen Kaufbeleg für dieses Messermodell eingescannt und auf einem USB-Stick gespeichert. Demnach kaufte er das Messer erst nach der Tat.

Die Angeklagten im Fall Lübcke

Das Oberlandesgericht ging in seinem Urteil davon aus, dass der heute 48-Jährige Stephan Ernst allein und heimtückisch gehandelt und Lübcke aus seiner rechtsextremen Gesinnung heraus erschossen hatte. Er soll dessen Flüchtlingspolitik abgelehnt haben. Er habe seinen Fremdenhass zunehmend auf Lübcke projiziert, seit sich dieser Jahre zuvor auf einer Bürgerversammlung für die Aufnahme von Flüchtlingen stark gemacht hatte.

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Der zweite Angeklagte, Markus H., ist ein Freund von Ernst aus der rechten Szene. Er kam bereits im Oktober 2020 frei. Die Familie Lübcke und die Bundesanwaltschaft gehen jedoch weiter davon aus, dass der heute 46-Jährige eine wesentlich zentralere Rolle spielte, Ernst bei seinem Vorhaben unterstützte und psychisch Beihilfe leistete. Er habe mit Ernst schießen geübt und ihn in seinem Willen zur Tat bestärkt. Ernst hatte seine Aussage mehrfach geändert und H. zeitweise beschuldigt, mit ihm bei Lübcke gewesen zu sein und - in einer Version - sogar die Waffe gehalten zu haben. H.s Verteidiger Björn Clemens räumte ein, dass an der rechten Gesinnung seines Mandanten kein Zweifel bestehe. "Aber das ist noch keine Beihilfe zum Mord." Wenn jemand - wie Ernst - schon zur Tat entschlossen sei, könne auf ihn gar nicht mehr eingewirkt werden.

Die Revision im Fall Lübcke

Drei Jahre nach dem Mord verkündete der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe am 25. August 2022 sein Urteil über die sechs Revisionen, die von den Angeklagten, der Familie und dem Generalbundesanwalt - also von allen Seiten - eingelegt wurden. Er erklärte alle Urteile für rechtskräftig.
Die Angeklagten Ernst und H. hatten sich gegen ihre Verurteilung, die Bundesanwaltschaft gegen die Teilfreisprüche gewandt. Die Familie Lübcke hatte beantragt, den Prozess gegen H. noch einmal aufzurollen. Das Opfer der Messerattacke hatte den Teilfreispruch für Ernst angegriffen. Die Bundesanwaltschaft und die Anwälte der Nebenklage hatten vor dem BGH bemängelt, dass das Oberlandesgericht zahlreiche Umstände außer Acht gelassen habe. Der Vorsitzende Richter des dritten Strafsenats des BGH, Jürgen Schäfer, sprach von einer "fehlerfreien Beweiswürdigung" des OLG Frankfurt am Mains - sowohl mit Blick auf die Schuldsprüche als auch auf die Freisprüche.
Der BGH kann selbst nichts zur Aufklärung des konkreten Falls beitragen: Er erhebt keine Beweise, sondern überprüft Urteile von Vorinstanzen auf Rechtsfehler. Wenn er Fehler findet, kann er ein Urteil allerdings aufheben und zur Neuverhandlung an das Oberlandesgericht zurückverweisen.
Quellen: dpa, afp, OLG Frankfurt, BGH, og

Manuskript der Hintergrund-Sendung "Die Fehler des hessischen Verfassungsschutzes" vom 15.5.2021

Die Lobby vor dem Plenarsaal des Landtages Wiesbaden vor wenigen Wochen. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke beginnt mit der Anhörung von Sachverständigen. Mehrere Stunden lang befragen die Abgeordneten zunächst Joachim Tornau. Der Journalist beobachtet seit zwei Jahrzehnten die Neonazi-Szene in Nordhessen, aus der der Lübcke-Mörder Stephan Ernst stammt. Die Abgeordneten fragen den Sachverständigen im Laufe der Anhörung auch danach, wie er die Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes in diesem Feld bewerte.
Joachim Tornau äußert sich kritisch: "Man hat immer ein bisschen den Eindruck, wenn man Anfragen stellt, dass man die in eine Wagenburg richtet und eigentlich nicht richtig viel rausdringt und herausdringen soll. Es dauert sehr lange, bis Anfragen beantwortet werden, und meistens steht da nichts drin. Das ist ein sehr wiederkehrendes Motiv. Das mag manchmal auch tatsächlich rechtliche Gründe haben, Datenschutz, Persönlichkeitsrechte, ja. Aber es macht zumindest den Eindruck, als würden diese rechtlichen Vorgaben auch immer maximal weit ausgedehnt, um möglichst wenig sagen zu müssen."

Vorwurf: Verfassungsschutz geht Hinweisen nicht nach

Das sei etwa beim Verfassungsschutz im benachbarten Nordrhein-Westfalen ganz anders, betont Joachim Tornau. Dort erlebe er als Fach-Journalist zum Themenfeld Rechtsradikalismus deutlich mehr Kooperationsbereitschaft. In Hessen gehe der Verfassungsschutz oft handfesten Hinweisen nicht nach, die seine Kolleginnen und Kollegen und er nach Investigativ-Recherchen zur nordhessischen Neonazi-Szene an den Inlandsgeheimdienst weiterreichten.
Christian Heinz (CDU, r), Vorsitzender im Lübcke-Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag, unterhält sich vor Sitzungsbeginn mit dem Sachverständigen, dem Journalisten Joachim Tornau aus Kassel. Bei der ersten öffentlichen Ausschusssitzung zum Mordfall Lübcke und möglichen Behördenpannen sollen vier Experten zur nordhessischen Neonaziszene gehört werden. Der Kasseler Regierungspräsident war 2019 getötet worden.
Lübcke-Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag: Joachim Tornau (l) am Rande seiner Befragung (picture alliance/dpa/dpa/POOL | Arne Dedert)
Das kritisiert Joachim Tornau aktuell im Wiesbadener Landtag: "Sei es die Kasseler Burschenschaft Germania oder auch eben die Pegida-Bewegung in Kassel - genannt Kagida. Da haben wir durchaus ausführlich über das Personal, das da unterwegs ist, unterwegs war, geschrieben und die rechtsextremen Verbindungen aufgezeigt, das rechtsextreme Engagement eindeutig klargemacht - es handelt sich hier um rechtsextreme Strukturen. Und wenn man einen Antrag beim Landesamt für Verfassungsschutz stellt, kommt eigentlich nur die Antwort: 'Nein, die beobachten wir nicht. Wir sehen da nicht, dass das irgendwie rechtsextrem dominiert wäre. Das ist kein Thema für uns.' Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, ein bisschen mehr Interesse für die Fälle, wo man ihnen sozusagen die Arbeit abnimmt, würde ich mir schon wünschen."
Während des Mordprozesses zum Fall Lübcke sprach Holger Matt, der Anwalt der Familie des Opfers, gar von einem "Komplettversagen der Verfassungsschutzbehörden" im Vorfeld der Mordtat vor zwei Jahren. Viele Fragen zu der Arbeit der Sicherheitsbehörden blieben im Prozess offen – sie sollen in den nächsten Monaten im Untersuchungsausschuss geklärt werden.
Die Statistik zeigt die Anzahl der Straftaten und Gewalttaten mit rechtsextremistisch motiviertem Hintergrund in Deutschland in den Jahren von 2010 bis 2021
Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 945 Gewalttaten mit rechtsextremistisch motiviertem Hintergrund verübt (Bundeskriminalamt / BMI)
Präsident des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz ist der 62 Jahre alte Robert Schäfer. Der gelernte Polizist stammt aus dem osthessischen Bad Hersfeld und war zuletzt Polizeipräsident in Wiesbaden gewesen, bevor er die Leitung des hessischen Inlandsgeheimdienstes übernahm. "Ich bin jetzt sechs Jahre hier und gerade nach den schlimmen Morden des NSU und jetzt natürlich auch nach dem katastrophalen Mord an Dr. Walter Lübcke hat sich natürlich eine ganze Menge verändert hier im Landesamt."

Der Mord an Halit Yozgat

Bereits nach dem Kasseler NSU-Mord an Halit Yozgat vor 15 Jahren war der hessische Inlandsgeheimdienst massiv in die Kritik geraten. Jahrelang beschäftigte sich auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit der Rolle, die die Sicherheitsbehörde beim Tatgeschehen in Kassel gespielt hatte. Denn damals war der Verfassungsschützer Andreas Temme nur wenige Sekunden vor dem Mord am Tatort gewesen. Der Beamte, der seinerzeit für Rechtsextremismus in Nordhessen zuständig war und als V-Mann-Führer agierte, will aber vom NSU-Mord nichts mitbekommen haben. Eine Aussage, die quer durch alle Landtags-Fraktionen bis heute als unglaubwürdig angesehen wird.
Der Abgeordnete Hermann Schaus (Die Linke) blickt zu Beginn der Sitzung des Lübcke-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag in seinem Aktenordner mit der Aufschrift "Lübcke-Ausschuss UNA 20/1". In seiner zweiten öffentlichen Sitzung wird der Untersuchungsausschuss erneut Sachverständige anhören. Der Ausschuss soll die Rolle der hessischen Sicherheitsbehörden im Mordfall Walter Lübcke aufarbeiten. Der Kasseler Regierungspräsident war 2019 getötet worden.
Der Abgeordnete Hermann Schaus (Die Linke) im Lübcke-Untersuchungsausschuss (picture alliance/dpa/dpa/POOL | Arne Dedert)
Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion und stellvertretender Vorsitzender des aktuellen Lübcke-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag: "Temme ist und bleibt dubios, er hatte ja auch Kontakte, das wissen wir aus den NSU-Untersuchungen, auch in die Szene rein. Und zwar nicht nur über V-Leute, die er betreute, sondern auch sozusagen über privates Umfeld. Ja, da ging es um Schießtrainings, da geht es um Kontakte auch zu Hells Angels zum Beispiel, das Milieu. Bis hin zu bekannten Größen aus der Neonazi-Szene."

Während die langjährige Rolle des ehemaligen hessischen Verfassungsschützers Temme bis heute im Landtag sehr kritisch gesehen wird, findet die Arbeit des heutigen hessischen Verfassungsschutzchefs Robert Schäfer Anerkennung in der Politik. Zumindest bei den Wiesbadener Regierungsfraktionen CDU und Grüne sowie bei der größten hessischen Oppositionspartei SPD.
"Und weil dann der Innenminister und die CDU gleich sagen wird: Wir misstrauen den Leuten im Verfassungsschutz. Wir sind froh, dass es heute auch einen anderen Präsidenten des Verfassungsschutzes gibt als zu Zeiten der NSU-Mordserie", sagt Günter Rudolf, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion.
Hessen, Wiesbaden: Die Mitglieder des Lübcke-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag haben ihre Plätze im Plenarsaal eingenommen.
Sitzung des Lübcke-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag (Arne Detert/dpa/POOL)
Auch Christian Heinz, der CDU-Vorsitzende des aktuellen Wiesbadener Landtags-Untersuchungsausschusses zum Mord an Walter Lübcke, lobt die heutige Leitung des hessischen Inlandsgeheimdienstes. Anders als noch im April 2006, als Halit Yozgat in Kassel vom NSU ermordet wurde, werde nun der Kampf gegen Rechtsextremismus im hessischen Verfassungsschutz entschlossener geführt, so Christian Heinz in einer Landtagsdebatte:
"Dessen Präsident, Robert Schäfer, macht aus meiner Sicht eine hervorragende Arbeit. Seit vielen, vielen Jahren weist er immer wieder auf die Bedrohung durch den Rechtsextremismus hin, in jeder öffentlichen Stellungnahme. Und auch er selbst als Person ist sehr glaubwürdig in dieser Frage und hat alles in seiner Macht stehende auch getan darauf hinzuwirken, dass dieser Bereich gestärkt wurde."

Kritische Aufarbeitung der Vergangenheit

In der Tat: Als Robert Schäfer sein Präsidentenamt 2015 übernahm, gab es im hessischen Verfassungsschutz noch keine eigenständige Abteilung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Es gab kein wissenschaftliches Personal, kaum erfahrene Kriminologinnen und Kriminologen. Dementsprechend war die "Analysefähigkeit" des hessischen Verfassungsschutzes arg begrenzt, räumt Robert Schäfer heute ein.
"Als ich das Amt hier übernommen habe, da waren wir round about 250. Jetzt, zum Jahresanfang 2020/21, haben wir 381 Planstellen. Das ist ein deutlicher Zuwachs. Und daran wird auch deutlich, wie die Prioritäten gesetzt wurden. Und daran wird auch deutlich, dass wir das Personal brauchen."
Vor dem politischen Blick auf die Zukunft des Verfassungsschutzes in Hessen kommt jedoch die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit des Inlandsgeheimdienstes. Die beginnt nun im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Es geht letztlich auch um die Frage: Hätte das Verbrechen verhindert werden können, wenn vor allem der Verfassungsschutz besser funktioniert hätte?
Stefan Müller, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion im hessischen Landtag: "Man muss sehen, wo sind Fehler auch in den Abläufen und Strukturen? Damit wir dann besser werden können und das Leben und auch die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Hessen besser schützen können."

Verhängnisvoller Irrtum

Fehler – die gab es offensichtlich beim Verfassungsschutz im Vorfeld des Mordfalls Lübcke. So wurde Stephan Ernst, der inzwischen verurteilte Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten, zwar jahrelang beobachtet. Noch 2009 war Ernst in einem Vermerk vom Leiter des hessischen Inlandsgeheimdienstes als "brandgefährlich" bezeichnet worden.
Doch Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, schilderte nach der Verhaftung Ernsts 2019, dass dieser zuvor nicht mehr als auffällig galt: "Zehn Jahre war er praktisch aus unserer Wahrnehmung - damit ist nicht gesagt, dass nichts war - aber in unserer Wahrnehmung unauffällig. Insofern wurde er von uns aktuell nicht mehr schwerpunktmäßig bearbeitet."
Das war ein verhängnisvoller Irrtum – dies weiß auch der hessische Verfassungsschutzchef Robert Schäfer. Inzwischen fanden seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei nochmaliger Überprüfung der Akten beispielsweise ein Foto, das Stephan Ernst noch 2011 bei einer Veranstaltung der rechtsextremen Schlüsselfigur Thorsten Heise in Thüringen zeigt.
Zwei ältere Männer in Anzug stehen in einem Raum.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (r), CSU, und Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, stellen am 9.07.2020 in Berlin den Verfassungsschutzbericht 2019 vor. (imago images/photothek/Thomas Imo)
Robert Schäfer: "Dieses Bild ist bei uns hier gefunden worden, weil wir eine Sondergruppe eingerichtet haben. Und die Damen und Herren, die darin gearbeitet haben, haben akribisch jedes Blatt gedreht und durch die neuen Bilder konnte das dann zugeordnet werden. Das bedauern wir sehr, dass das im Jahr 2011 nicht erfolgt ist."
Warum damals nicht akribisch genug gearbeitet wurde – Schäfer führt das letztlich auf die mangelhaften Strukturen des hessischen Verfassungsschutzes noch vor einem Jahrzehnt zurück. Wenn genau hingeschaut worden wäre – der spätere Lübcke-Mörder Stephan Ernst wäre wohl mindestens bis 2016 weiter beobachtet worden. Erst dann wäre die nächste Überprüfung fällig geworden. Da war Robert Schäfer dann schon im Amt. Doch hätte die Analysefähigkeit des Inlandsgeheimdienstes bereits zu diesem Zeitpunkt ausgereicht, um den Mord zu verhindern?
Der hessische Verfassungsschutzchef bleibt in dieser Frage zurückhaltend: "Wir haben ja gerade nach dem Mord an Dr. Walter Lübcke, der mich persönlich zutiefst getroffen hat, die Arbeitsweise und die Analyse noch mal deutlich verändert. Und ja, wir haben eine ganze Reihe von Personen, die seit langer Zeit gar nicht mehr in Erscheinung treten, die in der Realwelt nicht mehr sichtbar werden. Und da haben wir jetzt analytisch darauf reagiert. Und legen dabei besonderes Augenmerk auf ein schlummerndes, vorhandenes Radikalisierungspotenzial, um ergründen zu können, ob sich das entwickelt und wenn ja, wie sich das entwickelt. Und das muss in der Analyse herausgearbeitet werden."

Fehlerhafte Analysen?

Rechtsextrem zu sein - das war in der nordhessischen Szene in den vergangenen Jahrzehnten bei vielen Szenemitgliedern nichts, "was sich auswächst". So wörtlich der Journalist Joachim Tornau als Sachverständiger vor dem Lübcke-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags. Die Einschätzung des Verfassungsschutzes, der Lübcke-Mörder Ernst habe sich zwischenzeitlich "abgekühlt", sei ein Symptom für die zumindest vor einem Jahrzehnt noch sehr fehlerhafte Analyse des Verfassungsschutzes gewesen.
"Ich habe das an ein paar Beispielen deutlich gemacht, dass es eine Menge Personen gibt, die da einfach durchgängig über 20 Jahre aktiv sind, aktiv waren. Vielleicht irgendwann mal etwas weniger im Vordergrund, aber sich nie wirklich distanziert haben, immer dabeigeblieben sind und die hätten jederzeit wieder mehr in den Vordergrund treten können. So wie Stephan Ernst und Markus H. das dann auch getan haben."
Der bekannte Rechtsextremist Markus H. war im Ende Januar beendeten Lübcke-Mordprozess in Frankfurt am Main der Beihilfe zum Mord angeklagt. Er wurde in erster Instanz freigesprochen, weil ihm die direkte Beihilfe nicht nachgewiesen werden konnte. Unter anderem der Generalbundesanwalt hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Das Verfahren läuft noch. Doch auch wenn eine hohe personelle Kontinuität der hessischen Neonazi-Szene auffällt.
Der Sachverständige Joachim Tornau ist sich mit dem Verfassungsschutz darüber einig, dass sich die Organisationsstrukturen der hessischen Neonazi–Szene in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder verändert haben: "Es gab und gibt immer sehr fließende Übergänge zwischen den verschiedenen Strukturen, verschiedenen Organisationen. In den Nuller-Jahren sehr fließenden Übergang und Personal-Identität zwischen NPD und der freien Kameradschafts-Szene zum Beispiel. In der Gegenwart ist es alles noch mal ein bisschen fluider geworden. Da finden sich dann die Pegida-Bewegung, die auch eine Kasseler Dependance hatte zeitweilig, oder auch die AfD als neues Dach oder als neue Heimat für etliche der alten Kader, die da immer schon unterwegs waren."

Die Zahl der gewaltbereiten Neonazis

Den hessischen Verfassungsschutz überrascht die Zahl von etwa 100 gewaltbereiten Rechtsextremen in Nordhessen nicht, die der Sachverständige Tornau im Landtag nennt. Das betont Robert Schäfer, der Präsident der Sicherheitsbehörde. Auf ganz Hessen bezogen sei die Zahl sogar noch deutlich höher: "Wir sagen, wir haben in Hessen etwa 800, 840 gewaltorientierte Rechtsextremisten. Das ist ein großes Potenzial. Und natürlich müssen wir uns die Frage stellen: Wer arbeitet da auf einen gewissen Tag X hin, an dem er eventuell zur Tat schreitet? Wer lässt sich zu konkreten Aktionen hinreißen? Gibt es Netzwerke? Und hier geht es nicht nur darum, dass sich Extremisten zu terroristischen Vereinigungen zusammenschließen können. Das kann sich jederzeit ausbilden, da habe ich schon 2018 darauf hingewiesen. Es geht aber auch darum, dass sich Extremisten im virtuellen Raum vernetzen, unterstützen und gegebenenfalls zu Taten motivieren können."
In den sozialen Medien können sich Unterstützungsnetzwerke bilden, in denen sich die Menschen gar nicht kennen und sich deshalb oft gar nicht persönlich begegnet seien, so Schäfer. Ein Problem sei, dass "man auch gar nicht weiß, wo diese Menschen ansässig sind. Und das ist schon eine Veränderung, die uns große Sorgen bereitet und auf die man natürlich auch reagieren muss. Und deshalb, glaube ich, wird es verständlich, wenn ich sage, wir haben zuerst Personal verdreifacht. Aber ob das schon alles ausreichend ist, da bin ich mir heute schon nicht mehr so sicher."
Mehr Personal vor allem für die Überwachung des Internets – auch des Darknets – das hat auch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main bekommen. Auch das hessische Landeskriminalamt kann für den Kampf gegen Hass und Hetze im Netz heute mehr Personal einsetzen. Der Verfassungsschutz will da nicht das Nachsehen haben.
Nicht ausreichend waren in den vergangenen Jahren in Hessen die behördlichen Mechanismen, um zu verhindern, dass gewaltbereite Rechtsextremisten Waffen in die Hände bekommen – teilweise ganz legal. An diesem Punkt sind sich der heutige Chef des hessischen Inlandsgeheimdienstes und Armin Kurtovic einig.
Armin Kurtovic ist der Vater des am 19. Februar 2020 in Hanau von einem rassistischen Terroristen ermordeten 22 Jahre alten Hamza Kurtovic: "Wenn einer eine Waffenbesitzkarte ausstellt, dann muss er doch wissen, dass dies kein Anglerschein ist. Er muss das prüfen. Er muss gucken, wem er das in die Hand gibt. Wenn was passiert, ist es zu spät. Und dann: Wir verschärfen das Gesetz, das ist gut und schön."

Die Rolle der Waffenbehörden

Doch es müsse auch dafür gesorgt werden, dass es dann auch angewendet werde, fordert Armin Kurtovic. Seit September 2020 müssen nun die lokalen Waffenbehörden beim Verfassungsschutz abfragen, ob die Person, die einen Waffenschein beantragt, dort als Extremist bekannt ist. Vorher gab es keine Regelüberprüfung. Außerdem gelten Menschen, die Mitglieder einer verfassungsfeindlichen Vereinigung sind - auch wenn diese nicht verboten ist - künftig als in der Regel waffenrechtlich unzuverlässig. Robert Schäfer, der Präsident des hessischen Verfassungsschutzes:
"Wir haben da eine klare Auffassung: Wir versuchen alle möglichen Informationen, die wir generieren können oder die beim Verfassungsschutz vorhanden sind, die ja auch unter gewissen Einstufungen liegen, ich glaube Sie wissen, was ich meine, versuchen wir immer für die Waffenbehörde gangbar zu machen, sodass wir einen höchstmöglichen Erfolg erzielen können, dass keine legalen Waffen in Händen von Extremisten sind."
Im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Morde wurde noch offen über die Auflösung der Landesämter für Verfassungsschutz debattiert. Diese Debatte ist heute vom Tisch. Lediglich die hessische Linkspartei möchte den Inlandsgeheimdienst auflösen. Hermann Schaus, der sicherheitspolitische Sprecher der Fraktion: "Na ja, in wieweit die Verfassungsschutzämter tatsächlich hilfreich sind, das stellen wir ja generell in Frage. Weil wir haben ja immer wieder – sei es beim NSU, sei es bei der Ermordung von Herrn Lübcke, sei es aber auch bei anderen Straftaten, also wie zum Beispiel in Halle oder in Hanau, gab es ja sozusagen kein Vorwarnsystem, was ja eigentlich der Verfassungsschutz sein soll."
Die anderen Parlamentsparteien in Land und Bund wollen jedoch den Verfassungsschutz grundsätzlich erhalten – aber zum Teil möglicherweise die Zahl der Landesämter reduzieren. Stefan Müller, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP und Sprecher für Innen- und Sicherheitspolitik: "Also ich glaube, dass wir uns schon Gedanken machen müssen, wie wir die Sicherheitsarchitektur in Deutschland ausgestalten. Mit sechzehn Bundesländern, 16 Landesämtern für Verfassungsschutz, die teilweise sehr klein sind, die teilweise über wenig Mitarbeiter verfügen."

Was muss ein Landes-Verfassungsschutz leisten?

Nancy Faeser, die hessische Landesvorsitzende der größten Oppositionspartei SPD hält jedoch wie die schwarz-grüne Landesregierung einen eigenständigen Landesverfassungsschutz zusätzlich zum Bundesamt für Verfassungsschutz weiterhin für sinnvoll. Zumindest dann, wenn sich die Landes-Geheimdienste künftig besser abstimmen als früher, so Faeser. Sie sei auch aus grundsätzlichen Erwägungen zum Föderalismus dafür, weiterhin ein eigenes Landesamt für Verfassungsschutz zu erhalten, sagt die hessische SPD-Landeschefin:
"Man kennt letztlich die Begebenheiten und die Personen besser in einem Bundesland als Behörde, als dass man es von Berlin aus wissen könnte. Aber umso wichtiger ist natürlich, dass man diese Erkenntnisse dann auch mit allen anderen Beteiligten im Verfassungsschutzverbund teilt. Sprich: Mit den anderen Bundesländern, aber auch mit dem Bund. Damit auch der Bund einen Überblick hat, wenn sich Terrorzellen bilden: Wo sind die Verknüpfungen, wo sind die Anfänge, wer kennt wen?"
Diese Fragen werden nun in den nächsten Monaten den hessischen Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke weiter beschäftigen. Verfassungsschutzchef Robert Schäfer verspricht, die Abgeordneten bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Mit der – begrenzten – Transparenz, die einem Geheimdienst möglich sei. Was in Nordrhein-Westfalen geht, sollte auch in Hessen möglich sein, findet auch der Landtags-Sachverständige Joachim Tornau. Da sei beim hessischen Verfassungsschutz noch Luft nach oben.