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Kolumne
Whistleblower haben eigene Interessen

Was wäre, wenn Julian Reichelt die Döpfner-Nachrichten geleakt hat? Muss der Investigativjournalismus die Motive von Informanten abwägen? Denn häufig gehe es um Rache, meint unser Kolumnist.

Von Matthias Dell | 19.04.2023
Eine Person führt eine Trillerpfeife an ihren Mund.
Investigativen Journalismus muss man sich als mühsame Detektivarbeit vorstellen. Ewig lange Recherchen, ausdauerndes Hineinfuchsen in brisante Abläufe und am Ende dann den Ärger aushalten, den man bei gewissen Menschen mit der eigenen Enthüllung verursacht hat.
Zentral für den investigativen Journalismus ist aber weniger, nächtelang im Dunklen fiese Machenschaften zu beobachten, sondern dass Leute mit einem reden. Leute, die über Missstände aufklären können und skandalöse Dokumente weiterreichen, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Whistleblower.
In dem Spielfilm "She said" über den #Metoo-Skandal vom Ende letzten Jahres lässt sich verstehen, wie hart diese Arbeit ist – Leute zum Reden zu bringen. Die beiden Journalistinnen, die den sexuellen Übergriffen des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein auf der Spur sind, versuchen wieder und wieder die Opfer von Vergewaltigungen zur Aussage zu bringen.
Was schwierig ist, weil die Frauen Angst haben, weil sie mit den erlittenen Demütigungen nicht in der Öffentlichkeit stehen wollen, weil sie ahnen, dass ihnen nicht geglaubt werden wird.

Edward Snowden handelte aus idealistischen Motiven

Denn Whistleblower sind großem Druck ausgesetzt. Wer für Mächtige unangenehme Informationen preisgibt, kann nicht mit Liebe und Bewunderung rechnen. Das bekannteste jüngere Beispiel ist Edward Snowden, der 2013 die NSA-Affäre auslöste.
Snowden hatte Dokumente an Journalisten weitergegeben, die ein ungekanntes Ausmaß von Überwachung durch den US-amerikanischen Geheimdienst publik machten. Und obwohl Snowden dabei äußerst umsichtig vorging, zahlt er bis heute einen hohen Preis für seine Entscheidung – statt wie zuvor einer geregelten Arbeit nachzugehen und danach mit Freunden und Familien abzuhängen, lebt er im Exil in Moskau.
Edward Snowden ist ein besonderes Beispiel für einen Whistleblower. Der ehemalige Geheimdienst-Agent hat aus hehren, idealistischen Motiven gehandelt – er hat seinen Sinn für Gerechtigkeit über das persönliche Wohlbefinden gestellt. Das kann man von den wenigsten Whistleblowern erwarten.
Die meisten werden von sehr menschlichen Motiven dazu gebracht, brisante Dokumente und Informationen weiterzugeben – Rache, Neid, Missgunst. So ist in der aktuellen Debatte um die irrlichternden Chatnachrichten von Springer-Chef Mathias Döpfner spekuliert worden, ob diese nicht von dem Mann stammen könnten, an den viele gerichtet waren – dem Ex-BILD-Chefredakteur Julian Reichelt.

Häufige Motive von Whistleblowern sind Rache und Neid

Und wenn es so ist – wäre das nicht ein Problem? Weil man Reichelt damit auf den Leim ginge, der das, was Döpfner in seinen Nachrichten an Untergebene schreibt, öffentlich noch radikaler und krasser sagt? Weil Reichelt, gegen den der Springer-Verlag rechtliche Schritte erwägt, eine eigene Agenda hat?
Die Antwort ist relativ einfach: Whistleblower haben immer eigene Interessen. Und in den meisten Fällen sind das andere als bei Edward Snowden – eben Rache, Neid und Missgunst. Die Herausforderung für den investigativen Journalismus besteht also in der nüchternen Abwägung – ist das zugespielte Material von herausragendem Interesse und größerer Bedeutung als die persönlichen, womöglich niederen Motive des Whistleblowers?
Den Watergate-Skandal, eine der legendärsten Enthüllungsgeschichten, hätte es ohne diese Abwägung nicht gegeben. Denn als die entscheidende Quelle, die Jahrzehnte lang durch Anonymität geschützt war, stellte sich 2005 ein FBI-Mitarbeiter heraus – der bei einer Beförderung übergangen worden war.