Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv

Musiker Sting
Zurück zu den Rock-Wurzeln

Nachdem der britische Musiker Sting 2003 sein Soloalbum 'Sacred Love' veröffentlicht hatte, wandte er sich vom Mainstream ab und experimentierte mit klassischer Musik. Anfang November erschien mit "57th & 9th" sein erstes Rockalbum seit 13 Jahren.

Von Christiane Rebmann | 18.12.2016
    Der britische Musiker Sting steht bei einem Auftritt beim Java Jazz Festival im März 2016 in Jakarta, Indonesien mit umgehängter Gitarre vor einem Mikrofon auf der Bühne und streckt beide Arme in die Höhe.
    Der britische Musiker Sting bei einem Auftritt beim Java Jazz Festival im März 2016 in Jakarta, Indonesien (EPA)
    Musik "Down Down Down"
    "Wenn ich Musik höre, möchte ich überrascht werden. Wenn ich Musik komponiere, möchte ich überraschen. Diesmal dachte ich: Was wird die Leute überraschen? Wie wäre es, wenn ich ein sehr direktes, energiegeladenes Rock’n’Roll Album machen würde?"
    "Ein Song sollte wie ein trojanisches Pferd sein, dessen Inhalt sich in den Köpfen der Leute einnistet."
    Musik "One Fine Day"
    "Ich habe immer schon ernsthafte Anliegen in Songs verpackt, die bestenfalls Ohrwürmer waren."
    Sting ist gerade erst aus Melbourne gelandet, wo er auf einer Sportveranstaltung vor 100.000 Menschen aufgetreten ist. Der 65jährige trägt schwarze Kleidung und bunte Schuhe. Die kurzen, ehemals graublonden Haare sind jetzt dunkelblond und haben eine wundersame Verdichtung erfahren. Und er sieht extrem schlank aus - als wollte er sich dem Stil seines neuen Albums "57th & 9th" anpassen.
    Denn die Songs erinnern an den Sting der 70er und 80er Jahre, als er noch Chef von Police war. Das ist ein Schritt, den man nach der Entwicklung der letzten 13 Jahre nicht unbedingt erwartet hätte.
    Musik "Sacred Love"
    Nachdem Gordon Sumner alias Sting 2003 sein Album "Sacred Love" veröffentlicht hatte, wandte er sich vom Mainstream ab und machte – wie er selbst sagt – esoterische Platten. So experimentierte er mit klassischer Musik und nahm unter anderem das Album "Songs from the Labyrinth" mit Liedern von John Dowland auf, auf dem er Laute spielte.
    Musik "Tears Flow"
    Wohlwollende Kritiker lobten, dass er den Komponisten aus dem 16. Jahrhundert wieder ins Gedächtnis rief. Weniger wohlwollende Rezensenten warfen ihm Manierismus vor.
    Sein letztes Werk "The Last Ship" diente als Vorlage für das gleichnamige Broadway Musical. Mit der Bühnenproduktion scheiterte er Anfang des Jahres grandios und fuhr einen Millionenverlust ein. Diesmal wollte Sting ein sehr direktes, energiegeladenes Album machen. Und er arbeitete so spontan wie lange nicht mehr.
    "Ich nahm mir vor, das Ganze in höchstens drei Monaten zu schaffen. Ich hatte nichts vorbereitet. Ich ging einfach mit meinen Musikern ins Studio und sagte: 'Lasst uns spielen.' Dabei kamen zehn musikalische Kurzgeschichten, heraus, die etwas sehr Druckvolles haben. Ein Teil des Albums ist sehr Rock’n’Roll lastig und energiegeladen. Der andere Teil ist eher nachdenklich und ruhig. Das Album ist ein wenig wie ich. Ich bin beides."
    Produziert hat Martin Kierszenbaum, der hier auch Keyboards spielt.
    "Ich habe einen Pool von Musikern, mit denen ich gern arbeite. Auf dieser Platte gibt es sehr viele verschiedene Klangfarben. Deshalb brauche ich unterschiedliche Musiker."
    Gäste und langjähriges Team
    Und so sind Gäste wie die TexMex-Rockband The Last Bandoleros dabei, der Gitarrist Lyle Workman sowie Josh Freese, der schon Guns’n’Roses und Nine Inch Nails am Schlagzeug unterstützt hat. Sie ergänzen das langjährige Team aus dem Gitarristen Dominic Miller und dem Drummer Vinnie Colaiuta.
    "Sie sind meine Freunde. Sie wissen, wie ich arbeite und was ich von ihnen brauche. Sie vertrauen mir genug, um ohne Vorbereitung mit mir ins Studio zu gehen. Und dort spielen wir dann eine Art musikalisches Ping Pong. Ich werfe ihnen etwas zu. Sie werfen es zurück. Sie wissen, wie sie auf das antworten müssen, was ich tue. Und die Musik wird bei jedem Schlagabtausch reicher. Sie wird komplizierter und interessanter. Wir improvisieren, obwohl wir keinen Jazz spielen. Wir vertrauen, lieben und respektieren einander. Die Musik ist ein Resultat dieser Beziehung. Wir sind eine Mannschaft - wie beim Fußball."
    Musik "I Can’t stop thinking about you"
    Der Song "I can’t Stop thinking about you" mit seinen rauen Gitarrensounds klingt wie Police ohne Police. Das ist kein Wunder, meint Sting. Schließlich stammen die Police Songs von ihm. Die Musik von Police steckt sozusagen in seinen Genen. Und sie ist immer noch Bestandteil seiner Konzerte.
    "Wenn ich auf Tournee bin, spiele ich täglich Rock’n‘Roll. Bei meinen Studioalben habe ich in den letzten gut zehn Jahren mit anderen Stilen experimentiert. Aber auf der Bühne spiele ich Rock’n’Roll."
    Wie in den meisten seiner Texte gibt es auch in "I Can’t Stop Thinking about you" verschiedene Ebenen. Man kann das Stück als leidenschaftliches Liebeslied verstehen. Es geht hier aber auch um den Prozess des Songschreibens, um die leidenschaftliche Suche nach der Inspiration.
    "Als Komponist sehe ich mich jeden Morgen mit einem weißen Blatt Papier konfrontiert. Total leer. Wie ein Feld, das mit Schnee bedeckt ist. Und ich habe keine Ahnung, wo das ist, wonach ich suche, oder was es ist. Eine Geschichte? Eine Figur? Ein Weg? Eine romantische Muse? Eine spirituelle Muse?"
    Schreibblockade
    An manchen Tagen kommt gar nichts, beschreibt er den Kampf, an anderen Tagen bekommt man vielleicht einen Hinweis. Um die Schreibblockade zu überwinden, zwang er sich, mitten im eiskalten Winter so lange auf der Terrasse seines New Yorker Hauses in der Kälte zu arbeiten, bis er einen Song fertig hatte.
    "Meine Familie durfte mir Kaffee nach draußen bringen. Aber ich durfte nicht reingehen. Das war ein Trick, um den kreativen Prozess in Gang zu bringen. Dieser Prozess ist etwas sehr Mysteriöses. Ich verstehe ihn nicht. Ich weiß nur: Es hilft, wenn ich mich selbst aus der Komfortzone herausdränge. Damit der Geist in eine andere Richtung arbeitet."
    Der Geist ließ sich überlisten, und so schaffte der Künstler an einem Wochenende vier Songs.
    "Auch der tägliche Weg ins Studio hat geholfen. Während ich lief, dachte ich über meine Ideen nach. Laufen regt meine Kreativität an. Es ist wie eine sehr rhythmische Meditation. Durch New York zu laufen ist auch schon deshalb sehr stimulierend, weil es eine sehr dramatische Stadt ist. Die Architektur. Die Menschen. Der Verkehr. Der Lärm. Ich blieb jeden Tag an der Ampfel an derselben Kreuzung 57te Straße und 9te Ave stehen. Man muss da sehr gut aufpassen, sonst wird man von den Taxis über den Haufen gefahren. Während ich wartete, gab ich mich meinen Gedanken hin."
    57. und 9. - nach dieser Kreuzung benannte er auch das Album.
    "Der Titel ist wie eine Verbeugung vor New York. Obwohl es in den Songs nicht um New York geht, ist die Stimmung, die Energie dieser Stadt doch auf diesem Album."
    Musik "If you can’t love me"
    Wenn sich Sting ein Wochenende auf der Terrasse aussperrt, reagiert seine Familie gelassen. Seine Frau, die Schauspielerin und Filmproduzentin Trudie Styler, hat kein Problem damit, sagt er.
    "Sie versteht, wie ich arbeite und dass ich mich manchmal in ungewöhnliche Situationen bringen muss, um kreativ sein zu können. Sie ist ja selbst Künstlerin. Sie kennt diesen Prozess. Dass wir in unterschiedlichen Kunstformen arbeiten, macht es einfacher. Wenn wir beide Sänger oder beide Schauspieler wären, lägen wir im Konkurrenzkampf. Aber so können wir uns gegenseitig ergänzen."
    Trudie hilft ihm auch bei der Auswahl der Songs.
    "Sie bekommt meine Songs als Erste zu hören. Sie sieht all die Ebenen, die ich auszudrücken versuche. Sie ist sehr ehrlich mit mir und sehr direkt. Sie ist ein sehr nützlicher Verbündeter und meine beste Freundin."
    Und sie ist eine harte Kritikerin.
    "Ab und zu verpasst sie mir einen Haken. Sie müssen wissen, Trudie hat einen sehr guten linken Haken."
    Die 62jährige gibt ihm aber auch konkrete Tipps, die ihm beim Songschreiben helfen. Denn für ihn hat der Musikerberuf verschiedene Dimensionen.
    "Zu meinem Job gehört auch, dass ich als Sänger die Rolle einer anderen Person annehme. Ich bin meist nicht ich selbst. Trudie kann mir da helfen. Sie sagt mir, wenn ich eine Rolle überzeichne. Es ist ja so, als würde ich in einen anderen Menschen hineinschlüpfen."
    Musik "The Empty Chair"
    Mit der Folkballade "The Empty Chair" verneigt sich Sting vor dem US-amerikanischen Fotoreporter James Foley, der 2014 in Syrien vor laufenden Kameras vom IS geköpft wurde.
    "Foley arbeitete als Fotojournalist in Syrien und wurde vom IS gefangengenommen. Er war viele Monate in Gefangenschaft. Dann ermordeten sie ihn und übertrugen die Enthauptung im Internet. Ich sah einen Film über ihn. All seine Freunde sagten, er sei derjenige gewesen, der sie alle bei Sinnen gehalten habe. Er war derjenige, der ihnen extra Essen und Wolldecken besorgte. Er war derjenige, den die Wachen quälten. Und am Ende war er derjenige, dem der Hals durchgeschnitten wurde. Zum Glück haben sie die Exekution im Film nicht gezeigt. Wenn man den Film ansieht, verliebt man sich in diesen außergewöhnlichen Mann."
    Als Sting gefragt wurde, ob er einen Song zu dem Dokumentarfilm "Jim - The James Foley Story" schreiben würde, sagte er spontan zu.
    "Ich hatte die Worte seiner Familie im Kopf – Wie sehr sie ihn alle vermissten. Ich stellte mir vor, dass die Familie immer einen leeren Stuhl für ihn am Tisch stehen hatte – so als könnte er jeden Moment nachhause kommen. Daraus wurde das Stück 'Empty Chair'. Später fand ich heraus, dass seine Freunde in ihrer Stammkneipe tatsächlich immer einen Stuhl für Jim freihielten."
    Beschäftigung mit Vergänglichkeit
    In zahlreichen Liedern des neuen Albums beschäftigt er sich mit der Vergänglichkeit.
    "Für einen Künstler ist der Tod wahrscheinlich das interessanteste und wichtigste Thema, über das man schreiben kann. In den besten Opern und Romanen geht es um den Tod. Also kann es doch vielleicht auch in Popsongs um Tod gehen, solange es nicht zu morbid wird."
    In diesem Moment versucht der Promotionmanager, das Interview zu beenden. Sting reagiert mit einem Witz.
    "Ignorieren Sie ihn, er ist der Todesengel."
    Im Gegensatz zum Song "The Empty Chair", der das Thema angemessen getragen und mit emotionaler Intensität behandelt, wirkt das rockigere "50.000" wie eine trotzige Abwehrreaktion auf den Tod. Sting schrieb den Song, nachdem innerhalb weniger Monate eine Reihe von Kollegen gestorben waren: Lemmy von Motörhead, David Bowie, Prince und dazu auch noch sein guter Freund, der Schauspieler Alan Rickman.
    "Ich war wie alle anderen schockiert und traurig. Aber dann ist da auch dieses Kind in mir, das denkt, dass seine Helden unsterblich sind. Es fragt: Wie kann es sein, dass diese Menschen sterben?
    Für Menschen, die wie ich im Scheinwerferlicht stehen, die vor vielen Tausenden von Menschen auftreten, ist eines wichtig: Mit dem Tod kann man sich nicht auseinandersetzen, während man im Rampenlicht steht. Die Reflektion muss abseits stattfinden. Nur wenn man sich in Ruhe damit beschäftigt, kann man lernen, die Tatsache zu akzeptieren, dass man eines Tages nicht mehr da sein wird. Das zu akzeptieren macht das Leben reicher, lebendiger."
    Musik "50.000"
    Früher hatte er mal gesagt: Wenn mir ein Arzt eröffnen würde, dass ich bald sterbe, dann würde ich antworten: Ich habe ein großartiges Leben gehabt. Wenn er heute wüsste, dass seine Tage gezählt sind, würde er trotzdem weiter Musik machen.
    "Musik ist wie ein Meer ohne Horizont und ohne Grund. Musikmachen ist ein wunderbares Abenteuer ohne Grenzen. Es ist wie mit der Liebe. Die Liebe ist ein grenzenloses Gefühl. Du gelangst nie auf den Grund der Person, die du liebst. Je näher du ihr kommst, desto klarer wird dir, wie wenig du über sie weißt."
    Das Resümee seines bisherigen Lebens: Ich habe Glück gehabt.
    "Als junger Künstler hatte ich kein Geld, keine Perspektive. Meine Situation sah hoffnungslos aus. Umso mehr weiß ich zu schätzen, was ich heute habe: Meine Familie und ein schönes Haus, in dem ich lebe. Okay, mehrere schöne Häuser. Ich habe ein spannendes Leben. Aber wenn ich das von Anfang an gehabt hätte, wüsste ich es nicht so zu schätzen. Deshalb möchte ich die Jahre nicht missen, in denen ich mich als unbekannter Musiker abgerackert habe. Sie waren wichtig."
    Police-Hype in den 80ern
    Zwar hatte der Hype um Police in den 80er Jahren dazu geführt, dass er sich mit seinen Bandkollegen Andy Summer und Stewart Copeland zerstritt. Aber an die Auswirkungen des Ruhms hat er sich inzwischen gewöhnt. Berühmt sein fühlt sich heute nicht anders an als zur Zeit mit Police.
    "Auch mit Police stand ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das war nicht anders als als Solokünstler. Wir waren zwar eine Band. Aber auf mich haben sich alle konzentriert. Die Medien wählen eine Person. Sie sprechen nicht über die Band."
    Musik "Heading South on the great north road"
    "Heading South on the great north road" – mit dieser nuancenreich gesungenen Akustikballade beweist Sting, dass er sich auch als Sänger weiterentwickelt hat. In seinem sozialen Engagement ist sich der britische Künstler treu geblieben. Er setzt sich seit vielen Jahren für Menschenrechte und Umweltschutz ein. Er wird dafür oft angegriffen. Aber davon lässt er sich nicht beirren. Und so schlüpft er im Song "Inshallah" in die Rolle eines syrischen Vaters, der sich mit seiner Familie in ein Flüchtlingsboot setzt.
    "Das Ironische an dieser Situation ist, dass die Waffen, vor denen die Flüchtlinge fliehen, in Deutschland hergestellt werden. Sie werden in Großbritannien oder Frankreich, in Russland und den USA hergestellt."
    Außerdem, gibt er zu bedenken, stammt letzten Endes auch er von Flüchtlingen ab.
    "Unsere Vorfahren kommen aus Afrika. Sie waren Hunderttausende von Jahren auf der Flucht."
    Der Songtitel "Inshallah" heißt so viel wie: Gottes Wille möge geschehen.
    "Es bedeutet Resignation, aber auch Hoffnung und Mut. Die Flüchtlingskrise betrifft uns alle. Sie wird uns noch das ganze Jahrhundert hindurch begleiten.
    Wenn es eine Lösung gibt, muss sie auf Mitgefühl beruhen. Deshalb habe ich mich in die Situation eines Mannes versetzt, der mit seiner Frau und seinen Kindern vor einer schrecklichen Gefahr flüchtet."
    Weil er sich unsicher war, ob sein Song von den Betroffenen nicht als unpassend empfunden wird, holte er sich eine Art Genehmigung.
    "Ich habe mich in Berlin mit syrischen Flüchtlingen getroffen. Sehr gebildete Menschen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt in Deutschland als Musiker. Sie haben mir ihre Geschichte erzählt, und ich habe ihnen den Song ‚Inshallah‘ vorgespielt und sie um Erlaubnis gebeten, das Lied singen zu dürfen."
    Musik "Inshallah"
    Wie "Inshallah" enthält auch der Song "One Fine Day” enthält eine politische Botschaft.
    "Dies ist meine ironische Antwort auf die Erderwärmungskrise. Ich bete jeden Tag, dass die Klimaskeptiker Recht haben, die behaupten, der Klimawandel sei ein Hoax. Und dass sich all die wissenschaftlichen Beweise dafür als falsch erweisen."
    Der Sänger Sting während eines Konzertes in Rio.
    Sting während eines Konzertes in Rio. (imago)
    Dass Politiker gern die Existenz des Problems abstreiten, wundert ihn nicht.
    "Sie werden ja von der Kohleindustrie und den Ölfirmen bezahlt. Der englische Dichter William Blake hat etwas Großartiges gesagt: ‚A man who persists in his folly will become wise.‘ Triebe der Narr seine Dummheiten auf die Spitze, würde er weise werden. Ich hoffe, dass es dann nicht zu spät ist."
    "One Fine Day" ist einer jener Songs, die er als trojanische Pferde bezeichnet. Er hat den nachdenklichen Text in leichtgängige, melodische Musik verpackt.
    Musik "One fine day"
    Zwar wird Sting immer wieder kritisiert, dass er seine Texte mit Botschaften überfrachtet. Aber er singt nicht nur über die Klimaveränderung. Er packt auch selbst mit an. In den 80er Jahren gründete er gemeinsam mit seiner Frau die Rainforest Foundation, die sich für den Erhalt des Regenwaldes einsetzt. Die Organisation ist inzwischen in 21 Ländern überall auf der Welt aktiv. Sie konzentriert sich auf kleine Projekte, die Aussicht auf Erfolg haben: Trinkwassergewinnung, Bildung, Kampf gegen illegale Rodungen. Er selbst reist kaum noch in den Urwald, sondern hält die Organisation mit Geld am Laufen.
    "Ich hänge das nicht an die große Glocke, weil ich mit Leuten zusammenarbeite, die Experten auf diesem Gebiet sind und die eigentliche Arbeit machen. Inzwischen halte ich mich eher im Hintergrund. Wenn ich gefragt werde, wie jetzt von Ihnen, spreche ich darüber. Ansonsten ist es nicht sehr hilfreich."
    Mit seinen 65 Jahren ist Sting noch ganz gut bei Stimme. In den unteren Lagen hat er mehr Ausdruck gewonnen. Aber auch das hohe C erreicht er immer noch mühelos, erzählt er stolz. Ihm selbst gefällt seine Stimme heute besser als früher. Und er pflegt sie sorgfältig.
    "Nie etwas Legales geraucht"
    "Ich habe nie in meinem Leben etwas Legales geraucht. Das hilft. Was die Stimme betrifft: Sie ist ein Muskel, den man trainieren muss. Bevor ich singe, wärme ich sie also auf, wie ein Athlet."
    Und so kommt er auch mit "Petrol Head", dem rockigsten Lied auf dem Album, gut klar.
    "In 'Petrol Head' spiele ich einen Lastwagenfahrer. Das ist so ein Machotyp, der nur an Sex und Religion denkt. Das bin natürlich nicht ich. Abgesehen von der Religion. Es ist ein witziger Song. In der Mitte zitiere ich William Blake aus der Hymne Jerusalem: 'Bring me my chariot of fire. Bring mir meinen Feuerwagen.'"
    Bei diesem Feuerwagen simulieren die Gitarren die Bremsen.
    Musik "Petrol Head"
    Der schnörkellose Rocksong "Petrol Head" ist Lichtjahre von dem entfernt, was der Musiker aus Newcastle in den letzten Jahren gesungen hat.
    "Er ist ziemlich roh. Es macht mir Spaß, ihn zu singen. Ich schlüpfe hier in die Rolle einer anderen Person, die nichts mit mir zu tun hat. Ich fahre ja keinen Lastwagen. Okay, ich habe es mal getan, aber das ist schon lange her. Vielleicht ist es ja doch ein geheimer Teil von mir. Ich genieße diese Rolle jedenfalls."
    Auf die Idee, mit dem Klischee des Brummifahrers zu arbeiten, kam er durch die Musik, die ihm eines Tages eingefallen war. Sie bot sich für dieses Thema an.
    "Ich bin überzeugt: Wenn man die Musik korrekt strukturiert, erzählt sie dir eine Geschichte. Sie hat dann einen Erzählfaden, einen abstrakten Erzählstrang. Und mein Job ist es nur, herauszufinden, was die Musik erzählen will. In diesem Fall war klar, dass es ums Fahren geht. Irgendwann kristallisierte sich heraus: Hier steuert jemand einen riesigen Truck durch die amerikanische Wüste. Das ist die Geschichte. Ich verstehe sie nicht wirklich. Es ist sehr merkwürdig, wie die Songs manchmal zu dir kommen. Man nimmt sie auf. Sie sind in der Luft."
    Für Sting ist das Songschreiben ein Prozess, der bei ihm zumindest zum Teil im Grenzbereich zwischen bewusst und unbewusst abläuft.
    "Manchmal beende ich einen Song nicht, weil die Botschaft nicht klar ist. Einmal habe ich einen Song geschrieben, in dem als Hauptfigur plötzlich eine transsexuelle Prostituierte auftauchte. Das war so weit von meiner eigenen Erfahrung entfernt, wie man sich das nur vorstellen kann. Es endete in dem Song ‚Tomorrow We‘ll See‘. Da singe ich darüber, wie es ist, eine männliche Transgender Prostituierte zu sein. Es war ein schöner Song, und ich genoss es, diese Rolle zu spielen. Es geht ja darum, die Welt durch die Augen einer anderen Person zu sehen, sich in ihren Schuhen zu bewegen, womöglich – wie in diesem Song – in sehr hochhackigen Pumps. Das ist mein Job. Zu versuchen für jeden Empathie zu empfinden. Und ich kann kein Vorurteil gegenüber dem haben, was aus meiner Fantasie zu mir kommt."
    Musik "Tomorrow we‘ll see"
    Vor zehn Jahren bekam er den Beweis, dass sein Gehirn anders funktioniert als das eines Nichtmusikers. Er ließ es in einer aufwändigen Untersuchung von Forschern der McGill University in Montreal scannen.
    "Zuerst einmal war ich sehr froh, dass sie überhaupt ein Gehirn gefunden haben. Was sie herausfanden, hat mich nicht überrascht. Sie stellten fest, dass Musiker mehr Hirnkapazität verwenden, um Musik zu analysieren, als der Durchschnittsbürger. Die eine Seite des Gehirns analysiert sehr einfache Intervalle. Komplexere Intervalle wandern zur anderen Seite rüber. Die meisten Menschen verwenden diese Seite des Gehirns nicht mal."
    Diese besondere Hirntätigkeit kann aber auch ein Fluch sein. Denn sie bringt ihn dazu, Musik auch dann zu analysieren, wenn sie in seinem Alltagsleben irgendwo im Hintergrund läuft. Zum Beispiel im Restaurant.
    "Für mich ist das akustische Umweltverschmutzung. Musik ist etwas Heiliges. Man sollte sich freiwillig auf sie konzentrieren. Ich liebe zum Beispiel dieses Zimmer, in dem wir sitzen. Es ist ruhig. Hier läuft nur unsere Unterhaltung."
    Am liebsten Klassik
    Zuhause hört er selten Musik. Und wenn, dann nur ganz bewusst und am liebsten Klassik.
    "Ich liebe Bach. Ich höre seine Musik jeden Tag. Ich schwimme jeden Morgen zu Bachs Cello Suiten. Ich werde nie müde, sie zu hören."
    Und er hat auch keine Skrupel, sich bei seinen Lieblingskomponisten Anregungen zu holen.
    "Alle Musiker klauen. Bach hat von Biber gestohlen. Biber hat bei jemand anderem gestohlen. Es gibt nun mal nur zwölf Töne."
    Im atmosphärisch dichten Lied "Pretty young soldier” bedient er sich bei einem beliebten Motiv der britischen Folk-Musik des 19. Jahrhunderts: dass sich Frauen als Männer verkleideten und umgekehrt.
    "Meist geht es um eine Frau, die sich als Mann verkleidet, um dann der Armee oder der Marine beizutreten und ihren Geliebten zu finden. Auf dieser Basis schrieb ich diesen Song. Der Mann, den die Frau hier heiraten will, arbeitet bei der Armee. Sie gibt sich als Mann aus und tritt der Armee bei. Der Captain fühlt sich von diesem vermeintlichen Mann sehr angezogen. Das verwirrt ihn."
    Musik "Pretty young soldier"
    Sting wird mit seinen neuen Songs im nächsten Frühjahr auf Tournee nach Deutschland kommen - und er wird dabei von seinem Sohn Joe begleitet. Auch wenn die Police Fans das nicht gerne hören – eine weitere Zusammenarbeit mit Andy Summers und Stewart Copeland plant er im Moment nicht. Auf meine Bemerkung, dass Copeland im Interview behauptete, er habe Sting entdeckt, reagiert er belustigt ironisch.
    "Christopher Columbus hat gesagt, dass er Amerika entdeckt hat. Es stimmt nicht ganz. Stewart kann das ruhig für sich beanspruchen. Das ist in Ordnung. Aber Wirklichkeit habe ich ihn entdeckt."
    Mit Police will er zwar nicht mehr arbeiten. Aber den Erfolg dieser Phase würde er gern wiederholen, vor allem nach dem Desaster mit seinem Bühnenstück "The Last Ship".
    Seine neue Lust auf kommerziellere Musik wurde womöglich auch dadurch angeregt, dass er letztes Jahr seinen ersten Nummer Eins Hit in den französischen Charts feiern konnte. Er hatte seinen Song "Stolen Car" gemeinsam mit der französischen Sängerin Mylène Farmer für ihr Album "Interstellaires" eingesungen. Die beiden hatten sich über einen gemeinsamen Manager kennengelernt.
    "Merkwürdiges Stück"
    "Mylène fragte mich, ob ich ein Lied für sie hätte, vielleicht für ein Duett. Ich sagte: 'Ich habe da diesen Song "Stolen Car". Es ist ein merkwürdiges Stück über einen Typen, der Autos stiehlt. Er ist hellsichtig. Und wenn er ein Auto klaut, channelt er die Menschen, von denen er das Auto gestohlen hat. Es geht hier um einen Mann, seine Geliebte und einen Autodieb. Ich spielte ihr den Song vor, und sie sagte: 'Toller Song. Ich spiele die Frau und du spielst den Autodieb.' Und dann drehten wir ein großartiges Video, ein sehr sexy Video, das in Paris spielte. Es wurde ein großer Hit."
    Im aufwändig gedrehten Clip spielt er den Liebhaber und Autodieb zugleich. Mylène Farmer als Geliebte ist mit den Tanzeinlagen zu sehen, mit denen sie berühmt wurde. Sie sei schon immer von der filmischen Dimension beeindruckt gewesen, die Stings Songs haben, sagt Mylène Farmer. Und ihr sei auch sofort klar gewesen, dass man zu "Stolen Car" ein interessantes Video drehen kann. Sie brachte mit ihrem Part eine französische Perspektive in den Song. Sie übersetzte den Text nicht wörtlich, hielt sich aber an die Idee.
    Musik "Stolen Car"
    Die Gitarrensounds im Policestil und die treibenden Drums geben dem Song "Down Down Down" etwas Drängendes, teilweise sogar Euphorisierendes. Die Musik steht hier im Kontrast zum ernsten Text.
    "Es geht um das Ende einer Beziehung. Zum Glück ist es nicht meine Beziehung. Aber ich habe genügend Lebenserfahrung, um darüber zu schreiben. Mein Herz wurde gebrochen. Ich habe jemanden verlassen. Ich habe die Herzen anderer Menschen gebrochen. Ich habe all diese Erfahrungen gemacht und kann die entsprechenden Emotionen jederzeit vorholen. Ich muss sie nicht neu erleben. Das will ich auch gar nicht. 'Down Down Down' ist auch ein Song über Depressionen, bei denen man ins Bodenlose absinkt. Es ist eine schreckliche Krankheit, unter der ich nicht leide. Aber ich kenne genügend betroffene Menschen, um darüber etwas Vernünftiges zu schreiben."
    Ihm ist wichtig, dass er beim Songschreiben stets etwas für sich herauszieht.
    "Geschichtenerzählen heißt, dass man lernt. Das ist die Grundlage einer Gemeinschaft. Wir erzählen einander Geschichten. Wir hören zu. Wir reagieren darauf. Das ist die Basis der Sprache. Wir schaffen Sprache, damit wir den anderen Geschichten erzählen können. Wir erzählen einander Geschichten, damit wir lernen können."
    Musik "Down Down Down"
    Auch wenn es hier keine musikalische Revolution gibt - "57th & 9th" ist ein gelungenes Comeback. Es ist in den Texten vielschichtig und auf kluge Art nachdenklich. In musikalischer Hinsicht ist es vielseitig und glänzt mit sorgfältig ausgearbeiteten Melodien. Außerdem zeigt das neue Werk, dass sich Sting als Sänger weiterentwickelt hat. Es stellt sein Talent als Songwriter und Musiker heraus. Diese Songs vereinen also all das, was Sting als Künstler ausmacht. Insofern hat er mit diesem Album eine neue Ebene erlangt.
    Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung sieben Tage nachhören.