
Lutz Krause beispielsweise. Der Geschäftsführer eines Berliner Malerbetriebs ist privat krankenversichert. In seinem Fall käme eine Musterfeststellungsklage durchaus in Frage – gegen seine Krankenversicherung:
"Mir ging es dann so, dass dann irgendwann mit zunehmendem Alter die Beitragserhöhungen immer regelmäßiger erfolgten und auch aus meiner Sicht drastische Höhen annahmen. Zu dem Zeitpunkt, als es mir wirtschaftlich nicht mehr gut ging, das stand in keinem Verhältnis mehr, da lag ich, glaube ich, bei 750 Euro im Monat. Die ich auch nicht bereit war zu erbringen."
"Grundsätzlich würden bestimmte Aspekte dieser Rechtsstreitigkeiten, die wir führen, im Rahmen einer Musterfeststellungsklage geklärt werden können. Also insbesondere die abstrakten Fragen zu den Anforderungen an Prämienerhöhungen, die nicht nur bei einem bestimmten Versicherungsnehmer vorliegen müssen, sondern auf einen ganzen Tarif eines Versicherers zum Beispiel. Die könnte man natürlich im Rahmen einer Musterfeststellungsklage abstrakt klären."
Man könnte also prüfen, ob einzelne Klauseln in den Verträgen privater Krankenversicherungen zulässig sind oder nicht. Damit es überhaupt zu einer Musterfeststellungsklage kommen kann, muss es allerdings einen Verband geben, der klagen will und darf. Und mindestens 50 geschädigte Verbraucherinnen und Verbraucher. Auf diese Anzahl zu kommen, wäre für ihn kein Problem, sagt Lutz Krause.
"In der Tat habe ich sehr viel Kontakt zu Betroffenen, weil wir sind im Handwerk über den Arbeitgeberverband organisiert und ich habe das Thema dort auch angesprochen. Und habe eigentlich von 90 Prozent der Leute gehört, dass sie privat versichert sind und die gleiche Unzufriedenheit haben."
Wenn Verbraucherrechte nur auf dem Papier stehen, sagte sie in der ersten Lesung, dann seien sie nutzlos. Das will Barley mit der Musterfeststellungsklage ändern: "Wer Recht hat, soll auch Recht bekommen."
Die SPD-Politikerin nennt die neue Klagemöglichkeit auch die "Eine-für-Alle"-Klage: "Verbraucherinnen und Verbraucher müssen schnell, unbürokratisch und kostengünstig gegen rechtswidriges Verhalten und Täuschungen vor allen Dingen von großen Konzernen vorgehen können."
Beispiele gibt es genug: Wenn Banken vom Verbraucher etwa unzulässige Bearbeitungsgebühren erheben, Mobilfunkbetreiber sich auf fragwürdige Preisklauseln beziehen oder Produkte einfach nicht funktionieren wie beschrieben. Bei all diesen Fällen könnte sich eine Musterfeststellungsklage lohnen:
"Selbst dann, wenn eine Vielzahl von Verbraucherinnen und Verbrauchern in gleicher Weise betroffen ist, gibt es bis jetzt wenige Möglichkeiten, Kräfte zu bündeln. Das bedeutet, dass die Macht derzeit zugunsten von Unternehmen verschoben ist. Sie haben in der Regel ein deutlich höheres Durchhaltevermögen, auch aufgrund der größeren finanziellen Mittel. Das schreckt viele Verbraucherinnen und Verbraucher ab, manche resignieren und verzichten faktisch auf ihre Rechte."

"Für viele Verbraucher, gerade bei Massenschäden, ist das Durchsetzen ihrer Ansprüche gegen Banken, Versicherungen, Energiekonzerne, im Telefonbereich individuell nicht vernünftig, nicht lohnenswert. Und dass wir hier jetzt eine Verbraucherklage, eine Musterfeststellungsklage bekommen, ist gut und richtig."
Der oberste Verbraucherschützer macht deutlich, gegen wen sein Verband bereit wäre, mögliche Musterklagen zu führen:
"Der kleine Start-Up-Unternehmer, der irgendwo vielleicht mal einen Fehler gemacht hat, der ist für uns nicht so interessant. Aber eine große Bank, ein großer Stromanbieter oder ein großes Telefonunternehmen – das sind die, die wir uns besonders gründlich angucken."
Oder eben gegen Versicherungen, die Beitragserhöhungen massenhaft gleichförmig begründen, wie im Fall von Lutz Krause.
"Wir klagen dann vielleicht für eine Handvoll von Verbrauchern. Und wenn wir am Ende Recht bekommen, werden auch diese Verbraucher, die mit uns geklagt haben, entschädigt. Alle anderen, die genauso betroffen sind, die zu hohe Gebühren-Entgelte gezahlt haben, vielleicht zu hohe Stromtarife, die gehen leer aus. Weil die Verjährung dafür sorgt, dass sie ihre Ansprüche, wenn endlich ein Urteil, ein höchstrichterliches Urteil, vorliegt, nicht mehr durchsetzen können."
Auch die Musterfeststellungsklage wirkt nur für die potenziell Geschädigten, die selbst aktiv werden. Allerdings soll ihnen das erleichtert werden.
"Weil die Verbraucher, die zum Beispiel von dem gleichen Kontomodell betroffen sind, von der gleichen Versicherung betroffen sind, sich in ein Register eintragen können. Und dann müssen sie erst einmal nichts tun. Weil wenn es dann zu einem höchstrichterlichen Urteil kommt, wissen Sie, dass das Unternehmen gegen ein Gesetz verstoßen oder betrogen hat. Und insofern ist das eine ganz wichtige Funktion, um Verbraucher- Rechtsdurchsetzung einfacher zu machen."
"Individuelle Aspekte, die nur einzelne Klägerinnen und Kläger betreffen, die werden bewusst nicht betrachtet. Da diese für die anderen Verbraucherinnen und Verbraucher irrelevant sind, das ganze Verfahren in die Länge ziehen würden und verkomplizieren würden."
Es sind also auch gerade solche Fälle, für die das neue Instrument gedacht ist. Allerdings wird man sehr genau hinschauen müssen, wann eine Musterfeststellungsklage auch sinnvoll ist. Krauses Rechtsanwalt Knut Pilz hält das etwa für denkbar, wenn der Mandant das finanzielle Risiko scheut. Ansonsten hat er so seine Zweifel. Hätte er seinem Mandanten zum Massenverfahren geraten, wenn es das schon gegeben hätte?
"Das wäre in unserem Fall nur begrenzt sinnvoll, weil man zwar einen Teilaspekt geklärt hätte, sich aber viele weitere rechtliche Fragen - bis hin zu konkreten individuellen Fragen des Tarifs und des konkreten Versicherungsnehmers - stellen, die dann einen Rechtsstreit am Ende auch nicht abschließend klären würden. Das heißt, man müsste dann immer noch einen individuellen Prozess führen."
Die gleichen Schwierigkeiten gibt es in den Fällen, in denen Kunden Schadenersatz von VW wegen der erhöhten Abgaswerte haben wollen - der eigentliche Grund, warum die Musterfeststellungsklage gerade jetzt kommt, wo letzte Ansprüche zu verjähren drohen. Hier wird je nach Modell und Typengenehmigung, je nach Alter des Autos zu unterscheiden sein.
Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, einer der Initiatoren des Gesetzes, verteidigt trotzdem den Ansatz auch für solche komplexen Fälle. Natürlich könnte der Verbraucher auch direkt zum Anwalt gehen.
"Wir haben in Deutschland gute spezialisierte Kanzleien, den nehmen wir nichts weg. Wer es sich leisten kann und will, der soll ruhig gerne weiterhin zu diesen spezialisierten Kanzleien gehen. Aber das kostet Gerichtskosten, das kostet Anwaltsgebühren, und nicht jeder hat eine Rechtsschutzversicherung oder ist prozesskostenhilfeberechtigt. Und genau um diese normalen Verbraucher geht es uns."

Auch andere sehen es so. Die Präsidenten der Oberlandesgerichte in Deutschland, des Berliner Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs befanden nach einer Tagung vor wenigen Wochen einhellig: Für Fälle wie die von Lutz Krause sei die Musterfeststellungsklage zu kompliziert. Besser wäre es, zügig über einzelne ausgewählte Fälle in Musterverfahren zu entscheiden. In der Zwischenzeit blieben alle anderen Verfahren ausgesetzt – und würden nach den Musterurteilen wieder aufgenommen. Die Bundesverbraucherschutzministerin widerspricht:
"Denn immer da, wo man die Einzelaspekte verschiedener Verfahren in eine Klage hineinnimmt, oder da, wo jemand erst eine Klage erheben muss, entstehen Kosten und entstehen zeitliche Verzögerungen."
Erst der VW-Skandal brachte das Instrument in ein anderes, vielleicht schwieriges Fahrwasser. Allerdings war es auch eben dieser Abgas-Skandal, der dem Gesetz zum Durchbruch verhalf. Noch in der vergangenen Legislaturperiode war es am Widerstand von CDU/CSU gescheitert. Erst im Fernseh-Kanzlerduell vor der Bundestagswahl, unter dem Eindruck der unzufriedenen VW-Kunden, lenkte Kanzlerin Angela Merkel ein. Mit der Folge, dass das Gesetz jetzt für eine ganze Bandbreite von Fällen gelten kann.
"Digitalisierung, Online-Handel, Massenproduktion, große Schadensereignisse," zählt die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Elisabeth Winkelmeier-Becker auf. Die Verbraucherzentralen haben konkrete Fälle aus der Vergangenheit gesammelt, für die man gern schon die Musterfeststellungsklage gehabt hätte.
"Das ist kein effektiver Rechtsschutz und die Gerichte erwartet eine Flut von Leistungsklagen," glaubt die Abgeordnete Amira Mohamed Ali, und nicht nur sie. Die Gerichtspräsidenten üben auch hier, für solche einfachen Fälle, Kritik: Diese Musterfeststellungsklage bringe die Verbraucher nicht weiter. Sie plädieren stattdessen dafür, dass in Bagatell-Massenverfahren auch gleich Schadenersatz fällig werden kann.
Der Verbraucherschützer Klaus Müller erwartet nicht unbedingt, dass Betroffene nach einem Feststellungsurteil eine zweite Klage anstrengen müssen.
Auch in der Opposition gibt es Zustimmung für die grundsätzliche Konstruktion des Entwurfes. So stellte etwa die AfD Bedingungen.
Lothar Maier betonte dann aber in der ersten Lesung im Bundestag: "Der vorgelegte Gesetzentwurf scheint uns im Prinzip geeignet, diese Forderungen zu erfüllen."
Wie die Linke so zeigen sich auch FDP und Grüne deutlich kritischer, was die konkrete Ausgestaltung betrifft. Die sieht vor, dass nur ganz bestimmte Verbände eine Musterklage erheben dürfen. Die Grüne Manuela Rottmann betont:
"Wir wollen den Geschädigten die Möglichkeit eröffnen, dass sie selbst sich zusammenschließen, wenn sie gar keinen Verband finden, der sie vertreten will."
Gerade das will die Große Koalition vermeiden. Sie fürchtet, dass spezialisierte Kanzleien die Musterfeststellungsklage zu ihrem Geschäftsmodell machen könnten. Elisabeth Winkelmeier-Becker von der Unionsfraktion rechtfertigt deshalb außerdem auch, dass nur bestimmte Verbände klagen dürfen:
"Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die Klagebefugnis enger gefasst wird. Es darf nicht die Musterfeststellungsklage zu einem Vehikel werden, wo der Konkurrent sozusagen gegen seinen Gegner am Markt vorgeht. Da muss volle Transparenz und Unabhängigkeit gegeben sein."

Der Umweltdachverband "Deutscher Naturschutzring" nennt diese Kriterien zu hoch. Zum Dachverband zählen unter anderem der BUND und die "Deutsche Umwelthilfe". Nicht nur Letztgenannte hätte Schwierigkeiten die Kriterien zu erfüllen, sondern fast alle, heißt es in einer Mitteilung.
Manche Wirtschaftsvertreter hätten sich hingegen noch strengere Kriterien für die stellvertretend klagenden Verbände gewünscht.
Zum Beispiel auf den Verbraucherzentrale Bundesverband, fügt Wernicke hinzu. Der Chefjustiziar des DIHK befürchtet nämlich, dass vor allem Kanzleien aus dem Ausland gezielt zusammen mit privaten Verbänden gegen Unternehmen vorgehen könnten. Er sagt, "dass nicht rechtmäßig handelnde Unternehmen in eine Situation gebracht werden, wo sie unter einen enormen Vergleichsdruck kommen. Durch mögliche Reputationsschäden, öffentlicher Druck etc., obwohl sie rechtmäßig gehandelt haben, einfach um diesen Druck einer Massenklage auszuweichen."
Wernicke warnt vor Verhältnissen wie in den USA. "Wir wollen keine Klageindustrie und wir haben sie in Teilen schon. Sie haben festgestellt, dass in der Vergangenheit - gerade auch durch öffentliche Werbung und finanziert durch britische Prozessfinanzierer - Werbung gemacht wird für einen Zusammenschluss."
Solche Entwicklungen gibt es auch im Fall VW. Eine Klageindustrie nach Vorbild der USA will mindestens im politischen Raum hier wohl niemand. Allerdings liegt die in Deutschland auch nicht nahe, glaubt Klaus Müller vom Verbraucherzentrale Bundesverband. Er hält die geäußerten Befürchtungen deshalb für an den Haaren herbeigezogen:
"In den USA haben Sie Strafschadensersatz. Das heißt: Über den Schaden, der einem Verbraucher entstanden ist, gibt es noch eine zusätzliche Strafe für die Unternehmen. Das gibt es in Deutschland nicht und das wird auch durch die Musterfeststellungsklage nicht eingeführt. Es gibt in den USA wesentlich stärker erfolgsabhängige Rechtsanwaltshonorare. In den USA ist es so, dass Sie sich nicht in ein Register eintragen müssen, sondern Sie müssen sich sozusagen austragen aus einer solchen Sammelklage. Das heißt: Drei ganz wichtige Faktoren, die in den USA zum Rechtssystem dazugehören, gibt es so nicht in Deutschland und wird es auch so nicht geben."
Zusammen genommen erhöhen diese Elemente also den Druck auf Unternehmen, sich auf vielleicht auch zu hohe Vergleiche einzulassen. Gleichzeitig motivieren sie Anwälte, Massenverfahren aggressiv zu führen.
Der dazugehörige Gesetzentwurf sei ein Kompromiss, betonen die Regierungsparteien. Mehr sei nicht möglich gewesen, fasst es Verbraucherschützer Müller zusammen:
"Also ich glaube, die Musterfeststellungsklage, die Verbraucherklage ist jetzt der Schritt, der zurzeit mehrheitsfähig ist."
Sein Verband will sich nun konkret auf mögliche Musterklagen vorbereiten. Aber ist eine kleine, öffentlich finanzierte Verbraucherzentrale schlagkräftig genug, in einem Prozess gegen große Konzerne, wie vielleicht VW? Immerhin kann die Verbraucherzentrale auch verlieren. Müller zeigt sich selbstbewusst:
"Auch in der Vergangenheit hat der Verbraucherzentrale Bundesverband solche großen Prozesse geführt. Und bisher sind wir eben als gemeinnütziger, als steuerfinanzierter Verband ja eben nicht auf Gewinn aus. Und das bedeutet, dass wir einen Prozesskostenfond haben, den wir genau für solche Zwecke einsetzen. Weil ja: Wenn wir Gerichtsprozesse verlieren, dann zahlen wir die Prozesskosten. Das ist vollkommen klar, gang und gebe. Das können wir mit einer sechsstelligen Summe bisher tun."
Erster Anwendungsfall der wohl ab November möglichen Musterfeststellungsklage dürfte VW werden. Kunden des Wolfsburger Autobauers, die glauben, aufgrund der manipulierten Dieselabgaswerte noch Ansprüche zu haben, müssten sich schnell in das Klageregister eintragen. Denn spätestens zum Ende des Jahres verjähren ihre Ansprüche an VW. Katarina Barley:
"Als Justizministerin kann ich keine Nachrüstungen oder keinen Schadensersatz für die Verbraucherinnen und Verbraucher erreichen. Aber ich kann den Verbraucherinnen und Verbrauchern einen Weg eröffnen, dass Gerichte ihr Anliegen schnell, kostengünstig und effizient überprüfen können."
