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Mythos Krim (5/5)
Für die Hippies von Koktebel ist die Krim russisch

Koktebel auf der Krim war zu Sowjetzeiten ein beliebter Ferienort. Familien und Freigeister kamen hierher, die nichts mit dem Staat zu tun haben wollten. Einige der Hippies von damals sind gebelieben – und unterstützen inzwischen offen die russische Annexion.

Von Gesine Dornblüth | 01.12.2017
    Der Hippie Andrej Dementjew steht in seinem Laden in Koktebel.
    Andrej Dementjew kam Anfang der 70er Jahre das erste Mal in den kleinen Küstenort Koktebel (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth)
    In Koktebel, an der Südküste der Halbinsel, schwappt das Schwarze Meer träge gegen den steinigen Strand. Souvenirverkäufer warten auf Kunden. Es riecht nach Schaschlik vom Grill.
    Andrej Dementjew, 60 Jahre alt, schiebt seinen Enkel im Kinderwagen spazieren. Wie jeden Morgen. Dementjew trägt Badehose, Sandalen und das Hemd über dem stattlichen nackten Bauch offen. Seine langen Haare reichen ihm bis auf die Schultern. Die Augen schützt er mit einer Art Taucherbrille vor der immer noch stechenden Herbstsonne.
    "Das ist für mich der zentrale Moment des Tages. Mein Enkel findet alles schön. Er ist ja erst zehn Monate alt. Wir gehen die Promenade entlang, diskutieren alles Wichtige, er plappert vor sich hin, so klären wir alle wichtigen Fragen. Und dann kommen wir zufrieden nach Hause."
    Ein bisschen Freiheit auf der Krim
    Andrej Dementjew ist Kinokritiker, Bohemien. Er kam Anfang der 70er Jahre das erste Mal in den kleinen Küstenort. Die Sowjetunion atmete damals ein bisschen Freiheit, sowjetische Hippies entdeckten Koktebel neu. Sie knüpften an die 1910er Jahre an. Damals pilgerte die Schriftsteller-Boheme aus Russland nach Koktebel. Die Dichterin Marina Zwetajewa soll hier nackt in der Sonne gelegen und diversen jungen Männern den Kopf verdreht haben. Noch immer lebt der Ort von der Legende.
    "Ich komme aus St. Petersburg, habe in Moskau und in Kiew gelebt und einige Jahre in Amerika. Am Ende war mir klar: Der einzige Ort auf der Welt, an dem ich leben kann, ist Koktebel. Dabei ist es gar kein besonders tolles Seebad. Hier zu baden ist äußerst unangenehm, denn es gibt keine Kanalisation, und alles wird ins Meer gespült. Angeblich soll das in den nächsten Jahren besser werden."
    Dementjew biegt in eine Gasse ein zu seinem Haus. Es ist in einen Hang gebaut, erstreckt sich über sechs Etagen. Dementjew lebt hier mit seiner Frau und ihrem Ex-Mann, der Schwägerin, dem Sohn und seiner Familie. Und mit mehreren Hunden.
    Vom obersten Stock ist die Bucht von Koktebel zu sehen, hufeisenförmig, gerahmt von schroffen Bergen, die zum Meer hin steil abfallen: das Karadag-Gebirge – einer der wenigen geografischen Namen, die heute noch an die Jahrhunderte währende Herrschaft der Krimtataren erinnern. Dementjew interessiert sich aber nicht besonders für die Krimtataren. Er zeigt auf ein Hochhaus, das aus der Stadt herausragt.
    "Die Ukraine hat Chaos hinterlassen"
    "Das Einzige, was den Blick zerstört, ist dieser Albtraum. Der Wolkenkratzer wurde ohne eine einzige Genehmigung gebaut, als das hier noch ukrainisch war. Damals hat nie jemand etwas legal gemacht. Du hast Schmiergeld bezahlt und bekommen, was du wolltest. So lief es. Die neue Regierung versucht jetzt, das Chaos zu bewältigen, das die Ukraine hinterlassen hat."
    Dementjew hofft auf Russland. An der Ukraine lässt er kein gutes Haar. Dabei kommt seine Frau von dort, aus Kiew. Sie heißt Natalja Turkija und ist Künstlerin. Auch sie will mit der Ukraine nichts mehr zu tun haben. Gerade sitzt sie in ihrem Atelier im Erdgeschoss und malt. Im Hintergrund wird gekocht.
    "Meine Losung lautet: In Koktebel ist es gut. Das spiegelt sich auch in all meinen Bildern."
    Turkijas Bilder zeigen schiefe Häuser, Schwäne mit langen Hälsen, Menschen mit Hühnerfüßen und Vögel mit Menschenköpfen.
    "Früher hatte ich immer Probleme, wenn ich in Moskau ausstellen wollte. Ich musste vorher nach Simferopol fahren und Genehmigungen und Stempel bei der ukrainischen Kulturbehörde einholen, um meine Arbeiten durch den ukrainischen Zoll zu bekommen. Jetzt gibt es diese Probleme nicht mehr. Wir sind ein Land."
    Ein Schiff in der Bucht von Koktebel auf der Insel Krim. 
    Die Bucht von Koktebel liegt im Süden der Krim direkt am Schwarzen Meer (dpa / Sputnik / Evgenya Novozhenina)
    Abends stellt Andrej Dementjew Stühle auf die Straße und öffnet die Tür zu einem kleinen Laden im Haus. Auch das tägliche Routine. Er verkauft die Bilder seiner Frau. Es ist kühler geworden, Dementjew trägt jetzt einen wallenden Frotteekittel mit bunten Blumen darauf. Auf Kunden wartet er an diesem Abend vergeblich.
    Für Dementjew ist die Krim sowjetisch - also russisch
    Als er klein war, hat er Hindi gelernt, erzählt er. Seine Mutter hatte eine Vorliebe für Indien. Ein bisschen kann er noch.
    "Das heißt, 'Ich bin Schüler der 4. Klasse'."
    Ukrainisch dagegen kann er nicht und will er auch nicht können.
    "Wozu? Als ich nach Koktebel kam, in der Sowjetunion, hat hier niemand Ukrainisch gesprochen. Der Wert einer Sprache besteht für mich darin, welche Kunstwerke in dieser Sprache geschaffen wurden. Gibt es in der ukrainischen Sprache irgendetwas, das auch nur annähernd an Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj und Tschechow herankäme? Ich vergöttere einige ukrainische Filme, die in ukrainischer Sprache gedreht wurden. Aber das war in der Sowjetunion."
    Dementjew lehnt sich zurück. Für die Hippies von Koktebel ist die Krim sowjetisch – und damit russisch.
    "Als ich 1973 das erste Mal hierher kam, hat niemanden interessiert, welche Nationalität einer hatte. Absolut nicht. Alle lebten gut. Und so kann ein Zusammenleben auch künftig gelingen. 'Krym nasch', 'Die Krim gehört uns' - das ist eine dumme Losung. Ich meine, die Krim gehört mir."