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Nach dem Ende der Tschechoslowakei
Tschechisch-slowakische Missverständnisse

Seit einem Vierteljahrhundert wachsen junge Tschechen und junge Slowaken in unterschiedlichen Staaten auf. Mit spürbaren Folgen: Die junge Generation hört die jeweils andere Sprache im Alltag nicht mehr – die Distanz wächst. Besuch bei einem jungen Professor für die slowakische Sprache an der Prager Karls-Universität.

Von Kilian Kirchgeßner | 29.12.2017
    Menschenansammlung vor der Altstaedter Turmuhr, Tschechische Republik, Prag
    Junge Tschechen und Slowenen sprechen die andere Sprache kaum noch (picture alliance / blickwinkel / J. Nemec)
    Die Karlsuniversität in Prag, das altehrwürdige Gebäude der philosophischen Fakultät liegt direkt an der Moldau. Hier hat Marián Sloboda sein Büro. Er ist Professor für die slowakische Sprache, hat einen slowakischen Namen – aber Slowake sei er nicht, sagt er auf Tschechisch: "Das lässt sich nach dem Namen nicht beurteilen! Ich bin Tscheche - aber meine Eltern sind Slowaken. In einer Föderation gibt es immer große Migrationsbewegungen, sei es im früheren Jugoslawien oder eben in der Tschechoslowakei. Und meine Eltern gehörten zu den Tausenden Slowaken, die nach Prag gezogen sind."
    Sprache als Mittel der Politik
    Marián Sloboda ist in der Tschechoslowakei groß geworden, er war 14 Jahre alt, als die beiden Staaten sich trennten. Heute ist er Ende 30, ein junger Professor. Seine Generation ist wohl die letzte, die mit beiden Sprachen aufgewachsen ist - seine Studenten sind nach der Trennung geboren worden und kommen kaum noch mit dem Slowakischen in Kontakt, so wie früher allein schon durchs Fernsehen. "In der Föderation war festgeschrieben, wieviel Sendezeit in welcher Sprache gefüllt sein muss. Wenn ich mich richtig erinnere, waren das etwa in den Hauptnachrichten 40 Prozent Slowakisch, 60 Prozent Tschechisch."
    Heute senden die Fernsehprogramme fast ausschließlich in der jeweils eigenen Sprache - und Marián Sloboda, der junge Professor, weiß, dass die Sprachfertigkeiten zum wichtigen Gradmesser geworden sind für das Verhältnis von Tschechen und Slowaken. Manchmal hätten seine Studenten heute allein schon bei der Lektüre der Speisekarte ihre Schwierigkeiten, wenn sie in die Slowakei fahren, sagt er: "Die Unterschiede finden sich in mehreren Ebenen der Sprache, das Slowakische ist nicht nur ein Akzent. Das Vokabular ist teilweise anders, der Satzbau, die Morphologie. Wir haben das einmal mit den germanischen Sprachen verglichen. Das Ergebnis: Die Unterschiede sind etwa so groß wie jene zwischen dem Schwedischen und dem Norwegischen."
    Die Jugend ist gefragt
    Abseits von solchen linguistischen Fragen, sagt Marián Sloboda, sei aber eine Alltagsbeobachtung kennzeichnend für das geänderte Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken: Während früher die Slowaken, die es beruflich nach Prag verschlagen hat, ganz selbstverständlich slowakisch sprachen, lernen sie heute lieber Tschechisch. Prominentestes Beispiel dafür, sagt der Linguistik-Professor, sei ausgerechnet der neue tschechische Premierminister Andrej Babiš, ein gebürtiger Slowake: "Bevor er sich zur Wahl stellte, sprach er tschechoslowakisch, also eine bunte Mischung. Dann nahm er Tschechischunterricht, und jetzt klingt sein Slowakisch nur noch durch, wenn er sich in einer Debatte aufregt. Das Beispiel zeigt: Wenn jemand eine öffentliche Funktion in Tschechien bekleiden will – da haben die Slowaken selbst den Eindruck, dass sie Tschechisch sprechen müssen."
    Aber eins immerhin habe sich nicht geändert: Dass Tschechen mit den Slowaken tschechisch sprechen und diese auf Slowakisch antworten - diese lange gepflegte Tradition gebe es trotz allem noch immer. Und dann lächelt Marián Sloboda gequält, denn für seine Sprach-Seminare sei das alles andere als einfach: "Im Unterricht versuche ich, mit den Studenten nur Slowakisch zu sprechen. Ich frage sie etwa, was habt ihr am Wochenende gemacht? Und sie antworten mir auf Tschechisch, weil das eben so üblich ist - dabei interessiert mich ja nicht, wie sie ihr Wochenende verbracht haben, sondern ich will sie zum Reden bringen."
    Für den Pädagogen ist das eine Herausforderung - aber für den tschechisch-slowakischen Alltag immerhin ein gutes Zeichen, auch 25 Jahre nach der Trennung der beiden Staaten.