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Nach dem Referendum in der Türkei
"Erdogan schwebt eine islamische Republik vor"

Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach sieht nach dem erfolgreichen Referendum in der Türkei "beängstigende Parallelen" zu einem Ermächtigungsgesetz. Präsident Erdogan habe sich zuletzt mit "ungeheurer Brutalität" durchgeschlagen. "Jetzt ist er frei, das zu tun, was er tun will", sagte Steinbach im DLF.

Udo Steinbach im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine im vergangenen Jahr in Istanbul.
    Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine in Istanbul: Der Präsident habe sich nun "ermächtigen lassen", analysiert Udo Steinbach. (dpa / picture alliance)
    Martin Zagatta: Verbunden sind wir jetzt telefonisch mit Udo Steinbach, Türkei-Experte, langjähriger Leiter des Deutschen Orientinstituts. Guten Tag, Herr Steinbach!
    Udo Steinbach: Schönen guten Tag!
    Zagatta: Herr Steinbach, die Proteste und diese Betrugsvorwürfe, dass die Opposition in der Türkei jetzt den Antrag gestellt hat, das Referendum zu annullieren. Aus Ihrer Sicht, hat das irgendwelche Aussichten auf Erfolg?
    Steinbach: Nein, das hat keine Aussichten auf Erfolg. Herr Erdogan ist seinen Weg gegangen seit 2013, er hat es in Kauf genommen, um seines Zieles willen, eine neue Türkei zu schaffen, dass die Türkei wieder in einen Bürgerkrieg gefallen ist. Nach dem Putschversuch wurden umfangreiche Säuberungen vorgenommen, die gesamte Opposition wurde vernichtet.
    Ich denke einmal, das sind schlechte Vorzeichen mit Blick auf die Zukunft. Wenn denn jetzt Vorwürfe erhoben werden, dann kann das durchaus sein. Natürlich, Herr Erdogan wird das von sich weisen, dass es stattgefunden hat, aber es läge in der Logik der Entwicklungen seit 2013 bis heute, gegen die türkische Öffentlichkeit etwas zu tun und seine eigene Position zu festigen, sich zu legitimieren um jeden Preis, und natürlich um den Preis, die Opposition zu verteufeln. Und das ist genau in der Gegenwart wieder der Fall, und bei der Strategie wird man bleiben, auch, wenn es um die Erneuerung der Wahlen geht.
    "Oppositionsparteien werden geduldet, um den Schein aufrechtzuerhalten"
    Zagatta: Was bedeutet das jetzt für die politische Situation in der Türkei? Was wird sich dort demnächst abspielen? Das Land ist ja völlig gespalten. Wie kann die Opposition da jetzt überhaupt noch reagieren?
    Steinbach: Die Opposition kann nicht mehr reagieren. Oder sie reagiert so, wie sie das im Augenblick tut. Aber das zählt nicht mehr. Das politische System, das Herrn Erdogan vorschwebt, ist, ich nenne es mal etwas zweideutig eine islamische Republik. Dies nicht nach iranischem Vorbild, schiitischem Vorbild, sondern da wird eine islamische Nation angenommen. Diese Nation besteht aus frommen Muslimen, und die frommen Muslime werden geführt von dem Führer, der einheitlich gewählt, einheitlich bestimmt ist. Opposition findet da keinen Platz.
    Die Regierungspartei ist der Hauptakteur mit dem Präsidenten an der Spitze. Oppositionsparteien werden geduldet, um den Schein der Republik aufrechtzuerhalten, aber sie spielen politisch keine Rolle.
    Zagatta: Das klingt ja fürchterlich, wie Sie das jetzt einschätzen. Einige deutsche Zeitungen sprechen heute von einem Ermächtigungsgesetz. Würden Sie so weit gehen?
    Steinbach: Ja, so weit würde ich gehen. Es sind beängstigende Parallelen da. Natürlich ist es immer schwierig, auch etwas unzeitgemäß, diese Vergleiche herzustellen mit der deutschen Vergangenheit, aber es geht in die Richtung. Er hat sich ermächtigen lassen, und dies nicht erst durch das Referendum, sondern schon vorher, und das Referendum ist sozusagen der Punkt auf dem I. Und jetzt ist er frei, das zu tun, was er tun will, und das wird durchaus in der Logik dessen liegen, was wir in den letzten zwei, drei Jahren erlebt haben.
    "Wenn man die EU abgeschrieben hat, dann kommt die Todesstrafe"
    Zagatta: Was ist dann das Nächste? Tatsächlich die Einführung der Todesstrafe?
    Steinbach: Das ist noch nicht ganz sicher, weil noch nicht ganz sicher ist, wie er sich zur Europäischen Union stellt. Er hat sich wiederholt negativ geäußert. Er hat gesagt, wir brauchen sie nicht mehr. Aber gleichwohl, es dürfte sich schon herumgesprochen haben, dass irgendwo die Rückendeckung der Europäischen Union wichtig ist für jede türkische Politik, in der die Türkei gelegen ist.
    Also, wenn man in irgendeiner Weise noch auf die Europäischen Union hofft, wenn man hofft, Gespräche weiter führen zu können, und seien es nur Feigenblätter in diesem Fall. Aber solange dass der Fall ist, solange wird man sehr vorsichtig sein mit der Todesstrafe. Wenn man die Europäische Union abgeschrieben hat, dann kommt die Todesstrafe. Insofern ist das natürlich ein ganz klares Indiz, wo die Türkei steht. Wird sie die Todesstrafe einführen, dann steht sie außerhalb von Europa. Wird sie es nicht tun, dann hofft sie, irgendwie doch noch durch eine Hintertür hineinzukommen.
    Zagatta: Die in Deutschland lebenden Menschen mit türkischem Pass, Herr Steinbach, die, die sich da an der Abstimmung beteiligt haben, die haben ja mit ganz großer Mehrheit für Erdogan, für das Ja zur Verfassungsreform gestimmt. Haben Sie dafür eine Erklärung?
    Steinbach: Ich habe dafür keine wirkliche Erklärung. Das ist natürlich erschütternd, und das schockiert mich selbst auch, der ich viele Kontakte zu den Türken in unserem Land habe. Aber ich denke einmal, da ist ein Unterschied da. Auf der einen Seite ist da die Situation in der Türkei, wo die Menschen unmittelbar mit der Diktatur konfrontiert sind. Sie wagen also, mit Nein zu stimmen. Auf der anderen Seite haben wir die Menschen aus der Türkei, viele Menschen aus der Türkei hier, die in der einen oder anderen Weise unzufrieden sind mit ihrem Status, irgendwo die Integration nicht vollständig geschafft haben, und die sehen nun diesen starken Mann, der ihnen etwas zuruft, und den wählen sie.
    In jedem Falle ist natürlich jetzt angesagt, dass wir mit unseren türkischen Mitbürgern, insbesondere denen, die klar sich zu Herrn Erdogan bekennen, einen Dialog führen und sie fragen, wo drückt euch der Schuh, was kann man anders machen.
    "Das ist eine schlechte Nachricht für Yücel"
    Zagatta: Da gibt es ja die Forderung aus der Union, wir werden es nachher auch noch hören, die doppelte Staatsbürgerschaft abzuschaffen, zumindest einzuschränken. Was hätte das denn aus Ihrer Sicht jetzt für Auswirkungen auf die türkische Gemeinde in Deutschland?
    Steinbach: Ich denke, das hat keine Auswirkungen. Viele Türken sind froh, dass die doppelte Staatsbürgerschaft da ist. Sie bekennen sich als Deutsche, aber sie sagen, ich habe einen türkischen Hintergrund, und darauf bin ich auch stolz. Und andere wählen eben von vornherein die türkische Staatsbürgerschaft. Das sind Leute, die in der Organisation organisiert sind, von der ich gesprochen habe, die wählen die türkische Staatsbürgerschaft, weil sie in der einen oder anderen Weise nicht zurechtkommen. Und ich glaube, diesbezüglich hat die Frage, spielt die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft, was die Loyalität der türkischstämmigen Menschen zu Deutschland betrifft, nur eine untergeordnete Rolle.
    Zagatta: Dieser Sieg des Ja-Lagers jetzt, dass Erdogan sich durchgesetzt hat, ist das auch eine sehr schlechte Nachricht für den inhaftierten "Welt"-Journalisten Deniz Yücel, oder wäre das ohnehin egal gewesen, weil Erdogan so und so auf absehbare Zeit bestimmt, was in der Türkei da auch mit ihm passiert?
    Steinbach: Ich denke, das ist eine schlechte Nachricht. Aber auch hier muss man sehen, wir gucken auf die Rahmenbedingungen. Wenn Herr Erdogan jetzt nach seinem Sieg noch irgendeinen Wert darauf legt, mit Europa zu kommunizieren, mit Deutschland zu kommunizieren, die Scherben zu kitten, die geschlagen worden sind, dann wird er Yücel freilassen.
    Wenn ihm das völlig egal ist, wenn er weiterhin bei seinen Drohgebärden bleibt, um sich selbst zu legitimieren, dann war das eine schlechte Nachricht für Herrn Yücel.
    "Ich sehe die ungeheure Brutalität, mit der sich Erdogan durchgesetzt hat"
    Zagatta: Haben Sie diese Hoffnung noch, dass Erdogan jetzt diesen Kurswechsel vielleicht trotz alldem, was Sie uns zu Beginn des Gesprächs geschildert haben, dass er diese Kurve noch bekommt, dass er das tatsächlich will?
    Steinbach: Nein. Ganz klar nein. Ich sehe auf das, was geschehen ist in den letzten zwei, drei Jahren, ich sehe die ungeheure Brutalität, mit der er sich durchgesetzt hat. Und das ist eine Strategie, die wird er beibehalten, egal, was die Opposition sagt, egal, was die Bundesregierung sagt, egal, was die Europäische Union betrifft. Ich bin also auch mit Blick auf die Beziehungen zur Europäischen Union eher skeptisch.
    Zagatta: Und das gilt für die NATO? Da sind wir ja gewissermaßen auf die Türkei angewiesen. Wie sehen Sie diesen Punkt?
    Steinbach: Im Augenblick steht die NATO-Frage nicht im Raum. Die Türkei ist ein Verbündeter. Es gibt keine nennenswerten Diskrepanzen, was die Auffassung von Sicherheit betrifft. Natürlich, eines Tages könnte es sein, dass die Türkei sich auch da weiter entfernt, wenn sie sich an Russland weiter annähert, wenn sie Waffensysteme kauft, die mit NATO-Standards nicht kompatibel sind. Also, ganz ausgeschlossen ist das nicht, dass diese Politik der Konfrontation sich früher oder später auch belastend auf die NATO auswirken wird.
    Zagatta: Der Türkei-Experte Udo Steinbach heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Steinbach, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Steinbach: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.