Es brauche eine handlungsfähige Regierung, die den Brexit verhandeln könne, so Oettinger. Andernfalls laufe man Gefahr, dass es für beide Seiten schlecht laufe. "Starke Partner sind souverän und kommen schneller zu Ergebnissen". Die EU stehe bereit - und werde weiterhin "hart, aber fair" mit Großbritannien umgehen.
Dabei sei der Terminplan sehr eng: Nicht erst im März 2019, sondern bereits im Herbst 2018 müssten die Abmachungen zwischen EU und London stehen, betonte Oettinger. Denn bis zum März müsse noch in allen 27 Mitgliedsstaaten darüber abgestimmt werden. "Es bleiben nur 15, 16 Monate". Die britische Regierung habe durch die Wahl bereits viel Zeit verloren.
Oettinger glaubt, dass es bei der Wahl nicht nur um den Brexit ging, wie von Premierministerin Theresa May gewollt. "Es ging um soziale Gerechtigkeit und um Sicherheit". Schon das Brexit-Referendum sei seiner Ansicht nach keine reine Abstimmung über den EU-Austritt gewesen. "Manche Stimme war nicht gegen die EU gerichtet, sondern gegen die Lage im Land selbst".
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Wahrscheinlich wird der Möbelwagen gerufen werden müssen. Die Wählerinnen und Wähler haben Theresa Mays Wohnberechtigungsschein für die Hausnummer 10 in der Downing Street offenbar in Stücke gerissen. Die Premierministerin, die als strahlende Siegerin aus dieser Wahl kommen und in die Brexit-Verhandlungen ziehen wollte, steht gerupft da. Die Zahl 326 müssen wir uns merken. 326 Sitze benötigt im Unterhaus, wer allein regieren möchte. 2015 erreichten die Tories unter David Cameron 330 Sitze, also vier über dem Durst.
Am Telefon ist Günther Oettinger (CDU), der Haushaltskommissar der Europäischen Union. Guten Morgen.
Günther Oettinger: Guten Morgen.
"Ohne Regierung keine Verhandlungen"
Heinemann: Herr Oettinger, mal vorweg gefragt. Hand aufs Herz: Verspüren Sie Anflüge von Schadenfreude?
Oettinger: Man hat sicherlich gesehen im Wahlkampf, dass Fehler gemacht wurden. Aber Schadenfreude – nein. Warum? – Ungeachtet dieses Desasters für die Tories und nicht wissend, wie es jetzt weitergeht: Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die den Austritt von Großbritannien verhandeln kann. Denn das Referendum steht. Niemand stellt es in Frage. Die Briten werden die Austrittsverhandlungen führen. Und mit einem schwachen Verhandlungspartner läuft man Gefahr, dass die Verhandlungen für beide Seiten schlecht laufen.
Heinemann: Heute ist der 9. Juni. In zehn Tagen, am 19., müssten oder sollten die Brexit-Verhandlungen beginnen. Sie haben unseren Korrespondenten Friedbert Meurer gerade gehört. Muss der Termin verschoben werden? Was glauben Sie?
Oettinger: Wir stehen bereit. Michel Barnier ist bestens vorbereitet. Wir arbeiten ihm zu. Wir werden hart aber fair verhandeln. Aber ob die andere Verhandlungsseite überhaupt beginnen kann, wird sich in den nächsten Stunden zeigen müssen, wird sich in den nächsten wenigen Tagen zeigen müssen, denn ohne Regierung keine Verhandlungen.
"Ein sehr ehrgeiziger Plan"
Heinemann: Das Enddatum steht fest. Am 29. März 2019 fällt der Hammer. Dann müssen die Brexit-Verhandlungen abgeschlossen sein. Ist dieser Termin mit einer möglicherweise wackligen Regierung in London zu halten? Was glauben Sie?
Oettinger: Der Terminplan ist ja noch ehrgeiziger. Zum einen haben wir jetzt ja schon viel Zeit verloren. Denken Sie zurück: Das Referendum stammt vom Juni letzten Jahres. Jetzt haben wir Juni ein Jahr später. Geschehen ist aber praktisch gar nichts, weil die Briten sehr spät erst ihren Brief nach Brüssel sandten und jetzt die Neuwahlen anberaumten. Das heißt, wir haben fast schon ein Jahr, das wir verloren haben, und wir müssen im Oktober nächsten Jahres fertig sein, denn wir sehen dort ein gemischtes Abkommen. Das heißt, danach und damit vor März 2019 muss es durch alle 27 Mitgliedsstaaten durch die Parlamente, Bundestag, Bundesrat gehen. Deswegen muss Michel Barnier spätestens Oktober/November nächsten Jahres fertig sein. Es bleiben also gut und gerne 15, 16 Monate. Wir sind bereit, aber es ist ein sehr ehrgeiziger Plan.
Heinemann: Michel Barnier, der Franzose, leitet die Verhandlungen auf EU-Seite. Beneiden Sie ihn um seine Aufgabe?
Oettinger: Das ist ein unglaublich arbeitsintensiver und schwerer Job. Aber er hat die Erfahrung. Er war viele Jahre Kommissionsmitglied. Er war viele Jahre nationaler Minister. Er hat sich gut vorbereitet. Er hat die Zeit seit Sommer letzten Jahres genutzt. Er hat ein tolles Team, wir arbeiten ihm zu. Ich glaube, das Ganze macht ihm keine Freude, aber er wird mit Elan an die Aufgabe herangehen.
Heinemann: Herr Oettinger, Sie haben eben gesagt, die Verhandlungen werden schwieriger. Was heißt das konkret für Inhalt und Stimmung am Verhandlungstisch?
Oettinger: Die Briten haben jetzt ihre Mannschaft neu aufzustellen. Es gibt eine neue Regierung, egal wie, vielleicht auch eine Minderheitsregierung, die von Tag zu Tag von wechselnden Mehrheiten im Parlament, im Unterhaus abhängt. Man wird sehen müssen, ob der bisher benannte Verhandlungsführer der gleiche bleibt, wie die relevanten Minister aussehen. Deswegen erwarte ich mir eher Unsicherheit, denn das gilt überall. Das gilt bei Tarifverhandlungen, das gilt bei Vertragsverhandlungen in der Wirtschaft oder in der Politik. Zwei starke Partner sind souverän, kommen schneller und besser zu Ergebnissen, die beide akzeptieren können. Ein geschwächter Partner schwächt die Verhandlungen insgesamt.
"Europa gibt es ganz oder gar nicht"
Heinemann: Wie sollte denn die EU mit einem solchen geschwächten britischen Partner bei den Verhandlungen jetzt umgehen?
Oettinger: Unverändert, fair, aber konsequent. Wir haben, egal wie die Briten auftreten, die Interessen von 27 Mitgliedsstaaten und unseren europäischen Bürgern in allen dieser Länder zu vertreten und wir haben dabei nichts zu verschenken.
Heinemann: Worüber kann definitiv nicht verhandelt werden?
Oettinger: Stichwort Rosinenpickerei. Die Briten können nicht erwarten, dass sie aus dem, was Europa bietet, das für sie Günstige herausziehen und nutzen und die Pflichten oder auch die Nachteile ablehnen. Europa, die Mitgliedschaft oder auch die Partnerschaft, die Vertragspartnerschaft gibt es ganz oder gar nicht.
"Es ging zu allererst um soziale Gerechtigkeit"
Heinemann: Herr Oettinger, kann man das sich abzeichnende Wahlergebnis in Großbritannien vielleicht auch so lesen, dass die Briten dem Brexit so langsam den Rücken kehren?
Oettinger: Das müssen wir abwarten. Ich glaube, die Debatte über den Austritt wird erst konkret werden, wenn Verhandlungsergebnisse oder Teile von Verhandlungsergebnissen öffentlich sichtbar werden. Noch ist ja das Ganze für die Bürger in Großbritannien eher eine Black Box. Deswegen würde ich die Frage gerne fürs Jahresende zurückstellen. Darüber hinaus glaube ich, die Wahl war keine Brexit-Wahl, sondern es ging zu allererst um soziale Gerechtigkeit, daneben um Sicherheit, Stichwort Terroranschläge. Damit war sie eine Wahl, bei der die Situation in Großbritannien hinterfragt wurde. Ich glaube, dass auch bei der Brexit-Abstimmung vor einem Jahr schon viel stärker innerstaatliche Fragen eine Rolle gespielt haben, schon damals soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit eine Rolle gespielt hat. Manche Stimme für den Austritt war nicht gegen Europa, sondern war gegen die Lage im Lande selbst gemünzt.
Heinemann: Das heißt unterm Strich, Sie glauben, dass Theresa Mays Satz Brexit heißt Brexit nach wie vor gültig ist?
Oettinger: Das glaube ich, ja. Allerdings muss jetzt bei den Tories entschieden werden, wie sie die Verhandlungen führen, mit Frau May, wer neben ihr wie auch immer, und dann wird man sehen, ob es bei diesem Satz bleibt. Aber im Augenblick gehen wir von einem konsequenten harten Brexit als Ziel der Briten aus.
Infolge des Brexits stünden in der EU Kürzungen sowie höhere Mitgliedsbeiträge an
Heinemann: Sie sind in Brüssel der Herr der Zahlen. Großbritannien gehört zu den Nettozahlern. Wer finanziert denn künftig den britischen Teil des EU-Haushalts, wenn es tatsächlich zum Brexit käme?
Oettinger: Sie haben völlig Recht: Die Briten sind als ein wirtschaftlich starkes Land und als ein großes Land der zweitgrößte Nettozahler im europäischen Haushalt und nach einer Übergangsphase fehlen uns strukturell 10 Milliarden Euro bis 13 Milliarden Euro jährlich wiederkehrend. Deswegen werden wir den nächsten Finanzrahmen vorbereiten. Den wollen wir bis spätestens Sommer nächsten Jahres dem Rat und dem Parlament vorlegen. Nächste Woche werden wir dafür ein Reflexionspapier zum Thema Budget 2025 entwickelt haben. Und es muss ein Mix sein. Zum einen werden wir Programme kürzen, Programme umschichten und einsparen. Aber man kann 10 bis 13 Milliarden nicht durch Kürzungen erbringen. Deswegen werden die verbleibenden Mitgliedsstaaten einen etwas höheren Beitrag in Ergänzung zu Kürzungen leisten müssen.
Heinemann: EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Oettinger: Ich danke auch. Einen guten Tag.
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