Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Nach Festnahme von Protasewitsch in Belarus
Osteuropa-Experte: "Parallelen zu Nawalny offensichtlich"

Das Video mit den Bildern des verhafteten belarussischen Regimegegners Protasewitsch sei wohl nicht unter normalen Bedingungen zustande gekommen, sagte Osteuropa-Experte Wilfried Jilge im Dlf. Entscheidend dabei sei, dass Lukaschenko so etwas nur machen könne, weil er die Unterstützung aus Moskau habe.

Wilfried Jilge im Gespräch mit Stefan Heinlein | 25.05.2021
Der russische Präsident Wladimir Putin (r.) und der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko sitzen gemeinsam vor einem Kamin
"Belarus begibt sich immer mehr in die Abhängigkeit von Moskau", erklärte Osteuropa-Experte Wilfried Jilge im Dlf. (Archivbild) (imago / Russian Look / Kremlin Pool )
Belarus hat ein Flugzeug mit dem oppositionellen Journalisten und Blogger Roman Protasewitsch an Bord zur Landung in Minsk gezwungen. Das belarusische Innenministerium hat inzwischen bestätigt, dass sich Protasewitsch in Untersuchungshaft befindet. Im Staatsfernsehen wird ein Video mit einer Art Geständnis gezeigt, wo Protasewitsch erklärt, an der Organisation der Massenproteste gegen Staatschef Lukaschenko im vergangenen Jahr beteiligt gewesen zu sein. Er befinde sich deshalb in Untersuchungshaft in Minsk.
Dieses Video sei vermutlich nicht unter rechtsstaatlichen Bedingungen entstanden, sagte Osteuropa-Experte Wilfried Jilge im Dlf. "Seine Stimme war zittrig, überhastet. Auch die Spuren im Gesicht müssen uns vermuten lassen, dass auf ihn schon vorher möglicherweise auch mit körperlicher Gewalt Druck ausgeübt wurde." Der Fall erinnert an den des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny, der aktuell trotz internationaler Kritik in russischer Haft sitzt. Jilge sieht hier "offensichtliche Parallelen". Er erklärte, dass Protasewitsch schon lange ganz oben auf der Liste der belarussischen Verfolgungsbehörden stehe. Für Staatschef Lukaschenko sei das alles "eine Ausgeburt des Westens und der EU oder der Unterstützung aus dem Westen. Er hat letzten Endes wenig Möglichkeiten als die, sich immer stärker an Putin anzubinden."

Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Herr Jilge, auch Sie haben vermutlich die Bilder von Roman Protasewitsch gesehen. Welchen Eindruck hatten Sie von diesem Video?
Wilfried Jilge: Mein Eindruck war, dass dieses Video nicht unbedingt unter normalen Bedingungen zustande gekommen sein kann. Seine Stimme war zittrig, überhastet. Auch die Spuren im Gesicht müssen uns vermuten lassen, dass auf ihn schon vorher möglicherweise auch mit körperlicher Gewalt Druck ausgeübt wurde. Auf jeden Fall kann man einem Regime, was nachweislich gegen die Opposition mit Folter und brutaler Prügelgewalt vorgegangen ist, nicht unterstellen, dass hier irgendeine Befragung unter völlig rechtsstaatlichen Bedingungen stattfindet. Deswegen ist das eigentlich auch eine Quelle, die man für kaum etwas verwenden kann.
Heinlein: Folter und Gewalt gegen einen Blogger. Warum ist diese Szene, diese Blogger-Szene im Exil so gefährlich für Diktator Lukaschenko?
Jilge: Weil sie natürlich in der Situation, wo die Proteste, die eigentlichen Proteste, die offenen Demonstrationen in den Straßen zunächst einmal vom Regime brutal unterdrückt worden sind und in eine Friedhofsruhe verwandelt worden sind, diejenigen Quellen und Aktionszentren sind, die den Widerstand und die Forderung und das, was auch in Belarus passiert, öffentlich bekanntmachen und damit auch die Proteste mit aufrechterhalten. Man muss sehen, dass Protasewitsch nicht irgendjemand ist. Er steht ja schon länger auf der Liste ganz oben bei belarussischen Verfolgungsbehörden, auf der Terrorliste als ein "Extremist". Er hatte in dem wichtigen Telegram-Kanal Nexta nicht nur mit seinem Kollegen Stefan Portillo dafür gesorgt, über das brutale Vorgehen gegen Demonstranten während der friedlichen Proteste zu berichten, sondern dieser Kanal war auch so was wie ein Organisationszentrum der Proteste. Man hat den Demonstranten mitgeteilt, wo sie sich versammeln könnten, und daher sind die ein Dorn im Auge des Präsidenten Lukaschenko.
Roman Protasewitsch wird von Polizisten abgeführt.
EU reagiert mit Sanktionen - Belarus bestätigt Verhaftung von Regimekritiker
Mit Empörung und verschärften Reaktionen hat die EU auf die erzwungene Landung einer Ryanair-Passagiermaschine in Belarus reagiert. Das Regime in Minsk bestätigt, dass sich Regimekritiker Roman Protasewitsch in U-Haft befindet.
Heinlein: Herr Jilge, wie sehr nimmt sich Lukaschenko nach Ihrem Eindruck, nach Ihren Erfahrungen in seinem harten Vorgehen gegen die Opposition, gegen diese Blogger-Szene ein Beispiel am Verhalten des Kreml? Wir denken da an den Fall Alexej Nawalny. Offenbar werden ja von beiden Seiten, von Moskau und Minsk internationale Konventionen bewusst ignoriert. Sehen Sie da Parallelen?
Jilge: Da sind Parallelen offensichtlich und inwiefern sich jetzt Lukaschenko konkret ein Beispiel nimmt, das kann ich natürlich nicht sagen. Ich glaube, er würde auch selbst auf solche Ideen kommen. Aber was viel entscheidender ist, dass er das machen kann und nur machen kann, weil er die Unterstützung aus Moskau hat und sich dieser Unterstützung weiß, die er im Gegenzug dafür bekommt, dass er sich immer mehr in die Arme oder in die Umarmung von Moskau fallen lässt. Das scheint mir hier der entscheidende Hintergrund zu sein.

"Rechtsstaat stand für Lukaschenko noch nie zur Debatte"

Heinlein: Warum lässt sich Belarus und Lukaschenko in die Arme Russlands fallen? Warum hat man sich bewusst offenbar gegen die Europäische Union, gegen Brüssel entschieden?
Jilge: Wir müssen uns das doch noch mal ganz sachlich zurechtrücken. Das Lavieren von Lukaschenko in der Vergangenheit war doch nie ernst gemeint. Er hat laviert aus taktischen Gründen, um in Belarus seine Diktatur zu retten und weitgehend die Kontrolle zu behalten. Deswegen hat er auch mal Schlenker nach Brüssel gemacht. Aber ernst gemeint in dem Sinne, dass er sich tatsächlich auch zu Rechtsstaat, zu transparenten Wirtschaftsbeziehungen in seinem Land, zu mehr Rechten für die Bürgerinnen und Bürger hinreißen lässt, das stand doch für ihn nie auf der Debatte. Denn all das hätte seinen absoluten Machtanspruch gefährdet. Für Lukaschenko war dieser Ausschwenk zur EU immer nur dann sinnvoll, solange er taktisch funktioniert hat.
Und deswegen: Jede friedliche Bewegung, die das tun will, was Frau Tichanowskaja immer verkündet hat, und ganz unabhängig auch von geopolitischen Zusammenhängen, muss für Herrn Lukaschenko unakzeptabel sein. Das ist für ihn alles eine Ausgeburt des Westens und der EU oder der Unterstützung aus dem Westen. Insofern ist dieser Schritt logisch. Er hat letzten Endes wenig Möglichkeiten als die, sich immer stärker an Putin anzubinden.
Heinlein: Wie hoch, Herr Jilge, ist das Risiko, dass Lukaschenko mit seinem klaren Kurs jetzt in Richtung Moskau eingeht? Dieses kleine Land Belarus mit zehn Millionen Einwohnern gegenüber dieser Großmacht, politisch, militärisch, wirtschaftlich, dieser Großmacht Russland.
Jilge: Das ist ganz klar. Dieses Vorgehen von Herrn Lukaschenko bedeutet, dass er einen weiteren Sargnagel auf eine wirklich substanzielle Souveränität des Landes setzt. Das ist doch völlig klar. Russland hat eine günstige Situation. Für Russland ist Belarus ein wichtiger Vorposten. Russland strebt an, hier auch eine neue Militärbasis zu etablieren, direkt an der Grenze zur NATO. Das muss man immer im Hinterkopf haben. Insofern ist das eine zwangsläufige Folge und für die Opposition wird dadurch ja die Sache nicht besser, denn je mehr Kontrolle Russland auf Belarus bekommt, das macht ja den Spielraum für die Opposition in keiner Weise größer. Im Gegenteil! Es wird wahrscheinlich nur noch schwieriger.
Und was wir auch sehen müssen ist natürlich, dass solange Lukaschenko diese Rolle für Russland spielt, so lange ist er nützlich. So lange wird er unterstützt werden. Wenn er die Rolle mal ausgespielt hat, dann kann es hier durchaus auch zu Veränderungen kommen. Da sind wir noch nicht ganz, aber was ganz klar ist: Belarus begibt sich immer mehr in die Abhängigkeit von Moskau.

EU muss Nachbarländer von Belarus stärken

Heinlein: Welche Möglichkeiten vor diesem Hintergrunde, den Sie gerade geschildert haben, Herr Jilge, hat denn überhaupt die Europäische Union, hier noch Einfluss zu nehmen auf die Entwicklung in der Region?
Jilge: Die Europäische Union muss endlich Strategien in ihrer Nachbarschaftsregion entwickeln – Strategien, die verflochten sind zwischen erweiterter Sicherheit, Wirtschaft und auch der Wahrung des internationalen Rechts. Ich nenne nur mal das Beispiel der Schwarzmeer-Region, wo ja auch die EU ganz massive eigene Interessen hat. Da muss sie ihre Partner stärken, die Georgier, die Ukrainer, die Moldauer, weil man einen direkten Einfluss auf Moskau so einfach nicht hat. Deswegen muss man selbst für ein attraktives Auftreten in der Region sich einsetzen. Dazu bedarf es einer Strategie. Die muss auch sicherheitspolitische Komponenten einschließen.
Solange das nicht passiert, Herr Heinlein, wird Russland immer denken, warum sollen wir unser Verhalten in Belarus, im Donbass denn ändern, solange wir die großen strategischen Ziele in den großen Regionen Schwarzes Meer, Syrien und so weiter fortsetzen können, wenn uns – man könnte es so sagen – Territorien der Unordnung zum eigenen Bespielen hinterlassen werden. Deswegen müssen jetzt nicht neue Berichte verfasst werden in Brüssel, sondern es muss endlich eine umfassende Strategie zur Wahrung von Sicherheit, Wohlstand und internationalem Recht in den unmittelbaren Nachbarschaften der EU aufgelegt werden. Denn mit nur Sanktionen und nur Diskussionen über Nord Stream zwei wird Russland nicht einfach zu beeinflussen sein.
Heinlein: Sollte Brüssel, sollte die Europäische Union stärker auf diese Nachbarländer von Belarus hören? Denn im Baltikum, in Polen sind die Sorgen ja besonders groß und man kennt die Region. Ist das, was Sie sagen, was Sie angedeutet haben, diese fehlende Strategie, noch nicht in den Köpfen der Politiker in Brüssel, Berlin oder Paris angekommen, in Warschau und Riga aber schon?
Jilge: Das kann man auf jeden Fall von den ostmitteleuropäischen Partnern lernen, die nun auch nicht immer sicherlich die richtigen Lösungen haben. Aber ich nenne es mal nur am Beispiel der Ukraine. An der Ukraine entscheidet sich doch nicht nur, ob die Ukrainer in Gerechtigkeit und in einer besseren wirtschaftlichen Zukunft leben werden, sondern dort entscheidet sich doch auch die Sicherheit und die Zukunft der gesamten EU.
Und erst wenn begriffen wird – und das hat man in Polen oder in Litauen tatsächlich besser begriffen -, dass diese Protestbewegung in Belarus oder auch die Veränderung in der ukrainischen Gesellschaft bei allen anderen Rückschlägen, die wir deutlich beim Namen nennen müssen, oder die Mehrheitsgesellschaft in Georgien, das sind doch Perspektiven für die EU, das sind Chancen und diese Partner muss man stärken. Und wenn es dann zu resilienten Nachbarn kommt, denen auch ein Angebot an und in der EU gemacht wird, dann wird auch Russland die EU als Partner wieder ernster nehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.