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Nachruf auf Charles Aznavour
Ein Mann mit Haltung und Mitgefühl

Anfangs von den Kritikern verlacht, stieg Charles Aznavour zum gefeierten Chanson-Sänger auf. Dazu trugen nicht nur die Schauspielerei und Beziehung zu Edith Piaf bei, sondern auch sein akribisches Feilen an Ton und Text – gern auch bei Tabuthemen.

Von Thekla Jahn | 01.10.2018
    Ein schwarz-weiß Bild des französischen Sängers Charles Aznavour auf der Bühne während eines Konzerts in Prag.
    Der französische Sänger Charles Aznavour ist tot. (imago / CTK Photo)
    Charles Aznavour 1968 im Pariser Olympia mit einem seiner größten Chansons: "Emmenez moi."
    "Nimm mich mit ans Ende der Welt, in ein Wunderland. Denn mir scheint, als sei es in der Sonne leichter, das Elend zu ertragen." Charles Aznavour - als Kind armenischer Einwanderer in Frankreich geboren - wusste wovon er sang. Geschenkt bekam er nichts. Heute mag man es kaum glauben, aber in den 50er-Jahren wurde er ausgepfiffen und von der französischen Kritik verrissen: Er sei mit 1,61 Meter zu klein, außerdem seien er und seine raue Stimme "hässlich":
    "Man sollte nicht immer auf die anderen hören. Wenn man ein bisschen was im Herzen und im Kopf hat, muss man weitermachen, nach vorne schauen."
    Optimismus und Humor
    Geholfen haben ihm sein unerschütterlicher Optimismus, sein verschmitzter Humor, aber auch Edith Piaf, mit der ihn - wie er es beschrieb - eine "amitée amoureuse" verband ; das sei mehr als Freundschaft, aber weniger als Liebe. Beide waren als Migrantenkinder in den Straßen von Paris aufgewachsen, in beiden Stimmen brannte die Sehnsucht. Er schrieb Lieder für sie, sie nahm ihn mit auf Tour und überredete ihn schon in der 50er-Jahren zu einer Nasen-OP. Doch Charles Aznavour verließ sich nicht auf Äußerlichkeiten allein. Hartnäckig arbeitete er daran, bessere Chansons als die Franzosen zu schreiben:
    "Ein guter Text ist genauso gut wie ein gutes Gedicht, wenn die Wörter stimmen, in denen alles steckt: der Sinn, der Rhythmus, und die Farbe."
    Bis zum Schluss lagen Wörterbücher und Synonymlexika neben seinem Bett: Er feilte und schliff an Text und Musik, an poetischen Melodien, zu denen sich erst danach der Rhythmus gesellt und die melancholisch, aber auch lebensfroh sein konnten. Nicht nur für sich, sondern auch für Kollegen wie Juliette Greco, Gilbert Becaud oder Johnny Hallyday schrieb er mehr als 1.400 Chansons.
    "Ich bin sehr diszipliniert, ohne Disziplin kann man in unserem Beruf nicht leben, Ich schreibe jeden Tag."
    Tabuisierte Themen
    Große Emotionen. Die "Gitana" - die Zigeunerin, die nur mit den Augen liebt - Aznavours Interpretation erweckt sie förmlich zum Leben. Diese Intensität durchzieht alle seine Chansons. Chansons, in denen er gern tabuisierte Themen aufgriff. Ob er über Depression oder Homosexualität sang, über postkoitale Erschöpfung oder Integrationsprobleme - immer war eine tiefe Empathie für seine Mitmenschen zu spüren. Und für den Wandel der Zeit.
    Seinen weltweiten Erfolg mit fast 200 Millionen verkauften Platten verdankte Aznavour nicht zuletzt seinem schauspielerischen Talent. Das brachte ihm schon früh Rollen in Filmen von Francois Truffaut und Claude Chabrol ein, in Volker Schlöndorffs "Blechtrommel" und - neben vielen anderen - zuletzt 2002 in Atom Egoyans Film "Ararat", der vom Völkermord an den Armeniern handelt. Charles Aznavour fühlte sich dem Land seiner Eltern verbunden, engagierte sich bei Hilfs- und Schulprojekten, nahm 2008 die armenische Staatsbürgerschaft an und wurde Botschafter Armeniens in der Schweiz, wo er mit seiner Familie wohnte.
    Von seinen Kritikern zu Beginn verlacht, ist er zu einem der ganz großen Chansonniers geworden, dessen Stimme auch weit über das 90. Lebensjahr hinaus nicht versagte: Ein Mann mit Mitgefühl und Haltung. "Im Leben haben Menschen die Wahl: entweder sind sie mutig und frei - oder sie sind nicht frei."