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Nahost-Konflikt
"Wir steuern direkt auf einen totalen Bürgerkrieg zu"

Der israelische Autor Nir Baram ist für sein Buch "Im Land der Verzweiflung" in die besetzten Gebiete gefahren. Er habe überprüfen wollen, ob eine Zwei-Staaten-Lösung überhaupt noch möglich sei, sagte er im DLF. Angesichts der Verzweiflung der Palästinenser warnte Baram vor einer Eskalation der Gewalt.

Nir Baram im Gespräch mit Peter Kapern | 25.02.2016
    Der israelische Journalist und Autor Nir Baram auf einem Bild aus dem Jahr 2012.
    Der israelische Journalist und Autor Nir Baram auf einem Bild aus dem Jahr 2012. (Imago / Leemage)
    Peter Kapern: Die Grundlage Ihres Buchs bilden Reportagen von Reisen durch die Westbank. Was wollten Sie herausfinden, als Sie dort unterwegs waren?
    Nir Baram: Zunächst einmal wollte ich verstehen, wie die Menschen dort leben, und wie die Realität dort aussieht, der Alltag unter der Besatzung. Aber darüber hinaus wollte ich auch verstehen, welche Hoffnungen, welche Träume, welche Zukunftsideen die Menschen im Westjordanland haben. Ob sie eine Beendigung der Besatzung für möglich halten. Aber an allererster Stelle hat mich noch etwas anderes interessiert: Wir hier in Tel Aviv haben ja eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Besatzung der Westbank beendet werden muss. Und ich wollte überprüfen, ob dieser Plan überhaupt noch umsetzbar ist. Das ist für mich die alles entscheidende Frage.
    Kapern: Welche Vorstellung vom Ende der Besatzung hat man denn hier in Tel Aviv? Die Zwei-Staaten Lösung?
    Baram: Ja, in Tel Aviv ist das noch immer die populärste Idee: Die Besatzung zu beenden durch die Implementierung der Zwei-Staaten-Lösung, die ja den 1990er -Jahren entstammt. Damals gab es die Clinton-Initiative, die Tabah-Verhandlungen, dieses Modell einer Separation von Israelis und Palästinensern ist hier in Tel Aviv immer am populärsten, hier gibt es nur wenige, die eine Ein-Staaten-Lösung wollen. Auf der palästinensischen Seite sieht das anders aus. Dort wird die Ein-Staaten-Lösung von viel mehr Menschen unterstützt und diskutiert. Nicht nur die Intellektuellen in Palästina, auch immer mehr ganz normale Menschen befürworten dort die Ein-Staaten-Lösung. Das hat politische und ökonomische Gründe, und sie glauben einfach nicht mehr, dass eine Zwei-Staaten-Lösung noch durch Verhandlungen erreichbar ist. Sie glauben an einen Prozess, an dessen Ende ein gemeinsamer Staat steht.
    "Hauptsache, die Besatzung endet"
    Kapern: Aber für wie realistisch halten Sie denn nach Ihrer Reise durch die Westbank die Zwei-Staaten-Lösung, an der ja auch die Europäische Union noch immer festhält?
    Baram: Schauen Sie, ich unterstütze jede Lösung, die zu einem Ende der Besatzung führt. Ich bin da gar nicht wählerisch. Es ist mir nicht wichtig, ab sich am Ende meine Vision durchsetzt oder eine andere. Hauptsache, die Besatzung endet. Aber der europäische Plan für ein Ende der Besatzung berücksichtigt ja gar nicht die Tatsache, wie viele jüdische Siedler mittlerweile in Ostjerusalem und im Westjordanland leben, wie viele Siedlungen es dort gibt. Sie sind überall, nicht nur in den großen Siedlungsblöcken, sie sind einfach überall, egal, über welche Straße man durch das Westjordanland fährt, überall sieht man die Siedlungen. Wir sind also nicht mehr in den 1990er-Jahren, wir haben es 2016 mit einer neuen Realität zu tun, in der sich hunderte und aberhunderte Siedlungen überall im Westjordanland finden. Und in denen leben hunderttausende Siedler.
    Juden und Palästinenser leben dort also miteinander total vermischt. Und ich kenne einfach keine politisch umsetzbare Idee, wie man diese Siedler aus dem Westjordanland wieder herausbekommen könnte. Und die Vorstellung, dass die Palästinenser eine Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren könnten, bei der die Siedler dort bleiben, wo sie sind, die ist völlig falsch.
    Kapern: Was könnte den an die Stelle der Idee zweier voneinander getrennter Staaten treten?
    Baram: Ich habe da keinen vollständig ausgearbeiteten Plan vorzuweisen. Aber ich gehöre einer Gruppe an, die ein Modell vertritt mit dem Namen: "Zwei Völker – Eine Heimat". Das bedeutet: Jeder kann weiter dort leben, wo er jetzt lebt. Es gibt keine Verschiebung von Bevölkerungsgruppen, und das ist sehr wichtig. Und dann muss eine Situation hergestellt werden, in der Israelis und Palästinenser sich in diesem Land frei bewegen können. Also: es würde so wie jetzt einen palästinensischen und einen jüdischen Staat geben. Es wird jüdische Siedler in Palästina geben und Palästinenser haben das Recht, genauso wie die Israelis an jedem Ort im Lande zu leben. Ich denke, dass das eine sehr realistische Lösung ist. Weil dafür im Prinzip alles weitgehend so bleiben kann, wie es jetzt ist. Das größte Problem mit den Ideen aus den 1990er-Jahren ist doch, dass sie gigantische Bevölkerungsverschiebungen notwendig machen würden, die doch gar keine politische Partei umzusetzen in der Lage ist. Und die Europäer befürworten seit 45 Jahren so eine Lösung, die Bevölkerungsverschiebungen notwendig macht. Aber was unternehmen sie, um diese Lösung auch voranzubringen? Meine Antwort: Gar nichts!
    "Die sind verzweifelt, die haben von den Juden die Nase voll"
    Kapern: Warum soll man die Idee, Siedler aus den besetzten Gebieten abzuziehen, einfach aufgeben? Schließlich ist das doch bei der Räumung des Gazastreifens auch schon einmal durchexerziert worden.
    Baram: Im Gazastreifen gab es zehntausend Siedler. Jetzt reden wir über 500.000 Menschen, die über die gesamte Westbank und Ostjerusalem verstreut leben. Also: Wie sieht ein handhabbarer Plan aus, sie von dort wegzubekommen? Und wenn die Palästinenser akzeptieren sollen, dass die Siedler bleiben: was bekommen sie dann im Gegenzug dafür? Also, man kann nicht Palästina durch eine Mauer abgrenzen und die Siedler auf der anderen Seite der Mauer lassen. Und wenn das tatsächlich eine so großartige Idee sein sollte, dann frage ich Sie: Warum haben wir in den letzten 50 Jahren immer weiter von einer Umsetzung entfernt?
    Kapern: In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihre Diskussionen mit Palästinensern und Juden, die dasselbe fordern. Die nämlich sagen: wir wollen alles. Wir wollen das ganze Land und wir wollen, dass die anderen verschwinden. Wie überzeugen Sie diese Menschen von Ihrer Idee, nach der zwei Staaten in einem Land bestehen sollen?
    Baram: Das ist eine gute Frage. Als ich mich auf die Reisen ins Westjordanland gemacht habe, da habe ich mir geschworen, exakt zu beschreiben, was ich dort sehe und höre, ich wollte nicht irgendwelche netten Dinge aufschreiben, um meine eigenen Ideen populärer zu machen. Es gibt viele Palästinenser, die nichts von der Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung halten, die überhaupt keine Israelis hier haben wollen, die sind verzweifelt, die haben von den Juden die Nase voll, genauso wie von der Besatzung. Die glauben einfach nicht, dass man irgendwie zusammen leben kann.
    Aber es gibt in der Westbank auch viele Juden, die nicht jeden Tag einen Palästinenser sehen wollen, die nicht eines Tages in einem palästinensischen Staat leben wollen. Diese Gruppen sind stark, und sie werden jeden Tag stärker, weil das Alltagsleben in der Westbank so grauenvoll ist. Aber man darf nicht vergessen: es gibt auf beiden Seiten auch jene, die noch immer an eine Konfliktlösung glauben, an die Möglichkeit der Co-Existenz. Und die müssen jetzt mit einem neuen Vorschlag kommen, damit sie die Leute von der alten Vision des friedlichen Zusammenlebens wieder überzeugen. Die Zwei-Staaten-Lösung verliert ständig an Unterstützung. So viele Palästinenser sagen den Juden mittlerweile: Das hier ist unser Land, geht doch einfach zurück nach Europa. Darüber mache ich mir große Sorgen, das ist eine gefährliche Entwicklung. Und deswegen ist es notwendig, jetzt eine neue Vision von einer Verständigung von Juden und Palästinensern zu entwickeln.
    "Dass die Zeit abläuft, das höre ich jetzt seit 30 Jahren"
    Kapern: Auf der anderen Seite sehen wir doch die aktuelle Situation. Fast jeden Tag gibt es mehrere Angriffe junger Palästinenser, die Juden mit Messern angreifen. Und das im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass sie den Messerangriff nicht überleben werden. Die Situation verschlimmert sich von Tag zu Tag. Und die Lösung, die Sie anbieten, braucht viel Zeit. Gibt es die, läuft die Zeit für eine Konfliktlösung nicht ab?
    Baram: Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist: Dass die Zeit abläuft, das höre ich jetzt seit 30 Jahren. Und selbst wenn - am Ende der Zeit leben wir immer noch hier. Juden und Palästinenser werden immer noch da sein. Und so lange, wie wir hier leben, haben wir auch noch Zeit. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch angefangen habe, da herrschte Ruhe in der Westbank. Aber die Leute haben mir dauernd gesagt: Die Ruhe wird enden, es wird eine brutale Intifada geben. Und genau die sehen wir jetzt. Mein Buch zeichnet auf sehr feine Weise diesen Weg von der Ruhe zur Intifada nach, von Kapitel zu Kapitel können sie sehen, wie sich die Situation verändert.
    Was ich sage, ist das: Irgendwann endet diese Gewaltwelle, dann kommt Ruhe, und dann wieder eine Welle der Gewalt. Und so weiter. Und deshalb muss man doch erkennen: Man kann die derzeitige Situation der Palästinenser in der Westbank und in Ostjerusalem nicht aufrechterhalten. Ich habe bei meinen Recherchen Orte in Jerusalem gesehen, die waren schrecklicher als jeder andere Ort, den ich jemals in meinem Leben gesehen habe.
    Schlimmer als in jedem Drittwelt-Land, das ich besucht habe. Vor allem in jenen Teilen Ostjerusalems, die hinter der Sperrmauer liegen. Niemand im restlichen Israel glaubt, dass Menschen dort unter solchen grauenvollen Bedingungen leben müssen. Dagegen müssen wir vorgehen. Aber nicht mit den Instrumenten der 1990er-Jahre, die sind doch nur noch lächerlich.
    Kapern: Der Titel Ihres Buchs lautet: "Im Land der Verzweiflung". Wer ist verzweifelter: die Palästinenser oder der Autor?
    Baram: Die Palästinenser. Ich vergleiche meine Situation nicht mit der der Palästinenser, die rechtlos leben, ohne das Recht, sich frei zu bewegen, mit einer israelischen Armee, die in jeden Lebensbereich der Palästinenser eindringt, die jeden Palästinenser verhaften kann, selbst wenn der in Ramallah oder einer anderen, von den Palästinensern selbst verwalteten Stadt lebt. Natürlich sind die viel verzweifelter als ich. Und ich habe das Buch geschrieben, weil die ganze Westbank und Ostjerusalem voll von verzweifelten Menschen sind. Voll von verzweifelten Menschen, die nicht mehr lange so weiter leben können. Ich fürchte, dass die Messerangriffe, die wir in den letzten Monaten gesehen haben, nichts sind im Vergleich zu dem, was in zwei oder vier oder sechs Jahren geschehen wird. Wir steuern direkt auf einen totalen Bürgerkrieg zu.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.