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Najat El Hachmi: „Eine fremde Tochter“
Leben zwischen halal und haram

Najat El Hachmi erzählt die Emanzipationsgeschichte einer jungen Marokkanerin, die nach Spanien auswandert. Dort lebt sie im Zwiespalt zwischen ihrer traditionell muslimisch geprägten Heimat und den Verlockungen einer liberalen Gesellschaft.

Von Shirin Sojitrawalla |
Die Schriftstellerin Najat El Hachmi und ihr Buch „Eine fremde Tochter“
Die Schriftstellerin Najat El Hachmi und ihr Roman "Eine fremde Tochter" (Foto: Alex Akeru, Buchcover: Orlanda Verlag)
"Ich werde nicht mehr für euch da sein. Ab jetzt werde ich für mich da sein. Für mich oder für wen ich möchte, aber für niemanden mehr, der mich niedergedrückt und ohne Kopf will."
So lautet das vorangestellte Motto des Romans. Seine Autorin Najat El Hachmi setzt damit den Ton ihrer Ich-Erzählerin. Es handelt sich um eine junge marokkanische Frau, die es mit ihrer Mutter nach Katalonien verschlägt. Während die Tochter Bücher und das Denken liebt, versucht die sittenstrenge analphabetische Mutter, aus der Tochter eine gute Muslima zu machen. Die beiden leben zwar zusammen, aber in zwei Welten: Die Tochter achtet auf ihre Figur, die Frauen ihrer Familie schlemmen hemmungslos. Besonders offenbar werden die Unterschiede bei Besuchen in der alten Heimat. So vermuten die Verwandten angesichts ihrer Figur, dass sie im Ausland nichts zu essen bekäme:
"Ich weiß, sie meint meine hervorstehenden Rippen, und ich kann ihr nicht sagen, dass ich es für eine meiner großen Leistungen halte, kein Milligramm Fett zwischen Haut und Knochen zu haben. Ich sage ihr nicht, wie nervös es mich macht, dass es hier keine Waage gibt, mit der sich überprüfen ließe, ob ich zu- oder abnehme oder mein Gewicht halte, und dass ich hier auch so gut wie keine meiner Fitnessübungen absolvieren kann."
Verboten versus Erlaubt
Würde sie draußen in den Feldern joggen gehen, ihre Verwandten würden sie für verrückt erklären. Die Unterschiede den eigenen Körper und die eigene Fitness betreffend sind nur äußerliche Zeichen einer gravierenden Spaltung: marokkanisch muslimischer Lebensstil trifft auf den europäisch westlichen way of life. Mutter und Tochter verkörpern diese zwei Welten, die sich moralisch, intellektuell und sinnlich unterscheiden. Die Tochter schwankt hin und her. Jede Bewegung hinein in die Gesellschaft Spaniens entfernt sie von ihrer eigenen Mutter. Die alten Sitten sind zwar längst nicht mehr ihre, doch als "leichtes Mädchen" möchte sie dennoch nicht verleumdet werden. Sie bemüht sich, beide Welten zu versöhnen und scheitert an der Rückständigkeit ihrer alten und der Modernität ihrer neuen Heimat.
Die marokkanische Autorin Najat El Hachmi, die selbst mit ihrer Mutter als Kind nach Spanien emigrierte, versteht es auf Schönste, der Zerrissenheit ihrer Protagonistin Ausdruck zu verleihen. Die lustvoll wortschöpfende Übersetzung von Michael Ebmeyer aus dem Katalanischen tut ihr Übriges:
"In einem staubigen Land, wo die Leute sich nur einmal in der Woche von oben bis unten säubern, bildet sich auf der Haut vielleicht wirklich eine Schicht, die sich dann beim Schrubben herunterkringelt."
Den mittelalterlich anmutenden Traditionen des ländlichen Marokkos, wo die Welt sich in halal (erlaubt) und haram (verboten) teilt und man kleinen Mädchen davon abrät, wild herumzuspringen, da das heilige Jungfernhäutchen reißen könnte, stellt der Roman die liberalen Verlockungen einer aufgeklärten Gesellschaft gegenüber. Für das eigene Begehren findet er akkurate Bilder, die sinnlichen Genüsse des Orients feiert er opulent.
Nichtsnutziger Ehemann
Das rückschrittliche Frauenbild der Familie entsetzt einen beim Lesen ebenso wie die früh fallende Entscheidung der Ich-Erzählerin, einer Zweckheirat zuzustimmen. Der Sohn ihres Onkels, ihr Cousin, steht zu diesem Zweck bereit. Wenn sie ihn heiratet, darf auch er nach Europa. Es kommt, wie befürchtet: Der Mann vertändelt seine Tage auf dem Sofa und macht sich in der Nacht über seine Ehefrau her, die sich weiß Gott Schöneres vorstellen könnte:
"Was folgte, war, dass er mich irgendwie packte, mir mit einer Hand fest ins Gesicht griff, sodass ich den Mund öffnete und er seine schlaffe, nasse Zunge hineinstecken konnte. Sie erinnerte mich an die Rinderzungen, die meine Mutter oft kaufte. "
Ihr nichtsnutziger Ehemann verbündet sich mit ihrer Mutter gegen sie, sie überreden sie zunächst, ein Kopftuch zu tragen. Das Kopftuch verbindet sie mit ihrer Familie und erschwert das Leben in der neuen Heimat, denn dort wirken Frauen mit gelösten, unbedeckten Haaren besser integriert, wie die Erzählerin weiß. Es ist auch die Wahrhaftigkeit manch einer Erfahrung, die diesen Roman so lesenswert macht. Er gewährt einen Blick ins Innere einer fremden Welt, das betrifft die ritualisierte Hochzeitszeremonie genau so wie das stürmische Seelenleben der Ich-Erzählerin.
Aufregende Emanzipationsgeschichte
El Hachmi verbindet ihren Roman mit dem Appell, sich um diejenigen zu kümmern, die aufbegehren, sie zu bestärken, ihren eigenen Weg zu gehen, ihnen Zuflucht zu gewähren.
Sie klagt dafür niemanden an, sondern beschreibt unterschiedliche Lebensstile und die Schwierigkeit, sie zu verbinden oder sie zu wechseln wie einen Kontinent. Heraus kommt eine aufregende Emanzipationsgeschichte, die der Kraft der Literatur ebenso vertraut wie der eigenen inneren Stimme. Kurzum: ein ebenso erstaunliches wie erbauliches Buch.
Najat El Hachmi: "Eine fremde Tochter"
aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer
Orlanda Verlag, Berlin. 225 Seiten, 22 Euro.