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Neudeck: In israelisch besetzten Gebieten herrscht Apartheid

Die rivalisierenden Palästinensergruppen von Hamas und Fatah haben sich offenbar auf eine Übergangsregierung geeinigt. Israel sieht diese Entwicklung kritisch und behindert den palästinensischen Alltag weiter, wo es nur geht - bis hin zum Verbot für Palästinenser, auf "israelischen" Straßen zu fahren, sagt "Grünhelme"-Vorsitzender Rupert Neudeck.

Das Gespräch führte Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Die im Gazastreifen herrschende Hamas ist offenbar bereit zur Machtübergabe an eine Übergangsregierung unter dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas. Am vergangenen Montag hatten Abbas und Hamas-Chef Maschal mit einem Abkommen einen entscheidenden Schritt zu einer Versöhnung ihrer rivalisierenden Gruppen unternommen. Dies wird in Israel ausgesprochen kritisch beobachtet, die Hamas gilt als Terrororganisation. Überhaupt hat auch die Arabellion, der Aufstand in den arabischen Staaten, die Regierung in Jerusalem überrascht und unter Zugzwang gesetzt. Ein wesentliches Hindernis auf einer Lösung im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist die Betonierung der Palästinensergebiete, das heißt die Siedlungspolitik. – In Jerusalem sind wir mit Rupert Neudeck verbunden, dem Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme". Diese Organisation baut auch, aber für Palästinenser. Guten Morgen!

    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Heinemann!

    Heinemann: Herr Neudeck, was benötigt, wer im Westjordanland bauen möchte?

    Neudeck: Er benötigt ganz viele Dokumente. Manchmal gehen die zurück in die verschiedenen Rechtssysteme, die im Westjordanland früher geherrscht haben. Es gab dort das Osmanische Reich, das wurde dann abgelöst von der britischen Besatzung, und jetzt gibt es ein israelisches Besatzungsrecht, also ein Militärrecht, und das alles muss ein Palästinenser zusammenbringen. Dann muss er es zu einer Autorität bringen, die seine Besatzungsbehörde ist, und dann weiß er zusätzlich noch – und das macht die Sache noch besonders pikant und schwierig -, dann weiß er zusätzlich noch (und das weiß auch unser Minister für Entwicklungshilfe, Herr Niebel, der das alles mitbekommen hat vor zwei Wochen), dass er in 99 Prozent der Fälle, die eingereicht werden, eine Baugenehmigung nicht bekommt. Das alles zusammen macht natürlich einen Zustand für diese Menschen, in dem sie nicht das Gefühl haben, dass sie rechtlich gut beraten werden. Wie soll das auch sein, es bleibt ja weiter der Grundtatbestand für diese Menschen, die jetzt hier auch Schulen bauen wollen und anderes für ihre Gemeinden, der Grundtatbestand bleibt eben ein Unrechtstatbestand, und das ist schlicht die Besatzung.

    Wir haben vor, eine Berufsausbildungsschule auf einem Berg in der Zone C zu bauen. Das ist ganz besonders schwierig, weil, die Zone C, die wurde im Oslo-Abkommen 1994 beschlossen und die ist eigentlich unter israelischer Kontrolle, und dort sind auch sechs Siedlungen, große Städte entstanden, die alles haben, was die Infrastruktur eines großen Dorfes, oder einer halben Stadt schon bedeutet. Das ist alles ein Tatbestand, der kaum aufzulösen mehr ist, und deshalb kann man den auch nicht allein mit juristischen oder gerichtlichen Maßnahmen und Imponderabilien klären.

    Heinemann: Das heißt, dieser administrative Hürdenlauf gilt auch für Schulen, Krankenhäuser und soziale Projekte?

    Neudeck: Ja, er gilt eigentlich für alles. Man hat manchmal das Gefühl, dass diese israelische Gesellschaft, die ja eine unglaublich lebendige ist und die, das muss man auch immer wieder sagen, eine sehr meinungsfreudige, in der alles diskutiert werden kann – das gilt weiter bis heute, das darf man nicht vergessen -, aber das hindert nicht daran, dass diese israelische Gesellschaft insgesamt in ihrer Politik gegenüber der Bevölkerung, die ja nun sehr groß geworden ist in den palästinensischen Gebieten, also in der Westbank und im Gazastreifen, es hindert nicht, dass denen weiter in dieser Weise Unrecht geschieht, weil sie müssen ja weiter leben, sie wollen ja eine Perspektive entwickeln für sich, für ihre Kinder, sie wollen eine Berufsperspektive entwickeln, eine Ausbildungsperspektive. Das alles wird im Grunde behindert durch diese Aktionen. Ein Beruf hat in dieser ganzen Gegend hier einen unglaublichen Aufschwung, einen Boom erregt: Das ist eben der Beruf des Anwalts. Hier brauchen wir überall, für jeden kleinen Schritt braucht man hier einen Anwalt, und den muss man natürlich bezahlen, und das macht die Sache auch noch mal im Grunde immer wieder schwieriger.

    Heinemann: Andererseits profitieren die Palästinenser doch von der israelischen Infrastruktur, zum Beispiel von Straßen.

    Neudeck: Nein, davon profitieren sie nicht. Das ist ein politisches Problem geworden. Bei den Straßen kann man ja selbst erleben – und ich erlebe das ja auch, weil ich als Ausländer, der hier reinkommt, ein Privilegierter bin. Ich fahre ja mit einem israelischen Auto auf Straßen in die Westbank hinein, die nicht für Palästinenser zugelassen sind. Das sind also im Grunde Straßen, die nur für israelische Staatsbürger zuständig sind. Auf diesen Straßen fahren morgens die vielen, die mittlerweile bis auf 450.000 angewachsene Zahl von jüdischen Siedlern in der Westbank, die fahren auf diesen Straßen zu ihren Arbeitsstätten nach Herzliya, an die Küste, nach Haifa, nach Tel Aviv, nach Jerusalem. Das sind alles Straßen, die im Grunde ausgegrenzt sind, die auch militärisch bewacht sind. Das sind nicht nur die sogenannten Siedlungen, sondern das sind auch diese Straßen, und deshalb sagen die Palästinenser zurecht, dass für die Beschreibung dieses Systems, was da entstanden ist in den letzten 40 Jahren, der Terminus, der hässliche Terminus Apartheid durchaus zuständig ist, denn diese Straßen, diese Infrastruktur, die Sie eben erwähnt haben, ist für die Palästinenser nicht da, sondern nur für die Bewohner Israels.

    Heinemann: Zusätzlich, Herr Neudeck, erlebt Israel auch die Folgen des Migrationsdrucks. Wie geht der Staat mit Asylbewerbern aus Afrika um?

    Neudeck: Also das wird wahrscheinlich eines der größeren Probleme werden – nicht nur für Europa, sondern auch für Israel -, weil der Strom nicht zu stoppen ist, der durch das Niltal kommt. Die Arabellion hat da wahrscheinlich sogar auch noch mit dazu beigetragen, weil Ägypten eben freier geworden ist. Es kommen eine Menge an Asylbewerbern, an Afrikanern zum Beispiel in Tel Aviv an, die in einem Park untergebracht sind in Zelten und die dort keine Arbeit haben, die aber dann in dieser Gesellschaft, in der es auch meist mehr Möglichkeiten gibt als der Gesetzgeber erlaubt, die dann auch zur Arbeit gehen, an die Küste, in den Häfen. Es gibt sehr viele Eritreer, es gibt sehr viele Sudanesen, es gibt sehr viele Somalis, man sieht das auch im öffentlichen Erscheinungsbild. Israel weiß, glaube ich, noch nicht, welche Politik es macht. Es hat ja innen eigene große Probleme, das haben wir ja in Deutschland auch mitbekommen, durch die Demonstrationen von Hunderttausenden von armen Israelis, also von armen Juden, die in dieser Gesellschaft eben nicht mehr den Wohlstandsstaat genießen, sondern eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die ihnen nichts bringt. Das alles zusammengefasst bringt eben dazu, dass man auch nicht sehr freundlich, also nicht sehr sympathisierend, mit den Menschen umgehen, die ja Israel auswählen als ihren Staat, durch den sie hindurch wollen, dann vielleicht auch in die Türkei und dann nach Europa. Aber sie werden eben auch so behandelt, dass sie einen provisorischen Status haben. Es kommt in den Zeitungen zu Berichten darüber. Israel hat offiziell erklärt, dass es nicht offen ist für diese große Welle von Migranten, die aus Afrika über das Mittelmeer und über die Seitenstraßen Westafrikas und Ostafrikas eben auch über Israel kommen wollen, um dann den gelobten Kontinent Europa zu erreichen.

    Heinemann: Herr Neudeck, Sie haben die Arabellion angesprochen. Wie reagieren die Palästinenser auf den arabischen Frühling? Leider muss ich Sie jetzt bitte um eine Antwort im Telegrammstil bitten mit Blick auf die Uhr.

    Neudeck: Sie beobachten das ganz genau und haben eine große Bewunderung für die amerikanische Politik entwickelt, die ja eine erste islamische Partei, die Muslimbrüder in Ägypten, im Grunde anerkannt hat und mit ihnen zusammen Politik machen will. Das erleben sie als ein Hoffnungszeichen auch für ihre eigene Situation, weil sie weiterhin davon ausgehen, dass die USA für sie wichtig sind.

    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme". Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neudeck: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.