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Neue EU-Kommission
"Es reicht nicht, wenn es grüne Überschriften gibt"

Grünen-Politikerin Ska Keller wirft der neuen EU-Kommission vor, bei Landwirtschafts- und Handelspolitik nichts ändern zu wollen. So könne die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprochene Klimapolitik aber nur halbherzig funktionieren, sagte sie im Dlf.

Ska Keller im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 27.11.2019
Ska Keller beim Treffen der europäischen Grünen in Villeurbanne
Grünen-Politikerin Ska Keller sieht Defizite bei der von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigten Klimapolitik (dpa/picture alliance / NurPhoto)
Jörg Münchenberg: Erste Station in dieser Sendung ist Straßburg. Da muss heute das EU-Parlament noch einmal die neue EU-Kommission als Ganzes absegnen, bevor die dann mit einmonatiger Verspätung zum 1. Dezember offiziell ihre Arbeit aufnehmen kann. Ursula von der Leyen, die erste Frau an der Spitze der mächtigen Behörde, die hat schon mal die Richtung vorgegeben. Digitalisierung und Klimawandel, das soll künftig ganz oben auf der Agenda stehen.
Wie sich nun die Grünen gegenüber der neuen Kommission positionieren wollen und werden, darüber habe ich kurz vor der Sendung aus Zeitgründen mit der Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, Ska Keller, gesprochen und Ska Keller zunächst gefragt, warum die Grünen eben nicht heute für die neue Kommission stimmen wollen.
Ska Keller: Wir wollen uns enthalten bei der Abstimmung, denn wir wollen ein Zeichen aussenden, dass wir große Probleme sehen bei einzelnen Kommissaren und Kommissarinnen und auch in der Gesamtidee der Kommission. Aber wir wollen trotzdem keine rote Karte erteilen, denn wir wollen, dass die Kommission auch anfängt zu arbeiten. Deswegen gibt es weder einen Blankoscheck von uns, noch eine rote Karte, sondern eine konstruktive Enthaltung.
"Es muss auch grüne Inhalte geben"
Münchenberg: Aber warum sind Personalien jetzt wichtiger als die Inhalte?
Keller: Es geht um beides. Zum einen sind wir ja durchaus sehr froh, dass die Kommissionspräsidentin sagt, es soll jetzt einen Green Deal geben. Das finden wir gut. Gleichzeitig hat die Kommission aber angekündigt, dass sie bei Landwirtschaft und Handelspolitik nichts ändern will. Aber das sind zwei der ganz großen Pfeiler, die gerade einer wirksamen Klimapolitik entgegenstehen, und wenn sich daran nichts ändert, dann kann Klimapolitik nur sehr halbherzig funktionieren. Deswegen sagen wir, es reicht nicht, wenn es grüne Überschriften gibt. Es muss auch grüne Inhalte geben und das sehen wir momentan noch nicht. Aber wir sind natürlich froh, wenn es dann am Ende doch anders aussehen sollte.
Die Personalien sind auch nicht unwichtig. Wir haben zum Beispiel einen sehr eklatanten Interessenskonflikt von einem Chef eines großen IT-Konzerns, der jetzt unter anderem zuständig sein wird für den Digitalmarkt. Das ist ein Interessenskonflikt, der ist inhärent in dem Portfolio und der lässt sich nicht so einfach auflösen. Und dann muss ich auch noch erwähnen, dass ein Kandidat von Orbáns Gnaden jetzt ausgerechnet für die Erweiterung zuständig sein soll, dafür, Beitrittsländern zu sagen, sie sollen sich an die Rechtsstaatlichkeit speziell in der Europäischen Union halten, während sich die ungarische Regierung selbst überhaupt nicht daran hält. Das ist schon ein bisschen zynisch.
"Es gibt keinen Blankoscheck von uns"
Münchenberg: Aber noch mal: Da ist jetzt mit Ursula von der Leyen eine Frau an der Spitze der EU-Kommission. Das ist sicherlich etwas, was die Grünen auch befürworten. Sie hat Klimaschutz als zentrales Thema für ihre Amtszeit ausgerufen. Glauben Sie denn, dass die Bürger das draußen verstehen werden, dass die Grünen jetzt wegen Personalien, die ja eher nur Insider verstehen und kennen werden, nicht die neue Kommission unterstützen?
Keller: Ich glaube schon, dass es vielen Menschen so gehen wird, dass sie sagen: Jemand, der von Orbán geschickt wird, kann nicht anderen Ländern erzählen, dass sie sich an europäische Werte halten müssen. Das ist ein wirklicher Affront gegenüber Beitrittsländern. Und wie gesagt: Es geht sehr stark um Inhalte. Es geht darum, was wird die Kommission vorhaben? Dass sie Klimapolitik machen will, das finden wir sehr gut, aber wir fragen uns, was wird das konkret heißen?
Wenn die Kommission jetzt schon sagt, an der Landwirtschaftspolitik soll sich nichts ändern, und die Landwirtschaftspolitik ist ein großes Problem gerade bei Klimapolitik, ist aber auch ein großes Opfer der Klimakrise und kann sehr, sehr viel zur Lösung beitragen. Aber wenn die Kommission dann sagt, daran wird sich nichts ändern, es wird nicht mehr Artenschutz geben, es wird nicht mehr Klimaschutz geben im Landwirtschaftsbereich, wir lassen die Ökobauern alleine, wir lassen die Menschen, die da eine Änderung wollen, alleine, wenn sich nichts ändern soll an der Handelspolitik, die sehr zentral für auch Klimafragen mitverantwortlich ist, dann ist doch klar: Wenn sich daran nichts ändert, so wird es keine ordentliche Klimapolitik geben.
Deswegen können wir jetzt nicht einfach sagen, alles wunderbar, machen wir weiter so, hier gibt es einen Blankoscheck von uns. Wir werden da ganz genau hingucken. Aber wir haben natürlich auch angekündigt, dass wir konstruktiv sehr gerne mit der Kommission zusammenarbeiten, und das werden wir auch genauso tun.
"Frau von der Leyen als Kandidatin der Mitgliedsstaaten aus der Schublade gezogen"
Münchenberg: Frau Keller, es geht ja heute bei der Abstimmung nicht darum, wer da im Einzelnen die Kommission trägt. Die Populisten haben auch bei den letzten Europawahlen deutlich zulegen können. Ein anderer wichtiger Punkt ist auch das Signal nach außen, inwieweit man jetzt die neue Kommission stärkt gegenüber den Staats- und Regierungschefs. Auch das sollte den Grünen doch eigentlich zu denken geben.
Keller: In der Tat! Das ist ein ganz wichtiger Teil unserer Kalkulation, dass wir uns überlegen, wir wollen eine starke Europäische Kommission, die sich auch als solche versteht und auch mal gegenüber den Mitgliedsstaaten durchaus hart auftritt. Da haben wir ein großes Problem, weil die Idee und demokratisches Grundprinzip ist ja, dass sich Leute zur Wahl stellen, die auch gewählt werden wollen. Deswegen hatten wir das System der Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten, damit Menschen dann Kommissionspräsident*in werden können, die sich und ihr Programm vorgestellt haben den europäischen Bürgerinnen und Bürgern.
Frau von der Leyen hat das große Manko, dass sie die Kandidatin der Mitgliedsstaaten ist, die aus der Schublade gezogen worden ist, und eben keine der Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten war. Deswegen ist das auch für das Parlament an sich und für die parlamentarische Demokratie wichtig für uns zu sagen: Damit sind wir nicht glücklich. Das haben wir ja auch schon bei der Wahl von Frau von der Leyen selbst zum Ausdruck gebracht. Das ist sicherlich etwas ungünstig für sie persönlich, aber es ist klar, dass sie die Kandidatin der Mitgliedsstaaten jetzt ist, und wir hoffen sehr, dass sie die Herausforderungen annimmt und das ändert. Aber das können wir jetzt gerade noch nicht sagen.
"Große Bewährungsprobe für die Europäische Union"
Münchenberg: Frau Keller, noch eine letzte Frage mit Blick nach vorne. Jetzt stehen in Großbritannien am 12. Dezember die Wahlen an. Das könnte vorentscheidend sein auch für die weiteren Brexit-Verhandlungen, Brexit-Gespräche. Ist damit die erste große Bewährungsprobe für die neue Kommission faktisch schon gesetzt?
Keller: Der Brexit wird uns natürlich weiter beschäftigen. Das ist gar keine Frage. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es noch andere große Herausforderungen gibt. Wir haben jetzt im Dezember den Klimagipfel in Madrid. Keine EU-Regierung hat einen ausreichenden Plan vorgelegt, wie sie das Klima schützen wollen. Das ist eine ganz, ganz große Herausforderung. Hier geht es darum, ob wir die natürlichen Lebensgrundlagen für die jüngere Generation und die zukünftige Generation erhalten wollen. Wir haben eine wachsende soziale Ungleichheit in der Europäischen Union. Ein ganz großes Thema ist natürlich auch die Frage Rechtsstaatlichkeit. Das ist auch etwas, was Frau von der Leyen heute leider nicht weiter erwähnt hat in ihrer Rede. Wir haben Mitgliedsstaaten, die sagen, Rechtsstaatlichkeit, europäische Werte, da machen wir nicht mehr mit. Ich glaube, das ist eine wirklich große Bewährungsprobe für die Europäische Union. Ich hoffe, dass die Kommission da weiterhin stark stehen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.