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An Grenzen stoßen

Nach der Entführung eines Mädchens liegen die Nerven blank im Familiendrama "Offenes Geheimnis". Vom Umgang einer jungen Frau mit einer Vergewaltigung erzählt die Charakterstudie "Alles ist gut". Eine abenteuerliche Flucht aus der DDR schildert der Thriller "Ballon".

26.09.2018
    Fluchtballon aus der damaligen DDR zum Kinofilm Ballon in Berlin
    Fluchtballon aus der damaligen DDR zum Kinofilm Ballon in Berlin (imago stock&people)
    Wie eh und je rattert das Räderwerk der Kirchturmuhr. Noch ist alles, noch sind alle im Takt in dem spanischen Dorf, in dem der iranische Regisseur Asghar Farhadi seine Geschichte angesiedelt hat. Die beginnt mit einem Wiedersehen.
    "Paco!"
    "Jedes Mal, wenn du aus Argentinien kommst, hast du ein Kind mehr."
    "Die gelingen mir, wie du siehst."
    Laura, die vor vielen Jahren der Liebe wegen nach Argentinien gegangen war, ist mit ihren beiden Kindern - der halbwüchsigen Irene und einem kleinen Sohn - in die Heimat zurückgekehrt, um bei der Trauung ihrer Schwester dabei zu sein. Dass Paco für sie früher einmal mehr war als nur ein guter Freund, pfeifen die Spatzen längst vom Kirchendach. Unter dem ist das offene Geheimnis, das auch für den Filmtitel gewählt wurde, gleich für die Ewigkeit in die Mauer eingeritzt worden.
    "Alle wissen es."
    "Was jetzt?"
    "Dass sie zusammen waren."
    Sich anbahnende Familientragödie
    Ein weiteres, zunächst nicht ganz so offenes Geheimnis, dürften auch jene schnell herausfinden, die wissen, wie Drehbücher von Seifenopern gestrickt sind. Natürlich hat Asghar Farhadi hier nicht "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" gedreht, aber die Zutaten seiner sich anbahnenden Familientragödie sind ähnliche. Als Irene während der Hochzeitsfeier verschwindet und es so aussieht, als sei sie entführt worden, brechen alte Gräben auf.
    Asghar Farhadis Interesse gilt dabei weniger dem Entführungsfall als vielmehr der Dynamik zwischen den Akteuren, zu denen sich auch noch Lauras Ehemann gesellt, der ebenfalls aus Argentinien anreisen wird.
    "Glaubst du, ich verdächtige dich?"
    "Na, deine ganze Familie verdächtigt mich."
    "Natürlich. Alle machen sich Sorgen um deine Tochter und du sagst ständig: Lieber Gott, steh uns bei! Da brauchst du dich nicht zu wundern!"
    Thriller-Gerüst eher hinderlich
    Asghar Farhadi, der in seinen Filmen "Nader und Simin - eine Trennung" und "The Salesman" wunderbar gezeigt hat, wie man Beziehungsgeschichten spannend verdichtet und gleichzeitig gesellschaftliche Abgründe offenlegt, lässt die fesselnden Momente hier vermissen. Das Thriller-Gerüst erweist sich eher als Hindernis in dieser soliden, aber auch etwas belanglosen Familienchronik, die auf das Starpotenzial ihrer beiden Hauptdarsteller Penélope Cruz und Javier Bardem setzt.
    "Offenes Geheimnis" von Asghar Farhadi - zwiespältig
    "Nein heißt Nein!" Aber wie sieht die Sache mit dem sexuellen Übergriff aus, wenn das mutmaßliche Opfer kein deutliches "Nein!" zu seinem Gegenüber gesagt hat, sondern nur ein ...
    "Echt jetzt, ja?"
    Janne will aus der Nacht, in der Martin über sie hergefallen ist, kein großes Ding machen. Beide hatten sie zu viel getrunken. Sie wollte zwar keinen Sex, aber Schwamm drüber. Von dem Vorfall erzählt Janne niemandem. Auch nicht ihrem Freund. Martin dagegen wird offensichtlich von seinem schlechten Gewissen geplagt und hat Gesprächsbedarf.
    "Wollen wir vielleicht jetzt mal reden?"
    "Worüber willst denn du reden?"
    "Na ja. Es tut mir leid. Keine Ahnung, was man da jetzt so macht."
    "Ja gar nichts. Was soll man denn da jetzt machen?"
    "Das musst du schon sagen, was du brauchst oder was ich tun kann."
    "Du bist ja süß. Kannst mir ja mal eine Tafel Schokolade vorbeibringen."
    Angenehm unaufgeregt und lebensnah
    Selbst als Janne wenig später erfährt, dass sie schwanger ist, versucht sie abgeklärt mit der Nachricht umzugehen. Doch immer mehr droht sie die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren.
    Die Beiläufigkeit, mit der die Protagonistin ihre Probleme zu bewältigen versucht, spiegelt auch die Inszenierung von "Alles ist gut". Trotz der gewichtigen Themen kommt der erste Spielfilm der Berlinerin Eva Trobisch angenehm unaufgeregt und gerade darum wohl lebensnäher und überraschender daher als jene Filme, die beim Thema sexueller Missbrauch die üblichen Register ziehen. Mit Aenne Schwarz hat Eva Trobisch eine Hauptdarstellerin gefunden, die das Handeln ihrer Figur in jeder Minute nachvollziehbar macht.
    "Alles ist gut" von Eva Trobisch - empfehlenswert
    "Eins, zwei, drei! ..."
    Ihre Geschichte ist wie gemacht für einen Thriller: Zwei Familien gelingt in der Nacht zum 16. September 1979 mit einem Heißluftballon die Flucht aus der DDR. Nur ein Jahr später hatte Hollywood die Geschichte bereits verfilmt. "Mit dem Wind nach Westen" ist allerdings heute fast vergessen.
    Ein klarer Vorteil also für Michael "Bully" Herbig, den Stoff noch einmal und vor allem noch einmal besser umzusetzen. Ein Stoff, der all das mitbringt, was sich ein Drehbuchautor hätte ausdenken müssen: die geheimen, aufwändigen Vorbereitungen für die Flucht, die ständige Angst aufzufliegen und ein erster Fluchtversuch, der scheitert.
    "Das war unverantwortlich von uns."
    "Wir beide wollten doch immer, dass die Jungs in Freiheit aufwachsen."
    "Wir hätten unsere Kinder beinahe umgebracht. ..."
    Nahezu perfektes Spannungskino
    Dass er ein versierter Regisseur ist, hat Herbig schon vorher bewiesen. Über seinen Humor mag man trefflich streiten, über die Kinotauglichkeit seiner Bilder muss man das nicht. Hier inszeniert einer mit Friedrich Mücke, Karoline Schuch und David Kross in den Hauptrollen nahezu perfektes Spannungskino, das – anders als der Hollywoodschnellschuss – nicht zu tief in die Klischeekiste greift und zudem das Zeitkolorit trifft. Klug auch Herbigs Entscheidung, sich voll und ganz auf den Fluchtplan zu konzentrieren und nicht noch in Nebenhandlungssträngen das oft unvermeidliche Gesellschaftsporträt der DDR zeichnen zu wollen.
    "Ballon" von Michael Herbig - empfehlenswert