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Neue Filme
Explodieren und implodieren

In dieser Woche starten drei leise und intensive Filme in den Kinos. Eine Geschichte über eine Ehe, die in die Jahre gekommen ist. Eine Geschichte über einen Mann, der über Leichen geht, um erfolgreich im Job zu sein. Und eine Geschichte über eine Mutter, die ihren Sohn liebt, aber ihm nicht gewachsen ist.

Von Hartwig Tegeler | 12.11.2014
    Leila Bekhti (Mitte) als die attraktive, geheimnisvolle Kellnerin Lou in einer undatierten Szene des Films "Bevor der Winter kommt".
    Leila Bekhti (Mitte) als die attraktive, geheimnisvolle Kellnerin Lou in einer undatierten Szene des Films "Bevor der Winter kommt". (picture alliance / dpa / Fabrizio Maltese)
    "Willst du mit mir sprechen? - Sprechen, worüber!"
    Alltag einer Ehe? Oder? Die Rosensträuße - Von wem kommen sie? -, die Paul in der Praxis oder zu Hause findet.
    "In der Praxis fangen die Patienten schon an zu fragen, ob jemand verstorben ist."
    Ihr pralles, sattes Rot ist der Kontrapunkt zur grauen wie behüteten Welt, in der er und Lucie leben. Daniel Auteuil als Ehemann, nicht minder grandios Kristin Scott Thomas als Gattin. Die Jahre sind über die beiden gekommen.
    "Lucie, ich habe einen anstrengenden Tag morgen."
    Sie leben dahin; er in der Klinik, berühmter Neurochirurg; sie in dem riesigen Garten, den sie perfekt gestaltet und der doch leblos wirkt.
    "Uns? Wir? Hat das für dich noch eine Bedeutung?"
    Philippe Claudel entwickelt in "Bevor der Winter kommt" subtil diese Momente, in denen das großbürgerliche Leben ins Wanken, aus der Spur gerät. Eine junge Frau:
    "Sie hat mich zurückversetzt. Weit zurück. - Zurückversetzt? - An den Anfang. Bevor es losging. Das Leben."
    Doch diese junge schöne Frau, die in Pauls Leben tritt, - Die Rosensträuße! - entfacht nicht das konventionelle Eifersuchts- und Betrugsdrama, was man erwarten könnte in diesem wunderschönen Film, der an Claude Sautet erinnert. Auch wenn "Bevor der Winter kommt" anfänglich in diese Richtung zu gehen scheint. Nein, Philippe Claudel treibt die Geheimnisse von Paul und Lucies Ehe langsam, nie plakativ, sondern schleichend an die Oberfläche. "Bevor der Winter kommt" handelt nicht von Betrug, sondern von Sehnsüchten, die irgendwann versickerten. Und dann - eben - diese junge Frau. Kein Betrug wie gesagt. Nur Sehnsucht.
    "Sie hat mich zurückversetzt. Weit zurück."
    Ein Verbrechen wird angedeutet. Dann, am Ende, überrascht Kristin Scott Thomas "ihren Mann" Daniel Auteuil beim Hören der Musik mit dem Gesang der jungen Frau mit den Rosen. Die Ehefrau blickt ihren Ehemann an. Doch Betrug! Irgendwie! Beide sind entsetzt über die Fragen, die sich in seinem wie in ihrem Blick zeigen. Draußen, im perfekten Garten, feiern die Gäste, das Sommerfest.
    "Bevor der Winter kommt" von Philippe Claudel - überraschend, geheimnisvoll, herausragend.
    Dieses Eingesperrtsein in ein Leben wird in Xavier Dolans grandiosem Werk "Mommy" zur Form, genauer zum Leinwandformat. Das ist quadratisch, eins zu eins, eng, wie eine Glocke, unter der die Menschen explodieren oder auch implodieren.
    "Du bist zu blöd um zu sehen, dass er uns gar nicht helfen will. Er will dich nur vögeln. - Aaaaah!"
    Nur zweimal öffnet sich der Film "Mommy" zum Breitwandformat. Wenn Glück da ist. Dann wird es wieder eng. Die Mutter, der aggressive Sohn mit der psychischen Störung und die Nachbarin Kyla: Um ihre Geschichte geht es. Dabei geht eine unfassbare Energie von Xavier Dolans sechstem Film seit 2009 aus. Diane, Steves Mutter, ist eine verblühende, lebenskluge Schönheit. Am Anfang wird ihr ihr Sohn Steve sozusagen vor die Füße geworfen, weil er für das Jugendheim nicht mehr tragbar ist. Beide nun in einem Haus. Wie gesagt: explodieren und implodieren sind sich sehr nahe. Diane liebt ihren Sohn.
    "Du bist ein Prinz, mein Prinz! Das bist du, du bist ein Prinz."
    Auch wenn sie ihn am Ende verrät. Zum alltäglichen Tanz auf dem Vulkan kommt die leise, verzweifelte, stotternde Mutter von gegenüber, die traumatisiert ist von dem Verlust ihres Sohnes und die erst in Dianes und Steve emotional aufgeladener Gegenwart lebendig wird. Xavier Dolan hat einen extremen Film gedreht, der uns mit seiner intensiven Emotionalität mitreißt wie mit seinen leiseren Momenten. Wenn Steve seine Lieblings-CD einwirft, und er mit Diane und Kyla zu Céline Dions "On ne change pas" tanzt. Den Titel "On ne change pas" erklärt Diane so: Man ändert sich nicht, man zieht nur fremde Kostüme an.
    "Mommy" von Xavier Dolan - meisterhaft, grandios, herausragend.
    "Ich möchte Bildmaterial verkaufen."
    Er hat keine Chance, aber er nutzt sie.
    "Ich habe eine sehr schnelle Auffassungsgabe. Sie werden mich bald wiedersehen."
    Er ist der "Nightcrawler", eine Art Wurm, der durch die Nacht kriecht, um sich von dem Leid, dem Schmerz, dem Blut und den Zerstörungen quasi zu ernähren, die die Nacht bietet. Jake Gyllenhaal - intensiv, abgemagert, durchgedreht, faszinierend -, Jake Gyllenhall in Dan Gilroys flirrendem Drama "Nightcrawler - Jede Nacht hat ihren Preis". Der Film erzählt von einem Mann, der Bilder von Verbrechen oder Unfällen, die er nachts aufnimmt, an TV-Sender verkauft ...
    "Ist das Blut an Ihrem Hemd? - Nein, ich glaube nicht."
    ... die damit ihre Frühnachrichten bestücken. Natürlich ist die Medienkritik in diesem Psychothriller nicht neu, aber die düsteren Nachtbilder, die Dan Gilroy findet, sie wirken nicht sehr beruhigend. Bilder einer Gesellschaft, in der einer, der mit ihr gar nichts zu tun haben will, so erfolgreich werden kann. Soziopathologie als gesellschaftliches Erfolgsmodell: was für eine Portion Realismus, die uns hier anspringt.
    "Nightcrawler - Jede Nacht hat ihren Preis" von Dan Gilroy - empfehlenswert.