Samstag, 20. April 2024

Archiv

Felix Kucher: „Vegetarianer“
Neue Menschen, alte Probleme

Karl Wilhelm Diefenbach verstand sich als Künder einer neuen Zeit. Dem Maler und Lebensreformer, der im Steinbruch Höllriegelskreuth bei München eine Kommune gründete, widmet Felix Kucher ein biografisches Porträt.

Von Julia Schröder | 01.07.2022
Felix Kucher: "Vegetarianer"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Felix Kucher: "Vegetarianer" - Porträt eines Weltverbesserers (Buchcover: Picus Verlag / Foto: Paul Feuersänger)
Ein starker Auftritt, den der Mann da hinlegt. Ein Auftritt in der Art eines alttestamentlichen Propheten mit wallendem Haupthaar, auch das härene Gewand fehlt nicht. Aber was dieser Prediger in einem Münchner Saal um 1880 verkündet, ist nicht der Glaube an den Gott des Alten Testaments, sondern eine ganz andere Überzeugung, die allerdings mindestens so feurig daherkommt:
„ ,Darum, so rufe ich euch endlich zu, ändert euren Sinn! Bessert euer Wesen! Kehret um zur Natur, wie es Rousseau schon vor hundert Jahren gefordert hat! Esset die Früchte der Erde! Wandelt nackt! Lasst euch von nichts anderem als Licht, Luft und Wasser heilen!´“
Der Volksredner ist Karl Wilhelm Diefenbach, verkannter Künstler, und mit seiner Heilslehre eines konsequent veganen Lebensstils, freier Liebe, Nudismus und Naturheilkunde ein Ahnvater der Alternativkultur. Oder, besser gesagt: Es ist Diefenbach, wie der österreichische Autor Felix Kucher ihn sieht, der die historische Figur, geboren 1851 als Sohn eines Zeichenlehrers im hessischen Hadamar und 1913 auf Capri gestorben, zum Helden seines neuen Romans „Vegetarianer“ gemacht hat.

Selbstheilungskräfte statt Impfzwang

Der donnernde Auftakt des Buchs mit Diefenbachs rhetorischem Effektstück ist vielversprechend, nicht zuletzt, weil darin allerlei zur Sprache kommt, was deutlich an gegenwärtige Diskurse erinnert. Diefenbach und seine Jünger lehnen die ärztliche „Pillendreherei“ im Allgemeinen und jeden Impfzwang im Besonderen ab, sie setzen auf die Selbstheilungskräfte, die sie mit Lichtbädern im Adamskostüm stärken, und glauben sich im Besitz tieferer Einsicht, weil sie eifrig die Schriften wie die Praxis  selbsternannter Heilkundiger und Körnerpäpste studieren. Nach dem Vorbild des Wasserpfarrers Kneipp sind in jenen Jahren zunehmend sektiererisch auftretende Autodidakten im Schwange und machen dem Konkurrenz, was ein paar Jahrzehnte später als „Schulmedizin“ verunglimpft werden wird.
So weit, so aktuell. Leider widersteht der Autor nicht immer der Versuchung, die geschilderten Episoden auf diesen Aktualitätsbezug hinzubürsten. Dabei gibt er sich viel Mühe, die Zeitstimmung vor der Jahrhundertwende lebendig werden zu lassen. Die Sprache des Romans verbindet spätgründerzeitliche Markigkeit mit Nietzscheanischer Emphase und dem Bildungszitat, wie es typisch für nach Höherem strebende Sprosse des Kleinbürgertums wie Diefenbach war.
So absichtsvoll dies geschieht, so unbeabsichtigt entsteht als Grundton eine ihrerseits angestaubt wirkende Ironie, die auf Dauer ermüdet und mit mancher Stilblüte verärgert. Die Dauerironie hat auch zur Folge, dass der Hauptfigur Diefenbach wenig geschenkt wird. Etwa, wenn es um die tatsächlichen oder eingebildeten Leiden des lebenslang Kränklichen, von seinen Frauen und ständiger Geldnot Geplagten, von Spöttern als „Kohlrabi-Apostel“ Geschmähten geht:
„Weder taucht er seine Hände in die Waschschüssel noch führt er einen Kamm an sein Haar. Mit klagenden Worten über sein Schicksal im Allgemeinen und über die Magenschmerzen im Besonderen macht er jedes Gespräch mit seinen Jüngern unmöglich. Diese vertreiben sich indessen etwas ratlos die Zeit mit Reden über die Zukunft des Menschengeschlechts.“

Malen nach Jahreszahlen

Früher oder später fragt man sich, warum Felix Kucher sich dieser Jammergestalt überhaupt widmet. Irgendwann scheint er sich das selbst gefragt zu haben. Je weiter die Nacherzählung von Lebensstationen fortschreitet, desto mehr erinnert das biografische Porträt eher an Malen nach Jahreszahlen, zumal getreulich Buch geführt wird über geschichtliche Ereignisse – Sprengstoffanschlag auf den österreichischen Kaiser, König Ludwig von Bayern ertrinkt, Drei-Kaiser-Jahr und so weiter. Insbesondere vermittelt sich in dieser Darstellung nicht, ob die symbolistischen Gemälde des erst vor wenigen Jahren wiederentdeckten Karl Wilhelm Diefenbach nun eigentlich dem hohen Anspruch ihres Urhebers entsprechen.
Den Schlusspunkt setzt der Autor bereits 1892, mit Diefenbachs großer Ausstellung im Österreichischen Kunstverein. Der Zulauf war enorm, aber wegen eines Betrugsmanövers des Direktors ging der Künstler all seiner Werke verlustig. Den weiteren Lebensweg durch halb Europa bis nach Ägypten und durch immer neue finanzielle, persönliche und amouröse Klemmen handelt Kucher in der Nachbemerkung einigermaßen lieblos ab.
Den Modepropheten und Verkündern der Lebensreform in den Bohème-Kreisen des Fin de siècle haben sich schon einige Schriftsteller gewidmet, so Thomas Mann, dem Felix Kucher offensichtlich nacheifert. Aber in „Vegetarianer“ offenbart sich, ähnlich wie vor einigen Jahren in Klaus Modicks Rilke-Demontage „Konzert ohne Dichter“, ein Irrtum. Er liegt in der Verwechslung eines lediglich ironischen Stils mit einer Welthaltung, die um den historischen Abstand zum Denken und Fühlen früherer Zeiten weiß und ihnen erzählend trotzdem gerecht zu werden versucht. Genau dies wird in Kuchers Roman fortgesetzt unterlaufen von augenzwinkernder Überheblichkeit.
Felix Kucher: „Vegetarianer“. 
Picus Verlag, Wien. 232 Seiten, 24 Euro.