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Neues aus der Clubkultur
Not macht erfinderisch

Auch wenn offenbar schon „Öffnungsdiskussionsorgien“ gefeiert werden: Die Clubs sind zu und werden es auch noch lange bleiben. Aber das muss nicht nur schlecht sein - auch nicht für die, die das Feierleben vermissen. Denn die Szene zeigt sich in der Krise kreativ.

Von Martin Böttcher | 25.04.2020
Ein DJ legt vor einem leeren Raum im berliner Techno-Club Watergate auf.
Dass die Clubs zur Zeit leer bleiben, hat auch gute Seiten (Watergate)
Eine schöne Liste, die das Faze Magazin gerade veröffentlich hat: 10 Punkte, die aus Sicht von uns Clubgängern gut am Corona-Lockdown sind. Neben so offensichtlichen wie "Geld sparen, weil zu Hause bleiben" oder auch "Montage jetzt nicht mehr so schlimm" widmet sich Faze auch den wirklich brisanten Themen: "Braun werden" und "Detoxen" zum Beispiel! Funktioniert natürlich nur, wenn man tagsüber mal die Wohnung verlässt und sich die Isolation auch nicht schön säuft.
Produktive DJs im Heimstudio
Was auch in der Liste steht: Wir können mit viel neuer Musik aus dem Clubbereich rechnen! Warum? Weil die DJs, die auch selbst Musik produzieren, gerade gelangweilt zu Hause sitzen. Keine Gigs, keine Touren, nichts. Da bleibt nur die Arbeit im Heimstudio.
Die ersten Ergebnisse sind auch schon da. Und sie zeigen, wie unterschiedlich diese Produzenten doch ticken, selbst wenn sie das gleiche wollen! Zwei Musiker aus Deutschland haben sich, unabhängig voneinander, der Ambient Music gewidmet – oder was sie dafür halten. Friedrich Greiling, Künstlername Mittekill, ist der eine, Matthias Paul, besser bekannt als Paul van Dyk, der andere.
Mittekill und Paul van Dyk mit Quarantäne-Alben
Paul van Dyk nennt sein neues Werk "Escape Reality" – darauf finden sich jede Menge ältere Tracks, die er in Ambient- und Chill-Out-Versionen umgewandelt hat. Paul van Dyk sagt dazu, dass gerade niemand echte Dance Music braucht und hat damit wohl recht. Aber, ganz ehrlich: Escape Reality ist trotzdem ziemlich furchtbar. Pathetischer Gesang, kitschige Melodien und so vorhersehbar schnulzig wie ein Happy End im Liebesfilm.
Das Ambient-Album von Mittekill heißt natürlich nicht Escape Reality, aber so ähnlich: Leaving the Wor_d. Wegen eines eingesetzen Unterstrichs zwischen dem "r" und dem "d" am Ende lässt sich der Titel übersetzen mit "das Wort verlassen" oder auch "die Welt verlassen" – auch eine Art von Eskapismus.
Langeweile führt nicht automatisch zu guter Musik
Das war's dann aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten der beiden Berliner: Mittekill macht alles anders als Paul van Dyk, schafft eine Klanglandschaft, die überraschen will, nicht einlullen. Man kann das nebenbei laufen lassen oder wie ein Hörspiel unter Kopfhörern genießen und weil da so viele kleine Soundgeschichten laufen, gibt es bei jedem Hören Neues zu entdecken.
"Leaving the Wor_d" ist bislang nur bei Mittekills Bandcamp-Seite zu hören und zu kaufen. Später, vermutlich Post-Corona, dann wohl auch auf Platte.
Neues Musikmedium Videospielkassette
Weil wir schon bei solch profanen Dingen wie "Tonträgern" sind, können wir uns mit dem Hamburger Musiker Remute beschäftigen.
Remute ist großer Fan retrofuturistischer Electroklänge und er ist großer Fan von alten Videospielen. Sein neues Album "The Cult of Remute" ist jetzt als Modul, also als Videospielkassette für die in den 90ern so beliebte Super-Nintendo-Spielkonsole erschienen. Warum? Weil es dafür tatsächlich einen Markt gibt. Der Musiker erklärt es so:
"Da ist bestimmt eine nostalgische Komponente drin, weil ich durch diese Art von Soundästhetik – und ich glaube, auch viele Altersgenossen von mir und vielleicht auch Jüngere – von dieser Soundästhetik geprägt wurden und das nostalgische Gefühl schwingt immer mit."
Everything is Recorded: Musik zum Wegträumen
Zum Schluss noch eine Empfehlung ganz ohne nostalgisches Gefühl, ein Album mit dem wunderbaren Titel: Friday Forever. Immerwährender Freitag. Wir erinnern uns: Vor Corona war der Freitag für Clubgänger der schönste Tag überhaupt – da ging es los, das Wochenende!
Friday Forever stammt vom Engländer Richard Russell alias Everything is Recorded. Electronica trifft bei ihm auf Hip-Hop, trippige Beats auf viele verschiedene Stimmen, Rap-Urgesteine wie Ghostface Killah sind als Gastmusiker dabei, aber auch Newcomer wie die aus Nigeria stammende Flohio. Musik, die die schwierige Lage, in der sich gerade so viele befinden, widerspiegelt, die aber auch genug Raum lässt, um sich wegzuträumen. Stay at home? Mit solchen Songs ist es einfacher.