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Neues Buch "Good Booty"
Die Geschichte von Pop und Sex

Sexualität ist ein Dauerthema im Pop. Die US-Journalistin Ann Powers untersucht in ihrem neuen Buch "Good Booty", wie sich die sexuellen Verhältnisse seit den Anfängen der Popmusik widerspiegeln. Das Buch sei "sehr materialreich und inspiriert", sagte Musikkritiker Jens Balzer im Dlf.

Jens Balzer im Gespräch mit Adalbert Siniawski |
    Elvis im Jahr 1975 bei einem Konzert im Madison Square Garden, New York
    Elvis im Jahr 1975 bei einem Konzert im Madison Square Garden, New York (imago stock&people/ ZUMBA /Keystone)
    Adalbert Siniawski: "Tutti frutti, good booty" - übersetzt etwa "guter Hintern" - diese und einige weitere unanständige Zeilen hätte Little Richard in seinen Song "Tutti Frutti" gesungen. Doch der Text wurde 1955 entschärft, um in die Radios zu kommen. Aus "good booty" wurde "aw rooty" - ein Slang-Wort für "okay".
    Die frühe Geschichte aus der Pop-Historie zeigt schon, dass Sex und Popmusik schon von Beginn an eng miteinander verknüpft waren und für Aufruhr sorgten. Und so ging es weiter: etwa mit Madonnas sexuell aufgeladenem Album "Erotica", das gerade sein 25-jährges Jubiläum feiert, bis zum Porno-Rap von heute.
    "Good Booty" hat die US-Journalistin und Kulturhistorikerin Ann Powers ihr neues Buch betitelt. Die Radiomoderatorin von NPR untersucht den Zusammenhang von Sex und Liebe, Schwarz und Weiß, Körper und Seele in der amerikanischen Popmusik. Musikkritiker Jens Balzer hat es gelesen - Herr Balzer, der Untertitel klingt ja erst einmal sehr weit. Worum geht es ihr genauer?
    Jens Balzer: Ann Powers hat einen sehr weit gefassten Gegenstandsbereich, also sie geht zurück bis ins Jahr 1800, um sich von da langsam in die Gegenwart zu bewegen. Und es geht ihr auch nicht nur um die sexuellen Inszenierungen im Pop. Es geht darum, wie sich die sexuellen Verhältnisse in der Gesellschaft im Pop generell widerspiegeln oder von ihm beeinflusst werden - Also um Fragen wie: Wie ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern? Wie autonom oder fremdbestimmt ist die eigene Sexualität? Wie offen und unbeschwert kann man mit den eigenen Wünschen umgehen? Und dann halt immer: Wie spiegelt sich das in der Musik? Oder: Wie werden Veränderungen in diesen Feldern von der Musik angeregt?
    Powers beginnt 1800 in den Ballsälen New Orleans'
    Siniawski: Sie sagten 1800 bis in die Gegenwart. Dass es um 1800 schon so etwas wie Popmusik gab, ist ja jetzt erst einmal eine interessante Behauptung.
    Balzer: Ja, das stimmt.
    Siniawski: Wo setzt Ann Powers mit ihrer Untersuchung denn da ein?
    Balzer: Ja, sie setzt an bei der kreolischen Musik, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in New Orleans entstand. Das war ja gerade damals erst zu den Vereinigten Staaten übergegangen. Und es war ein Ort, an dem die unterschiedlichsten Volksgruppen und Einwanderergruppen aufeinander trafen und sich vermischten - natürlich ein wichtiger Umschlagplatz für den Sklavenhandel, da kam das her. Aber dann eben auch eine Stadt, in der es seit Beginn des Jahrhunderts überall Ballsäle und öffentliche Orte gab, an denen in multikultureller Weise musiziert und getanzt wurde. Das heißt dann auch: Diese "racial segregation" überschritten wurde im Beginn der populären Musik.
    Vor allem wurde getanzt, das ist interessant. Und Ann Powers zeigt sehr detailliert, wie sich in der Durchdringung der Tanzformen aus unterschiedlichen Traditionen auch unterschiedliche Vorstellungen des sexuellen Miteinanders vermischen. Also: Wie also die paargebundenen Tänze der europäischen Einwanderer auf die afrikanischen Tänze trafen, in denen man frei zwischen den Tanzpartnern wechselt. Und es zeigt sich an diesen Anekdoten aus New Orleans schon auch so dieses komplizierte, dialektische Verhältnis zwischen rassistischer Projektion und emanzipatorischen Aspekten, das sie dann durch die gesamte Popgeschichte verfolgt. Also vom New Orleans 1800 bis - Sie haben es schon erwähnt - zu den neuesten Debatten über "cultural appropriation" 2017.
    Siniawski: Was sind denn die anderen Stationen der Geschichte?
    Balzer: Ja, die Schwerpunkte des Buchs liegen auf den Umbruchzeiten, zum Beispiel auf der Wende zum 20. Jahrhundert, als in der sich modernisierenden Gesellschaft auch die Souveränität der Frauen wächst, ihre sexuelle und soziale Selbstbestimmtheit - was sich dann widerspiegelt in einer körperlichen Enthemmung der Tänze. Also etwa im Shimmy, der so um 1910 entsteht und auf die Zeitgenossen und vor allem Zeitgenossinnen wie eine getanzte Kopulation wirkt. Dann die 20er-, 30er- und vor allem natürlich die 50er-Jahre, in denen - nach dem Ende des Krieges - eigentlich die gesamte US-amerikanische Gesellschaft sich neu formiert, widergespiegelt in der Entstehung von Rock'n'Roll mit dem offensiv erotischen Elvis, der dann wiederum seinerseits die afroamerikanische Musiktradition ausbeutet.
    Weite historische Perspektivierung der Gegenwart
    Siniawski: Blickt Powers eigentlich auch auf das Musikgeschäft? Also wie sich die Geschlechterverhältnisse und Sexismus auf Karrieren auswirkten und welche Mechanismen da herrschten? Ich frage jetzt vor dem Hintergrund der Sexismus-Debatte nach Weinstein.
    Balzer: Das System Musikindustrie kommt in der Tat erst ganz am Schluss - also eigentlich erst im Epilog - in den Fokus, als es darum geht, dass die Sängerin Kesha 2014 ihren Produzenten und Manager Luke Gottwald beschuldigte, sie sexuell missbraucht zu haben. Das ist dann ein Punkt, wo Ann Powers auch darauf zurück kommt, dass eigentlich sehr spät - eigentlich erst in den letzten Jahren - Frauen angefangen haben, auf die sexistischen Bedingungen in der Musikindustrie zu reflektieren und darauf hinzuweisen. Das ist diesem Weinstein-Skandal ein bisschen vorausgelaufen, aber wir wissen ja auch, wie lange es in der Filmindustrie gebraucht hat, bis dann wirklich mal eine Welle daraus geworden ist.
    Siniawski: Was hat Ihnen dieses Buch über über unsere Zeit heute gesagt? Und: Hat es das gut gesagt - im Sinne von: Sollte man das Buch lesen?
    Balzer: Ja, ich habe das wirklich sehr gerne gelesen. Das ist sehr materialreich und inspiriert, das Buch. Und man kann auch eine Menge für die Gegenwart lernen. Also, wenn man dieses Buch einmal ganz durchgearbeitet hat, dann zieht man auch viele Phänomene der Gegenwart in einer viel weiteren historischen Perspektive und kann noch einmal neu nachdenken über das Verhältnis zwischen Repression, Ausbeutung und Emanzipation. Ich finde, das ist für jeden, der sich für die politische Seite der Popmusik interessiert, wirklich ein großer Gewinn.
    Ann Powers: "Good Booty: Love and Sex, Black and White, Body and Soul in American Music"
    Dey Street Books, New York 2017. 448 Seiten, EUR 16,99.