
Was macht das Leben lebenswert, und was braucht man eigentlich nicht? Diese beiden Fragen stellt sich John Green und bewertet: Großes oder Kleines, Kulturelles oder Naturereignis, Gegenstand oder Zustand. Green vollzieht eine sehr persönliche Einordnung.
Wir bewerten alles und das permanent: Filme, Bücher, Aussagen, Rezepte, Hotels, die anderen. John Green aber nimmt Unerwartetes unter die Lupe und setzt es in einen Kontext, ob und wie es zur Sinnhaftigkeit seines Lebens beigetragen hat und welche Rückschlüsse es auf das Erdenleben zulässt.
Kann man alles parallel beurteilen? Duftstickerkarten der 1960er Jahre und den Halleyschen Kometen neben den Höhlenmalereien von Lascaux und Klimaanlagen? Man kann. Man kann es vor allem, wenn man John Green heißt. Denn wie sich alles darstellt und verbindet und zurückwirkt auf ein Menschenleben, das Leben des Autors, ist eine Frage der Perspektive.
Ein Sinnsuchender und kritisch Denkender
Große Themen, wirklichkeitsnah aufbereitet, mit Leichtigkeit und gleichermaßen tiefsinnig erzählt, das gelingt John Green in seinen Jugendromanen, weil auch er ein Sinnsuchender ist, ein Fragensteller, ein Zweifler, ein kritisch Denkender. Jetzt fragt er sich:
"Wie hat mir das Anthropozän bis jetzt gefallen? Es ist voller Wunder."
Und eins dieser Wunder beschreibend, fährt er fort:
"Wie hat mir das Anthropozän bis jetzt gefallen? Es ist schrecklich! Ich habe das Gefühl, das ich nicht dafür geschaffen bin. Ich bin erst seit Kurzem hier, habe aber schon erlebt, wie meine Art die letzten noch lebenden Vertreter vieler anderen Arten ausgerottet hat."
Eine 1-Stern-Bewertung ist eine miese Bilanz
Aus diesem kurzen Zitat im Nachwort lässt sich vieles ablesen: Das Buch ist eine Liebeserklärung an die Erde und die guten, überraschenden, inspirierenden Dinge, die wir Menschen miteinander oder auch allein erleben können. Gleichzeitig zeigt Green menschliches Versagen auf mehreren Ebenen. Die Klimaanlagen, die zwar die Innenräume kühlen, aber die Außenräume weiter aufheizen, womit die Innenräume weiter gekühlt werden müssen. Die Supermarktketten, die den Tante-Emma-Laden verdrängt haben und anfangs frische Lebensmittel abschafften, was wiederum zu schlechter Ernährung führte.
John Green äußert in seinen persönlich angelegten, assoziativen Kapiteln Gedanken, die viele Menschen hegen, zweifelt, ohne anzuklagen, und verweist auf Wege, die sinnstiftend sein können. Ausgehend von einer Erinnerung entwickelt er seine Überlegungen und endet nach drei bis fünf Seiten mit einer für ihn naheliegenden Erkenntnis. Ob nun Sonnenuntergänge, 17.000 Jahre alte Wandmalerei, Teddybären, Diet Dr Pepper oder ein Bakterium - abschließend erhält jeder "Protagonist" eine Bewertung nach dem Sternchenvergabesystem. Eins ist wirklich eine miese Bilanz, fünf eine hervorragende.
So begegnen wir der Welt von John Green, die in Teilen auch unsere Welt ist. Alle Themen sind immer privat. Sehr privat. Bis zur Offenlegung der eigenen Depression und den ganz persönlichen Tiefpunkten.
Zweifel an Konventionen und Forderungen
Anfangs fragte ich mich, ob mich denn all die Privatheit John Greens wirklich interessiert, denn er ist ja kein Jahrhundertphilosoph. Dann aber weiten die Geschichten meinen Blick, denn sie führen zu übergeordneten Zusammenhängen und sind angereichert mit einer Vielzahl literarischer Zitate. Hinter all dem blitzt ein Mensch auf mit dem Willen, Sinnvolles zu tun, obwohl der Alltag zuweilen eine Herausforderung ist. Immer wieder bezweifelt Green Konventionen und Forderungen, die eine moderne Gesellschaft an ihre Bürgerinnen und Bürger im Sinne wirtschaftlicher Effizienz stellt.
Humorvoll und charmant, wie Green beschreibt, dass er sein Talent statt in Malerei oder Mathematik im "Fremde googlen" entdeckte, wie er seine Liebe zu seiner Frau und Indianapolis einordnet und die Wichtigkeit der Kunst und der "Dritten Dinge", die in einer Ehe unverzichtbar sind. Oder das erste Flüstern seiner kleinen Tochter und die Bedeutung des Films "Mein Freund Harvey", in dem James Stewart einen netten, aber eigenwilligen Mann spielt, dessen Freund ein für andere unsichtbarer Riesenhase ist:
"Ich glaube nicht an Erleuchtung. Meine Geistesblitze erweisen sich meistens als flüchtig. Aber eines kann ich sagen: Seitdem ich ,Mein Freund Harvey' gesehen habe, habe ich mich nie wieder so hoffnungslos gefühlt wie davor. [...] Auch wenn mein Genesungsprozess stockend und häufig unsicher war, ging es mir immer besser. Wahrscheinlich lag es an der Therapie und an den Medikamenten, sicher, aber Elwood spielte ebenfalls eine Rolle. Er zeigte mir, dass man verrückt und trotzdem ein Mensch sein konnte, dass man trotzdem wertvoll war und geliebt werden konnte. Elwood bot mir eine Form der Hoffnung, die kein Blödsinn war, und half mir dadurch, zu erkennen, dass Hoffnung die richtige Antwort auf das seltsame und oft erschreckende Wunder des Bewusstseins ist. Hoffnung ist nicht einfach oder billig. Sie ist wahr."
Mein Freund Harvey – fünf Sterne. Virale Meningitis – ein Stern.
Wie Green ein Foto liest
"Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" - ein Foto von August Sander aus dem Jahr 1914 - viereinhalb Sterne. Es ist das berühmte Bild der drei jungen Männer, die mit schwarzen Anzügen und Hut und Stock bekleidet auf einem Acker stehen und sich dem Fotografen über die rechte Schulter zuwenden. Wie John Green dieses Foto interpretiert und einordnet:
"Wenig später sollte Deutschland sich im Krieg befinden, und dieselbe Industrialisierung, die die Anzüge ermöglichte, sollte massenhaft Waffen produzieren, die weit tödlicher waren als alle Waffen, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Deshalb ist das Foto für mich ein Bild über Wissen und Nichtwissen. Du weißt, dass du zum Tanzen unterwegs bist, aber nicht, dass du zu einem Krieg unterwegs bist. Das Bild ist eine Erinnerung daran, dass du nie weißt, was dir passieren wird oder deinen Freunden oder deinem Land."
Immer persönlich
Gesellschaftskritisch, amerikakritisch, kapitalismuskritisch, den Klimawandel fürchtend, den Viren und Bakterien mit ihrem Überlebenswillen Respekt zollend, niemals abgehoben, niemals mit Fremdworten jonglierend, immer persönlich und somit auf besondere Weise bindend, so erzählt John Green. Mal heiter, oft ernst, frei und assoziativ, was bedeutet, dass auch wir nicht jedem Vergleich, nicht jeder Assoziation und nicht jeder Sternevergabe 100-prozentig folgen müssen. Die in kurzen Kapiteln verknüpften Gedanken regen zum Nachdenken an oder sind vielleicht schnell vergessen. Dann aber waren sie zumindest unterhaltsam.
John Green hatte Spaß, sich zu erinnern und Sterne zu vergeben. Ich hatte Spaß mit Greens Selbstdistanz und seiner verblüffenden Offenheit. Ein unkonventionelles Sachbuch. Für John Green Fans ein Muss. Für Neugierige eine Gelegenheit, Fan zu werden.
John Green: "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? Notizen zum Leben auf der Erde"
aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle und Violeta Georgieva Topalova
Hanser Verlag, München. 318 Seiten, 22 Euro.
aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle und Violeta Georgieva Topalova
Hanser Verlag, München. 318 Seiten, 22 Euro.