"Ich habe angefangen, Sozialwissenschaften zu studieren, weil es mir Spaß macht und weil es wirklich das Fach ist, das jeden begeistert hat."
Kalle Huner aus Moers möchte Lehrerin werden, gerade startet ihr Praxissemester an einem Gymnasium. Das Fach Sozialwissenschaften wird sie aber wohl nicht unterrichten können: Seit dem vergangenen Schuljahr wird es in Nordrhein-Westfalen durch das Fach Wirtschaft/Politik ersetzt – es ist eines der großen Bildungsprojekte der schwarz-gelben Landesregierung.
"Das möchte ich einfach nicht", sagt Kalle Huner, denn "Sozialwissenschaften" sei als Kombifach aus Soziologie, Politik und Ökonomie inhaltlich viel breiter aufgestellt als das Fach Wirtschaft/Politik.
Online-Petition für die Beibehaltung des Faches Sozialwissenschaften
"Diese interdisziplinäre Teilung ist das, was ich so bewundernswert an dem Fach finde, weil man sich ein einziges Problem aus drei verschiedenen Perspektiven anschauen kann."
Die 25-Jährige hat deshalb unter dem Hashtag "Sowi bleibt" eine Online-Petition gestartet – nach gut einer Woche haben schon mehr als 35.000 Menschen unterschrieben.
Das Thema sorgt in NRW nicht nur unter Studentinnen und Studenten für Unruhe, auch etliche Verbände sowie SPD und Grüne sprechen sich mittlerweile vehement gegen die Änderungen aus. Denn es geht nicht mehr nur um das Schulfach – nach den Plänen der NRW-Landesregierung soll das Fach Sozialwissenschaften auch im Lehramtsstudium verschwinden und durch Wirtschaft/Politik ersetzt werden. So liest es sich im Entwurf der neuen Lehramtszugangsverordnung, den das Schulministerium jüngst veröffentlicht hat.
"Das ist natürlich jetzt erstmal richtig deutlich geworden, weil jetzt klar wird, wenn man quasi nicht mehr das Fach 'Sozialwissenschaften' studieren kann, sondern nur noch das Fach Wirtschaft/Politik und dann wird das Fach auch nicht mehr der Fakultät Sozialwissenschaften zugeordnet, sondern der Fakultät Wirtschaft", sagt die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW, in Nordrhein-Westfalen, Maike Finnern.
"Wir erleben jetzt schon, bei den ersten Universitäten, die sich jetzt auf den Weg machen, das umzusetzen, das es in den neuen Studiengängen eigentlich gar keinen Anteil an soziologischen Vorlesungen geben soll."
Schwerpunkt-Verschiebung hin zu mehr Wirtschaft
Das NRW-Schulministerium versteht den ganzen Aufruhr nicht. Auch das neue Fach Wirtschaft/Politik berücksichtige alle drei Teildisziplinen – Wirtschaft, Politik und Soziologie – nur die Schwerpunktsetzung sei eine andere. Genau diese Schwerpunkt-Verschiebung hin zu mehr Wirtschaft besorgt allerdings viele.
Die Bielefelder Professorin für Sozialwissenschaften und Landesvorsitzende des Deutschen Vereins für Politische Bildung, Bettina Zurstrassen, befürchtet langfristig, "dass beispielsweise die Soziologie weitgehend aus der Lehrerausbildung für Sozialwissenschaften herausgekickt wird."
Zum Misstrauen hat sicherlich auch beigetragen, dass das Ministerium noch vor einem halben Jahr davon sprach, dass bisherige Sozialwissenschafts-Studierende und -Lehrerinnen eine Zusatzqualifikation bräuchten, um Wirtschaft/Politik zu unterrichten. "Da wollte man tatsächlich den Studierenden, aber auch den Lehrkräften die Fakultas für das Fach Wirtschaft/Politik aberkennen."
Dass die Fakultas, also die Erlaubnis, ein bestimmtes Fach zu unterrichten, den Sozialwissenschafts-Lehrkräften für das neue Fach aberkannt werden könnte, ist mittlerweile vom Tisch – aus dem Ministerium heißt es jetzt gegenüber dem Deutschlandfunk: "Bereits ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer mit dem Studienfach Sozialwissenschaften und einer entsprechenden Lehrbefähigung behalten diese Lehrbefähigung."
Ähnliches gelte auch für heutige Studierende. Lediglich künftige Studienanfänger würden ihren Master of Education mit dem Fach Wirtschaft/Politik abschließen.
Dennoch: Es müsse auch in Zukunft sichergestellt werden, dass die Soziologie nicht unter den Tisch fällt, mahnt die GEW-Vorsitzende Maike Finnern: "Gegen eine Stärkung von Verbraucherbildung, da haben wir ja gar nichts, aber diesen soziologischen Aspekt, der für Politik und der auch für das Verständnis von Wirtschaft ja sehr sehr wichtig ist, jetzt so zu marginalisieren, das ist eigentlich das große Problem."