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Nigeria
Blutige Tradition radikaler Gruppierungen

Radikal-islamistischen Terror gibt es in Nigeria nicht erst seit den Entführungen und Anschlägen von Boko Haram. In den 1980er-Jahren sorgte die Maitatsine-Bewegung für Unruhe. Die konnte nach jahrelangen Kämpfen zerschlagen werden. Mit Boko Haram scheint das nicht zu gelingen.

Von Katrin Gänsler | 19.05.2014
    Mit der Entführung der mehr als 200 Schülerinnen hat die islamistische Terrorgruppe Boko Haram eines geschafft: Noch nie zuvor wurde so heftig über religiösen Fanatismus in Nigeria diskutiert wie im Moment.
    Dabei hat es radikale Gruppierungen in dem Land immer gegeben. So sorgte in den 1980er-Jahren die Maitatsine-Bewegung in der Millionenstadt Kano für Unruhe. Gegründet wurde sie von dem kamerunischen Prediger Mohammed Marwa. Er scharte junge, frustrierte und meist arbeitslose Jugendliche um sich. Marwa lehrte seine Anhänger, es sei heidnisch, andere Bücher als den Koran zu lesen. Hussaini Abdu, Leiter der Organisation Action Aid und Kenner des Islam in Nigeria, zieht Parallelen zur Boko-Haram-Bewegung:
    "Ich sehe keinen großen Unterschied in ihrer Ideologie. Ich denke sogar, dass Boko Haram die Weiterentwicklung von Maitatsine ist. Auch Maitatsine hat damals so viele Dinge abgelehnt. Sie sagten etwa: Gott mag keine Fernseher."
    Einen Unterschied gab es allerdings. Nach jahrelangen blutigen Schlachten mit nigerianischen Sicherheitskräften konnte die Maitatsine-Bewegung zerschlagen werden. Mit Boko Haram scheint das nicht zu gelingen. Knapp 30 Jahre später haben die Anhänger der Gruppe einen entscheidenden Vorteil, sagt Hussaini Abdu:
    "Sie sind in der Zeit des globalen Terrorismus großgeworden. Deshalb bekommen sie sehr leicht Unterstützung von anderen Terrornetzwerken. All diese Strukturen haben Boko Haram geholfen, stark zu werden und Nigeria mehr zu schaden als alle früheren Terrorbewegungen."
    Höhepunkt der Gewalt 2009
    Doch auch die wachsende Wut auf den nigerianischen Staat dürfte immens zur Radikalisierung beigetragen haben. Schon in der Anfangsphase von Boko Haram im Jahr 2002 kritisierte Gründer Mohammed Yusuf die seiner Überzeugung nach korrupten muslimischen Eliten im Norden sowie den Untergang des wahren Islam. Er forderte einen Staat, der alleine auf der Scharia beruht. Mohammed Yusuf agierte öffentlich. Jeder kannte in dessen Heimatstadt Maiduguri die Orte, an denen er predigte. Gerade junge Menschen fanden das attraktiv. Erst Jahre später lieferte sich Boko Haram Kämpfe mit Militär und Polizei. Zu einem Höhepunkt kam es im Juli 2009, erklärt Sheikh Ahmad Gumi aus Kaduna. Er gilt als prominenter Vertreter des konservativen Islam:
    "Sie wurden unter dem damaligen Präsidenten Umaru Musa Yar'Adua zu militanten Kämpfern. Yar' Adua war ein Muslim aus dem Norden, der Boko Haram angreifen ließ. Dabei starb auch deren Gründer Mohammed Yusuf. Ein muslimischer Präsident hat also versucht, Boko Haram zu vernichten. Doch danach explodierten deren Aktionen."
    Nicht nur Sekten-Mitglieder, sondern auch Menschenrechtsorganisationen haben die Umstände von Yusufs Tod oft kritisiert. Denn er hätte, so der Vorwurf, auch verhaftet und vor Gericht gestellt werden können. Stattdessen soll er regelrecht hingerichtet worden sein. Die überlebenden Mitglieder gingen in den Untergrund. Bei der Maitatsine-Bewegung in den Achtzigerjahren war dagegen immer relativ klar, wo sich deren Anhänger in Kano aufhielten.
    Für Sheikh Ahmed Gumi ist das größte Problem der heutigen Situation unterdessen nicht die radikale Auslegung des Islam durch Boko Haram:
    "Natürlich gibt es Boko Haram. Sie sind unter uns. Wir haben mit ihnen diskutiert. Sie haben ihre eigene Auslegung des Islam. Das gibt es in jeder Religion. Im Judentum, im Christentum. Auch der Islam ist eine Religion. Die verschiedenen Auslegungen innerhalb einer Religion sind nicht das Problem. Das Problem ist, dass Leute in Nigeria von den Terror-Aktionen von Boko Haram profitieren."
    Zusammenarbeit mit Politikern?
    Gerüchte darüber gibt es in Nigeria reichlich. Doch Nnamdi Obasi glaubt nicht, dass Nigerias aktuelle Krise noch irgendjemandem hilft. Er ist Nigeria-Analyst der International Crisis Group, die weltweit politische Entwicklungen beobachtet und analysiert.
    "Ganz klar ist die Regierung ein Verlierer. Sie hat Ressourcen und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Um andere wichtige Dinge konnte sie sich nicht kümmern. Auch das Militär ist ein großer Verlierer, nicht nur durch den Tod von Soldaten und den Verlust von Ausrüstung, sondern vor allem Image und Moral sind weg. Aber die größten Verlierer sind die drei Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa."
    Dabei heißt es vielerorts: Boko Haram würde von Politikern aus dem Norden unterstützt. Dadurch könnten sie Präsident Goodluck Jonathan schwächen, der aus dem Süden stammt und in Nordnigeria sehr viel an Ansehen eingebüßt hat. Nnamdi Obasi jedoch hält nichts von diesen Spekulationen:
    "Dafür haben wir keine Beweise. Wir wissen aber, dass es anfangs Verbindungen zwischen Religion und Politik im Bundesstaat Borno gegeben hat. Es gibt Vorwürfe, dass der damalige Gouverneur Ali Modu Sheriff seinerzeit mit der Gruppe zusammen gearbeitet hat. Man muss das im Zusammenhang mit seinen politischen Interessen sehen. Es ging sicherlich nicht darum, langfristig Aufständische zu unterstützen."