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Nino Haratischwili: "Die Katze und der General"
Kann jeder zum Mörder werden?

Nino Haratischwili neigt zu ausufernden Erzählwerken. Nun hat die gebürtige Georgierin mit Wohnsitz in Hamburg mit ihrem vierten Roman eine spannende und nicht weniger opulente Geschichte vorgelegt. Erzählt wird vom Tschetschenien-Krieg und von Schuld und Sühne.

Von Holger Heimann | 09.10.2018
    Buchcover: Nino Haratischwili: "Die Katze und der General"
    Nino Haratischwili: Star-Autorin der georgischen Literatur in Frankfurt (Buchcover: Frankfurter Verlagsanstalt, Foto: G2 Baraniak)
    Die Schriftstellerin Nino Haratischwili, die 1983 in Tbilissi geboren wurde und seit 2003 in Hamburg lebt, ist ein Phänomen. Als Jugendliche hat sie in Georgien Deutsch gelernt. Und als wäre es ein Kinderspiel, entschloss sie sich nach ihrer Übersiedlung in den Westen, ihre Romane und Theaterstücke fortan in der fremden Sprache zu verfassen. Die hiesige Literaturszene hat sie so im Sturm erobert. Schon ihr Debüt "Juja" von 2010 wurde ausgezeichnet. Der 1300-Seiten-Roman "Das achte Leben (Für Brilka)", jene große georgische und europäische Familiensaga, machte sie vier Jahre später berühmt.
    Ihr Arbeitspensum ist enorm. Früher habe sie am liebsten nachts geschrieben, mit ihrer kleinen Tochter sei das schwieriger geworden, sagt sie. Nicht jedoch, ohne ein Trotzdem anzufügen: "Ich will Schreiben nie so domestizieren, dass es für mich wie ‚zur Arbeit gehen’ ist. Weil ich möchte diesen - ich nenne das jetzt mal sehr pathetisch - ‚sakralen Raum’ irgendwie auch wahren und dieses Unkontrollierbare des Prozesses, was für mich dazugehört. Und ich möchte das jetzt gar nicht so zähmen."
    Auch ihr neuer Roman "Die Katze und der General" ist kein domestiziertes, sondern ein erzählerisch überbordendes Buch. Die epische Ausführlichkeit scheint geradezu in der Natur dieser Autorin zu liegen. Sie verrät: "Ich bin keine große Meisterin der Verknappung. Das fällt mir schwer. Grundsätzlich bin ich jemand, bei dem immer irgendwelche Kürzungen oder Striche anstehen. Das macht dann das Lektorat, und das ist auch gut so. Ich muss mich austoben dürfen. Dann weiß ich nicht, wie lang das geht, ob es drei Seiten hat oder dreihundert – da mache ich mir erstmal gar keine Gedanken. Jetzt bei dem Buch war ich mir aber eigentlich nach dem Achten Leben absolut sicher, es wird nicht länger als 350 Seiten."
    Die irre Logik des Krieges
    Der Roman ist mehr als doppelt so umfangreich. Er beginnt 1994 in einem kleinen tschetschenischen Bergdorf. Die Menschen hier leben nach alter Sitte und Tradition. Es ist eine archaische, von strengen Gesetzen bestimmte Welt. Der 17-jährigen Nura ist diese Welt zu eng, sie will nicht das vorbestimmte Leben ihrer Vorfahren wiederholen, sich nicht einem Ehemann unterordnen, gehorsam und duldsam sein. Die junge Frau ist entschlossen, für ihre Freiheit zu kämpfen, sich auch gegen ihre Sippe zu stellen.
    Doch dann kommt russisches Militär und mit ihm ein brutaler Krieg. Nura wird von einer Gruppe von Soldaten gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Ausgedacht hat sich Nino Haratischwili das extreme Geschehen nicht. Wer über die Grausamkeit und die irre Logik des Krieges im Gefolge des sowjetischen Zusammenbruchs schreiben will, der findet dafür kaum ein besseres Terrain als Tschetschenien:
    "Da gibt es ein reales Vorbild für diesen Vorfall. Der Ausgangspunkt war die Tatsache, dass diese Brigade in so eine Art Urlaub versetzt wird, weil sie so harte Kämpfe hatte und dann in dieses Aul kommt, also in dieses Dorf, und sich erstmal erholen muss. Und die Tatsache, dass die Menschen das da nicht aushalten, dass eines Tages bei denen die Sicherungen durchbrennen. Der Oberst inszeniert im Krieg einen Krieg. Diese Vorstellung, dass Menschen so dermaßen traumatisiert sind, und Krieg ist für die Normalzustand und besser aushaltbar als jede Form von Normalität oder Frieden, das fand ich beängstigend."
    Traumwandlerische Karriere
    Für alle Soldaten gilt das nicht. Der junge Alexander Orlow ist für den Krieg denkbar ungeeignet. Er ist ein Schöngeist, der sich lange dagegen gewehrt hat, als Rekrut einberufen zu werden. Doch auch der junge Soldat, der sich vorgenommen hat, irgendwie der Kriegshölle zu entkommen, wird unfreiwillig in den Mord an dem Mädchen verwickelt. In der Folge versucht er zunächst den Vorfall vor ein Gericht zu bringen, damit er selbst und seine Mittäter bestraft werden. Als Orlow jedoch die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens begreifen muss, lässt er sich auf einen Deal ein.
    Die faule Vereinbarung verhilft ihm zu einer märchenhaften Wandlung und traumwandlerischen Karriere. Aus dem zaghaften wird ein unnachgiebiger Mann, der rasch zu einem der reichsten und mächtigsten Oligarchen in Russland aufsteigt und nur noch der General genannt wird. Dessen Ziel aber bleibt es, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Mehr als 20 Jahre später ist es soweit:
    "Nun war er mächtig genug, brauchte keine Gerichte und keine Staatsanwälte, keine Richter und keine Zeugen mehr, er war jetzt sein eigenes Gericht. All das, was damals versäumt wurde, hatte er nun selbst in der Hand. Aus jetziger Sicht erschien es ihm nahezu kindlich naiv, dass er sich einmal an die Illusion von Gerechtigkeit geklammert hatte."
    Thriller um Schuld und Sühne
    Haratischwili erzählt diesen Thriller um Schuld und Sühne in zeitlichen Sprüngen und wechselweise aus unterschiedlichen Perspektiven. Rund um den im Zentrum stehenden General hat sie ein Ensemble unterschiedlicher Figuren versammelt. Zwei stechen heraus: Der deutsche Journalist Onno Bender, der mit dem unschönen Beinamen Krähe leben muss, hat sich an Orlows Fersen geheftet, weil er mehr über dessen märchenhaften Aufstieg in Erfahrung bringen will.
    Zur zentralen Figur neben dem General aber wird die Schauspielerin Sesili, die schon als Kind wegen ihrer Behändigkeit nur Katze genannt wird. Die junge Georgierin, die in Berlin lebt, gleicht der ermordeten Nura wie ein Zwilling. Sie soll dem General deshalb dabei helfen, die Täter von einst zur finalen Abrechnung noch einmal in den tschetschenischen Bergen zusammenzubringen. Immer stärker macht Katze, die selbst vom Krieg in Georgien traumatisiert ist, das späte Gericht zu ihrer eigenen Sache und nimmt dabei mehr und mehr die Identität der jungen Frau an, deren Rolle sie lediglich spielen soll: "Nura würde wissen, was zu tun war. Es durften keine Falschen mehr sterben. Aber wer waren denn die Richtigen für den Tod? Sie verwarf die Frage ..."
    Versuch eines neuen Lebens
    Haratischwili spielt gekonnt und ausgiebig mit den Mitteln der Suspense. Immer wieder werden die Leser - wie auch die handelnden Figuren - auf falsche Fährten lockt. Doch der Roman, der von seelischen Verwüstungen und dem verzweifelten Versuch der Wiedergutmachung erzählt, steuert nicht nur auf eine finale Abrechnung zu. "Die Katze und der General" ist auch ein Buch über das schwierige Ankommen in einem neuen Leben, in einem anderen Land. Nino Haratischwili hat das eigentümliche Milieu der postsowjetischen Aussiedler in Berlin genau und nicht ohne Zuneigung nachgezeichnet:
    "Ich wollte ursprünglich das Ankommen oder Migration gar nicht so zentral als Thema haben. Aber es ist es immer mehr geworden, weil ich das Gefühl hatte, man muss diese Figuren extrem gut ausleuchten und zwar in den verschiedenen Facetten ihres Lebens, um ihre Motivation nachzuvollziehen. Und zu Katze gehört eben das Thema ‚Ankommen’ beziehungsweise ‚Nie richtig ankommen'. Dann diese glücklosen Ostler, die da immer abhängen, die kenne ich halt auch. Es ist halt sehr typisch, irgendwie manchmal auch lustig, aber oft auch traurig. Diese ganze Welt, aus der sie kommt, die muss der Leser kennen, um nachzuvollziehen, warum sie in dieser Form der Radikalität sich sozusagen aus ihrem Leben davonschleicht."
    Rechtsfreie Räume
    Das Motiv der Wandlung kehrt im Roman zwar immer wieder. Aber insbesondere die Metamorphose der zentralen Figur, des Generals, macht Nino Haratischwili nicht ausreichend plausibel. Auch über manch andere Unwahrscheinlichkeit hat die Autorin zu rasch hinweggeschrieben. Ihre Neugier hatte vorrangig ein anderes Ziel, wie sie erläutert:
    "Was mich eigentlich viel mehr interessiert hat, war erstmal: Was passiert, wenn man Menschen in rechtsfreie Räume schickt? Was ist da möglich? Was sind das für Mechanismen? Sind alle Menschen gleich? Kann jeder potenziell zu einem Mörder werden? Kann jeder all das tun, was sie da in Tschetschenien tun? Oder gibt es auch Ausnahmen?"
    Die Antwort des Romans ist eindeutig: Krieg enthemmt und unbeschadet ist aus den blutigen Auseinandersetzungen, die nach dem Kollaps der alten Sowjetordnung die Region prägten, keiner davongekommen. Ein altes Sprichwort sagt: ‚Die Zeit heilt alle Wunden.’ "Die Katze und der General" zeigt, dass das nicht stimmt.
    Nino Haratischwili: "Die Katze und der General"
    Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main. 766 Seiten, 30 Euro.