Montag, 29. April 2024

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Norbert Röttgen über EU-Beitrittsgespräche
"Die Türkei sollte entscheiden"

Die Türkei sollte über die Frage der EU-Beitrittsgespräche selbst entscheiden, meint der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Der CDU-Politiker sagte im Deutschlandfunk, ein Abbruch der Verhandlungen durch die EU würde von Präsident Recep Tayyip Erdogan "nationalistisch ausgenutzt".

Norbert Röttgen im Gespräch mit Christine Heuer | 13.12.2016
    Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages (CDU).
    Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages (CDU). (dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler)
    Dennoch sollte die Europäische Union im Verhältnis zur Türkei eine klare Sprache sprechen, betonte Röttgen. Der Kurs von Präsident Erdogan hin zu einem autokratischen System sei ein "Kurs von Europa weg, der zu verurteilen ist, der die Demokratie beschädigt und den Rechtsstaat zerstört". Es müsse klar gemacht werden, dass "dies unvereinbar ist mit europäischen Grundsätzen und Werten".
    Deutsche Politiker sollten den türkischen Bürgern erklären, dass sie für den "Machthunger" ihres Präsidenten auch mit wirtschaftlichen Nachteilen bezahlen müssten. "Erdogan sägt an dem Ast, auf dem ihr alle sitzt, das muss man ganz klar sagen", forderte Röttgen.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Norbert Röttgen ist jetzt am Telefon. Der CDU-Politiker ist Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Guten Morgen, Herr Röttgen.
    Norbert Röttgen: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Wenn Aleppo fällt, wenn das Assad-Regime die Stadt zurückerobert, kann das dann auch eine Chance für den Frieden in Syrien sein?
    Röttgen: Das muss man leider verneinen, denn auf so viel Leid, Unrecht, Töten, Bombardieren, Aushungern und Vertreiben kann kein Frieden erwachsen, sondern es kann daraus nur neuer Hass und neue Gewalt erwachsen, und das ist das auch absolut wahrscheinliche Szenario.
    "Kriegsverbrechen, die auf der Tagesordnung stehen"
    Heuer: Die Rebellen in Aleppo, das sind ja im Wesentlichen Dschihadisten, Herr Röttgen. Ist es nicht gut, dass die jetzt wenigstens geschlagen sind?
    Röttgen: Das, was dort an unvorstellbarem Leid stattfindet, da gibt es kein Gutes. Und auch einer, der selber unrecht tut, Gewalt anwendet, von mir aus sogar ein Terrorist ist, dem widerfährt kein Recht, wenn so viel wahllose Gewalt und Bombardement stattfindet. Und die Realität ist ja, dass ganz unterschiedliche Menschen dort sind. Natürlich sind auch Terroristen dort. Es sind auch andere Kämpfer dort. Es sind aber genauso auch Kinder dort. Es sind auch Zivilisten dort, denen man nicht erlaubt, in Gebiete zu fliehen, die nicht von den Assad-Truppen beherrscht werden, wo sie fürchten, Terror und Folter ausgesetzt zu werden. Alle diese Menschen sind da und keinem kann man das wünschen und für Recht empfinden, was dort an Gewalt, an wahlloser brutaler Gewalt geschieht.
    Heuer: Kriegsverbrechen, sagt die UNO. Sie sagen das auch?
    Röttgen: Ja, und zwar an der Tagesordnung jeden Tag, und vor allen Dingen, weil gezielt gegen Zivilisten vorgegangen wird. Das ist eine militärische Strategie der Säuberung von einer Stadt und von Landstrichen, indem man gezielt bombardiert die Stellen, wo sich Zivilisten aufhalten, zum Beispiel in Kindergärten, in Schulen, in Hospitälern und auf Marktplätzen. Allein das, neben dem Giftgaseinsatz, der immer wieder vorkommt, das sind Kriegsverbrechen, die an der Tagesordnung dort stehen, und das seit Wochen und Monaten.
    Russland ist "aktiv kriegsführende Partei"
    Heuer: Sie fordern, gemeinsam mit der Grünen-Außenpolitikerin Franziska Brantner, wegen seiner Rolle in Syrien neue Sanktionen gegen Russland. Was genau erhoffen Sie sich davon, Herr Röttgen?
    Rötgen: Man muss ja fragen, was kann nach all dem, was auch falsch gemacht worden ist, was nicht gemacht worden ist auch seitens des Westens, der Amerikaner wie der Europäer, was sind unsere Handlungsmöglichkeiten jetzt. Und das einfache Nichtstun, was jetzt den Kern westlicher Politik ausmacht, ist nicht akzeptabel. Und wenn Kriegsverbrechen stattfinden und Russland ist nicht nur unterstützende Partei, sondern aktiv kriegsführende Partei - ohne die russische Beteiligung würde es diese Kriegsverbrechen nicht geben, wenn sie sie nicht selber mit ausüben -, dann muss das Konsequenzen haben und eine der Konsequenzen, die noch übrig bleibt, wir haben keine militärischen Mittel, wir wollen keine und können keine einsetzen, dann ist es, dass man eine wirtschaftliche Sanktion verhängt. Denn bislang ist es so, dass Putin sein Kriegstreiben durchführen kann, ohne irgendeine Konsequenz annehmen zu müssen. Sanktionen würden die einhellige Verurteilung der westlichen Gemeinschaft bedeuten und würden zweitens die Folgen- und Kostenkalkulation ökonomisch und politisch mittelfristig bei Putin verändern.
    Heuer: Haben Sie den Eindruck, Herr Röttgen, dass Ihre Argumentation im Kanzleramt und auch im Außenministerium gehört wird? Glauben Sie, dass die Regierung Ihrem Ratschlag folgt?
    Röttgen: Man hat ja bei den unterschiedlichen Räten sehen können, vor allen Dingen auch bei dem Rat der Staats- und Regierungschefs, dass es unter den Staats- und Regierungschefs in der Europäischen Union für diesen Vorschlag, mindestens mal es zu benennen als eine Möglichkeit, durchaus viele Unterstützer gegeben hat. Nach dem, was ich gelesen habe, ist dem auch von deutscher Seite gefolgt worden. Aber es war vor allen Dingen Italien, das auf Regierungschefebene diese Linie nicht mitgetragen hat, neben einigen anderen Ländern, und darum ist es nur ganz zurückhaltend angedeutet worden.
    "Eine Forderung, die keine Chance darauf hat, verwirklicht zu werden"
    Heuer: Das lag nicht an Deutschland? Das lag nicht daran, dass Frank-Walter Steinmeier gezögert hat, dass Angela Merkel zögert?
    Röttgen: Nein. Das war ja der Rat der Staats- und Regierungschefs.
    Heuer: Genau, wir waren gerade in der EU. Aber ich frage Sie ja nach Deutschland.
    Röttgen: Genau. Und auf dieser Ebene - ich nehme keinen für mich, für meine Position in Anspruch, sondern ich referiere nur das, was ich in Zeitungen gelesen habe - haben Deutschland, Frankreich, Großbritannien den Entwurf der Europäischen Union, in dem Sanktionen benannt waren, unterstützt. Italien hat dem vehement widersprochen, neben einigen anderen Ländern. Unter den Außenministern - und wenn Sie gerade von Deutschland auch reden - gibt es für den Vorschlag von Sanktionen keine Unterstützung.
    Heuer: Als Möglichkeit benennen, wollte ich gerade sagen, ist ja auch was anderes als umsetzen. - Sie stellen eine Forderung auf, aber Sie haben überhaupt keine Hoffnung darauf, dass das auch tatsächlich gemacht wird?
    Röttgen: Nach Lage der Dinge im letzten Rat hat das unter den Regierungschefs keine Einheitlichkeit gefunden und man braucht Einheitlichkeit, um so was zu machen. Darum ist das eine Forderung, die keine Chance darauf hat, so wie die Dinge liegen, verwirklicht zu werden.
    Heuer: Herr Röttgen, darf ich Ihnen noch kurz eine Frage zur Türkei stellen, weil das wird ja heute auch eine Rolle spielen bei den Außenministerberatungen in Brüssel? Sie haben gerade so sehr votiert dafür, dass man Russland Grenzen aufzeigt, dass man handeln muss, dass die EU sich positionieren muss. Gilt das auch für die Türkei, wo wir eine wachsende Autokratie erleben, wo gerade die größte Oppositionspartei de facto ausgelöscht wird, jedenfalls als politische Kraft. Mit anderen Worten: Fordern Sie, dass die Beitrittsgespräche mit der Türkei beendet werden?
    "Erdogan sägt an dem Ast, auf dem ihr alle sitzt"
    Röttgen: Die erste Frage war, muss auch dort eine klare Sprache gesprochen werden. Meine Antwort ist: Selbstverständlich ja. Es muss auch dort klar gesagt werden, dass neben den Anschlägen und dem Staatsstreich, den man gesehen hat, der verurteilt wird und verurteilungswürdig ist, aber der eindeutige Kurs von Staatspräsident Erdogan, der wiederum auch diese Anschläge mit ausnutzt, hin zu einem autokratischen, autoritären System, ein Weg von Europa weg ist, der zu verurteilen ist, der die Demokratie beschädigt und den Rechtsstaat zerstört, und dass das etwas ist, was unvereinbar mit europäischen Grundsätzen und Werten ist. Ich finde, wir sollten auch als deutsche Politiker und deutsche Öffentlichkeit vor allen Dingen den türkischen Wählern, den türkischen Bürgern sagen, für diesen Machthunger eures Präsidenten werdet ihr bezahlen müssen, indem der Weg weg von Europa führt und indem ihr auch wirtschaftliche Nachteile erleiden werdet. Erdogan sägt an dem Ast, auf dem ihr alle sitzt. Das muss man ganz klar sagen.
    Heuer: Herr Röttgen, kurz zum Schluss wirklich. Beitrittsgespräche abbrechen ja oder nein?
    Röttgen: Meine Auffassung ist, dass diese Frage in der Türkei entschieden werden sollte, und wenn das Verhalten so weitergeht, dann ist das die Entscheidung der Türkei, nicht mehr in die EU zu wollen. Ich glaube nicht, dass es richtig wäre, wenn die EU das macht, denn das würde wiederum nationalistisch durch Staatspräsident Erdogan in der Türkei ausgenutzt werden.
    Heuer: Norbert Röttgen, Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, CDU-Politiker, Herr Röttgen, danke für das Gespräch heute früh.
    Röttgen: Ich danke Ihnen.
    Heuer: Auf Wiederhören!
    Röttgen: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen..