Unter Zugreisenden in den USA ist diese Stimme berühmt. Die "automatische Telefonagentin" Julie steht für alles, was die amerikanische Eisenbahngesellschaft Amtrak ausmacht: Altbacken, ein wenig nostalgisch, und vor allem - langsam.
Man soll also einfach "Hilfe" sagen, na denn. Mit ihrer Automatenstimme schickt Julie Reisende durch einen aufreibenden Kampf. Sie versteht Sprachkommandos nicht, sie bittet um Wiederholung. Als wollte sie sicherstellen, dass nur die Geduldigen ein Ticket buchen. Nur wer bis zum Ende durchhält, schafft es in den Zug. Die Reise kann beginnen.
Erste Station: New York City, Penn Station. Gleich fährt der einzige Zug des Tages nach Pittsburgh, auf einer der ältesten Routen im Schienensystem der USA. Ein Straßenhändler verkauft Zeitungen, Krankenwagen brausen durch die engen Hochhausschluchten der 33. Straße.
Mit der Rolltreppe geht es in die Tiefe in einen Warteraum mit flachen Decken und endlosen Reihen von Plastikstühlen. Ein kräftiger Afroamerikaner in Amtrak-Uniform hilft Passagieren beim Koffertragen. Seine Kollegen rufen ihn "Johnny Bags", weil er den ganzen Tag Taschen kreuz und durch die Penn Station schleppt. Dabei wäre er lieber am Flughafen.
"Dort dürften wir die Leute wenigstens scannen und abtasten. Und Trinkgeld gibt es hier wirklich selten. Das meiste ist Kleingeld, nur einmal habe ich 100 Dollar bekommen."
Johnny Bags deutet einen Diener an, dann zieht er sich zurück. Hier geht eben alles etwas förmlicher zu als beim Zugfahren in Europa. Der Schaffner führt seine Schäfchen zum Abteil, jeder bekommt einen Sitzplatz angewiesen, und vor der Abfahrt gibt der Zugbegleiter eine Sicherheitseinführung, wie im Flugzeug.
Dann ruckelt der Zug durch den Untergrundbahnhof ins Freie. Am Ende des letzten Wagens steht Kevin Smith, breitbeinig wie ein Surfer, gebügeltes Hemd, hornlose Brille, und blinzelt durch ein kleines Fenster auf die Gleise. Sein Blick wandert hin umher zwischen einer Zeitschrift über Züge und den Schienen in der echten Welt. Smith ist ein "Trainspotter" - begeistert kommentiert er jede Lok, die entgegen kommt, jede Signalanlage, jede Brücke.
"Ich bin fast jede Amtrakroute gefahren, so 95 Prozent. Bevor ich sterbe, will ich alle haben. Außerdem fehlen mir drei Bundesstaaten der USA, die schaffe ich noch dieses Jahr. Ich liebe die Züge, ihre Nostalgie, und dass man wunderbare Leute trifft.."
Smith bleibt nicht lange allein in dem winzigen Ausguck. Auch Tony Groff ist Eisenbahnfan. Er fährt 600 Kilometer mit dem Zug, nur um die Hufeisenkurve sehen, eine 180-Grad-Biegung, die einst die Reisezeit von Philadelphia nach Pittsburgh von sieben Tagen auf zwölf Stunden verkürzte.
"Morgen stehen wir früh auf, damit wir diese Kurve auf dem Heimweg im Tageslicht sehen. Kostet mich 500 Dollar, aber das ist doch nur Geld."
Während Tony erzählt, gesellt sich der Zugführer hinzu fällt ihm ins Wort.
"Die Hufeisenkurve ist wirklich eine Meisterleistung der Ingenieure, heute wie damals."
Dale Sacker ist Eisenbahnfan in Uniform. Er sieht aus wie ein Teddybär, fast zwei Meter groß mit einem mächtigen Bauch und weichen, jugendlichen Gesichtszügen. Seine rote Bäckchen wirken, als sei er nach sieben Jahren auf der Strecke noch immer aufgeregt wie am ersten Tag.
"Mein Großvater war 50 Jahre lang bei der Pennsylvania Railroad. Ich bin der letzte Eisenbahner der Familie in seiner Tradition. Das Erbe solcher Männer macht mich stolz."
Stundenlang diskutieren die Trainspotter, wandern gemeinsam vom Zugende in den Speisewagen und zurück, Dale Sacker erledigt seine Arbeit nebenher, er knipst Tickets, bis die Passagiere in Pittsburgh ihrer Wege gehen.
Eine Woche später in Houston, morgens um fünf Uhr. Der Sunset Limited ist schon zwei Tage unterwegs, als er hier Station macht. Das Bahnhofsgebäude ist kaum größer als ein Baucontainer. Eine Holztafel mit Plastiklettern weist darauf hin, dass hier nur an drei Tagen pro Woche Züge fahren. Freiwillige Bahnmitarbeiter fertigen geduldig eine Handvoll Passagiere ab. Das Gepäck verladen sie auf einen Traktor, dabei sind es bis zum Zug nur 20 Meter.
Neun Stunden dauert die Fahrt nach New Orleans. Viele Passagiere sind auf dem Weg in ihre frühere Heimat, die sie nach Hurricane Katrina 2005 verlassen haben. Sie tragen Plastiksäcke voller Kleidung mit sich, Kühlboxen für das Mittagessen, Spielzeug für die Kinder. Elle Philipps, eine korpulente Frau Mitte fünfzig mit orange gefärbten Haaren, hat sich mit ihren Enkeln über zwei komplette Sitzreihen ausgebreitet. Der Vater der Kinder starb nach Katrina an einer Infektion.
"Mein Sohn war damals erst 23. In unserer Familie sind viele ertrunken, auch Freunde, wir haben alles verloren. 27 von uns schliefen auf kleinen Matratzen, wir hatten nichts mehr. Die Stadt Houston hat uns damals sehr geholfen, so konnten wir uns wieder ein Leben aufbauen."
Die wenigsten kommen dauerhaft zurück, New Orleans ist nach dem Hurricane um fast 150.000 Einwohner geschrumpft. Auch Elle Philipps kommt nur zu Besuch.
"Für mich wird es nie wieder sein wie früher. Ich besuche New Orleans, aber nach ein, zwei Wochen muss ich zurück nach Houston, das ist jetzt meine Heimat."
Im Kioskabteil, zwischen Chips-Tüten und Getränkedosen, reicht Carolyne Myers eine Nudel-Terrine über die Theke. Sie trägt eine Eisenbahnerweste, ihr Kopf ist voller Zöpfe. Wer nett zu ihr ist, dem gießt sie die Fertiggerichte sogar mit kochendem Wasser auf. Viele Gäste bleiben stundenlang, erzählen Myers ungefragt ihre Lebensgeschichten. Sie behält dabei ihre gute Laune, auch am dritten Tag.
"Ehrlich gesagt ist der letzte Tag oft ätzend. Aber mit netten Kunden kann alles gut laufen. Ich liebe zum Beispiel die Leute, die noch an Züge glauben, wie diese eine Lady, die muss 90 sein, die wirft sich für das Abendessen immer richtig in Schale, sehr förmlich. Die schickt sogar Weihnachtskarten."
Vor drei Jahren war Carolyne ihre Arbeit leid. Kaum Passagiere, miese Bezahlung. Dann fuhr US-Präsident Barack Obama im Zug zu seiner Vereidigung und versprach acht Milliarden Dollar für Hochgeschwindigkeitstrassen.
"Wenn der Präsident Zug fährt, fahren alle Zug. Er hatte einen riesigen Einfluss, seither kommen die Leute wieder an Bord. Die letzte Regierung mochte Züge gar nicht."
Carolyne schließt ihr Verkaufsfenster, dann schaukelt sie der Treppe entgegen, ein Schlüsselbund baumelt gegen ihre Beine. Natürlich kommt der letzte Kunde immer dann, wenn sie gerade geht.
Einen Tipp hat sie noch.
"Ich muss jetzt echt los, aber wenn Du noch mehr erfahren willst, sprich mit John im Speisewagen, der ist schon ewig hier im Zug."
Auf zu John. Der ist nicht zu verfehlen. Blaue Schürze, weiße Uniform, Krawatte - ein Gentleman der singt, während er eindeckt für das Mittagessen. Auf jedem Tisch breitet er eine Rüschendecke aus, rückt die Blumen zurecht, zupft den Vorhang akkurat in Position. Genau so macht er das seit mehr als 40 Jahren.
"In meiner Zeit hat sich die Eisenbahn stark verändert. Anfangs mussten wir noch im Speisewagen schlafen, Zimmer hatten wir keine. Und wir durften nichts mit den Leuten zu tun haben, die wir bedienten."
Von den weißen Fahrgästen hatte sich der farbige John Islam fernzuhalten, er trat seinen Job mitten in der Bürgerrechtsbewegung an. Auch heute noch muss er mit rassistischen Äußerungen umgehen, erzählt er schulterzuckend.
"Ich wurde aber in dem Glauben erzogen, dass man zurückbekommt, was man gibt. Mir macht es Freude, Leute so zu behandeln, wie ich auch behandelt werden will. So arbeite ich, und so lebe ich auch."
Dann keucht der Zug nach New Orleans hinein. Wer den Anschluss nach Chicago nimmt, hat keine Eile. Der fährt nämlich erst in 22 Stunden. Der Bahnhof liegt nah am French Quarter, dem berühmten Jazz-Viertel der Stadt am Golf von Mexiko. Wer im Zug geschlafen hat, kann hier die ganze Nacht auf den Straßen verbringen.
Aufgebrachte Priester warnen voller Pathos vor den Stripklubs, und vor einer kolonial anmutenden Kirche setzt sich ein tanzender Hochzeitszug in Bewegung. So geht es von Party zu Party, von Jazzbar zu Jazzbar, bis es Zeit ist für den Anschlusszug.
Ein paar Tage später. Die Fahrt mit dem California Zephyr führt von Chicago nach San Francisco, ans andere Ende des Kontinents. Zwei Tage lang rollt der Zug durchs flache Land, vorbei an den Stoppelfeldern der Maisindustrie. Kurz hinter Denver, kriecht er dann kurz nach Sonnenaufgang steil hinauf, durch 27 Tunnel hoch in die Rocky Mountains. Im rundum verglasten Aussichtswagen klicken Kameras, es geht vorbei an vereisten Seen und wilden Canyons. Manchmal zwingt eine Flussbiegung die Gleise zum Ausweichen. Dann schleicht sich der Zug durch die Kurve, und im Aussichtswagen rücken Pärchen enger zusammen.
Immer wieder hält der Zug - mal um neue Passagiere aufzunehmen, mal um Frachtzügen Vorfahrt zu gewähren. So trifft man im Landesinneren vor allem Passagiere, die es nicht eilig haben. Zugfahren, so scheint es, ist hier mehr nostalgisches Vergnügen als effizienter Transport.
Am späten Nachmittag machen es sich drei Männer im Kiosk-Wagen bequem. Sie sind laut und vergnügt, und es dauert nicht lange, bis ein bärtiger Busfahrer aus Oregon namens Art ein Lied anstimmt.
Art bindet seine weiße Mähne zu einem Zopf zusammen, darunter kommt ein rundes Gesicht mit wachen Augen zum Vorschein. Sein Kapuzenpulli erinnert an früher, da war er radikaler und verübte Anschläge auf Fabriken, die die Umwelt verschmutzten. Heute will er die Dinge lieber im Kleinen verändern.
"Ich fahre Zug weil das weniger Emissionen verursacht als Fliegen oder Autofahren. Ich verstehe nicht, warum nicht mehr Leute das machen."
Art gegenüber sitzt Steve, ein Lebenskünstler aus Nordkalifornien. Er legt seine Winterjacke ab und rückt die goldene Nickelbrille zurecht. Bevor er singt, fährt er sich noch einmal durch die lichten Haare.
Draußen tobt ein Schneesturm, irgendwo zwischen dem großen Salzsee von Utah und der Sierra Nevada. Die Männer trinken Bier und singen Lieder, sie erzählen Geschichten und streiten über Politik
Es sind Abende wie dieser, an denen die Zugfahrer spüren, dass sich die lange Fahrt gelohnt hat. Das viele Warten, das stundenlange Dahinrollen durch monotone Landschaften. An denen selbst scheinbar banale Reisetipps wie die von Steve irgendwie nach Weisheit klingen.
"Die erste Regel ist: Verlasse sofort deinen Platz. Ich schreibe mir notfalls meine Sitznummer auf die Hand, Wagen 1, Nummer 37. Mir wird nie langweilig, ich suche Leute mit Büchern, Laptops, einem Drink in der Hand, ich setze mich neben Fremde und frage, ob sie Lust haben, zu reden. Wer so weit gekommen ist, hat auf jeden Fall eine Geschichte zu erzählen. Jeder hat doch eine Geschichte."
Lesetipps:
Waiting on a train - A year spent riding across America. James McCommons beschäftigte sich ein Jahr lang mit der Zukunft der Passagierzüge in den USA.
The first tycoon - The epic life of Cornelius Vanderbilt. Biographie, für die T.J. Stiles mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.
Man soll also einfach "Hilfe" sagen, na denn. Mit ihrer Automatenstimme schickt Julie Reisende durch einen aufreibenden Kampf. Sie versteht Sprachkommandos nicht, sie bittet um Wiederholung. Als wollte sie sicherstellen, dass nur die Geduldigen ein Ticket buchen. Nur wer bis zum Ende durchhält, schafft es in den Zug. Die Reise kann beginnen.
Erste Station: New York City, Penn Station. Gleich fährt der einzige Zug des Tages nach Pittsburgh, auf einer der ältesten Routen im Schienensystem der USA. Ein Straßenhändler verkauft Zeitungen, Krankenwagen brausen durch die engen Hochhausschluchten der 33. Straße.
Mit der Rolltreppe geht es in die Tiefe in einen Warteraum mit flachen Decken und endlosen Reihen von Plastikstühlen. Ein kräftiger Afroamerikaner in Amtrak-Uniform hilft Passagieren beim Koffertragen. Seine Kollegen rufen ihn "Johnny Bags", weil er den ganzen Tag Taschen kreuz und durch die Penn Station schleppt. Dabei wäre er lieber am Flughafen.
"Dort dürften wir die Leute wenigstens scannen und abtasten. Und Trinkgeld gibt es hier wirklich selten. Das meiste ist Kleingeld, nur einmal habe ich 100 Dollar bekommen."
Johnny Bags deutet einen Diener an, dann zieht er sich zurück. Hier geht eben alles etwas förmlicher zu als beim Zugfahren in Europa. Der Schaffner führt seine Schäfchen zum Abteil, jeder bekommt einen Sitzplatz angewiesen, und vor der Abfahrt gibt der Zugbegleiter eine Sicherheitseinführung, wie im Flugzeug.
Dann ruckelt der Zug durch den Untergrundbahnhof ins Freie. Am Ende des letzten Wagens steht Kevin Smith, breitbeinig wie ein Surfer, gebügeltes Hemd, hornlose Brille, und blinzelt durch ein kleines Fenster auf die Gleise. Sein Blick wandert hin umher zwischen einer Zeitschrift über Züge und den Schienen in der echten Welt. Smith ist ein "Trainspotter" - begeistert kommentiert er jede Lok, die entgegen kommt, jede Signalanlage, jede Brücke.
"Ich bin fast jede Amtrakroute gefahren, so 95 Prozent. Bevor ich sterbe, will ich alle haben. Außerdem fehlen mir drei Bundesstaaten der USA, die schaffe ich noch dieses Jahr. Ich liebe die Züge, ihre Nostalgie, und dass man wunderbare Leute trifft.."
Smith bleibt nicht lange allein in dem winzigen Ausguck. Auch Tony Groff ist Eisenbahnfan. Er fährt 600 Kilometer mit dem Zug, nur um die Hufeisenkurve sehen, eine 180-Grad-Biegung, die einst die Reisezeit von Philadelphia nach Pittsburgh von sieben Tagen auf zwölf Stunden verkürzte.
"Morgen stehen wir früh auf, damit wir diese Kurve auf dem Heimweg im Tageslicht sehen. Kostet mich 500 Dollar, aber das ist doch nur Geld."
Während Tony erzählt, gesellt sich der Zugführer hinzu fällt ihm ins Wort.
"Die Hufeisenkurve ist wirklich eine Meisterleistung der Ingenieure, heute wie damals."
Dale Sacker ist Eisenbahnfan in Uniform. Er sieht aus wie ein Teddybär, fast zwei Meter groß mit einem mächtigen Bauch und weichen, jugendlichen Gesichtszügen. Seine rote Bäckchen wirken, als sei er nach sieben Jahren auf der Strecke noch immer aufgeregt wie am ersten Tag.
"Mein Großvater war 50 Jahre lang bei der Pennsylvania Railroad. Ich bin der letzte Eisenbahner der Familie in seiner Tradition. Das Erbe solcher Männer macht mich stolz."
Stundenlang diskutieren die Trainspotter, wandern gemeinsam vom Zugende in den Speisewagen und zurück, Dale Sacker erledigt seine Arbeit nebenher, er knipst Tickets, bis die Passagiere in Pittsburgh ihrer Wege gehen.
Eine Woche später in Houston, morgens um fünf Uhr. Der Sunset Limited ist schon zwei Tage unterwegs, als er hier Station macht. Das Bahnhofsgebäude ist kaum größer als ein Baucontainer. Eine Holztafel mit Plastiklettern weist darauf hin, dass hier nur an drei Tagen pro Woche Züge fahren. Freiwillige Bahnmitarbeiter fertigen geduldig eine Handvoll Passagiere ab. Das Gepäck verladen sie auf einen Traktor, dabei sind es bis zum Zug nur 20 Meter.
Neun Stunden dauert die Fahrt nach New Orleans. Viele Passagiere sind auf dem Weg in ihre frühere Heimat, die sie nach Hurricane Katrina 2005 verlassen haben. Sie tragen Plastiksäcke voller Kleidung mit sich, Kühlboxen für das Mittagessen, Spielzeug für die Kinder. Elle Philipps, eine korpulente Frau Mitte fünfzig mit orange gefärbten Haaren, hat sich mit ihren Enkeln über zwei komplette Sitzreihen ausgebreitet. Der Vater der Kinder starb nach Katrina an einer Infektion.
"Mein Sohn war damals erst 23. In unserer Familie sind viele ertrunken, auch Freunde, wir haben alles verloren. 27 von uns schliefen auf kleinen Matratzen, wir hatten nichts mehr. Die Stadt Houston hat uns damals sehr geholfen, so konnten wir uns wieder ein Leben aufbauen."
Die wenigsten kommen dauerhaft zurück, New Orleans ist nach dem Hurricane um fast 150.000 Einwohner geschrumpft. Auch Elle Philipps kommt nur zu Besuch.
"Für mich wird es nie wieder sein wie früher. Ich besuche New Orleans, aber nach ein, zwei Wochen muss ich zurück nach Houston, das ist jetzt meine Heimat."
Im Kioskabteil, zwischen Chips-Tüten und Getränkedosen, reicht Carolyne Myers eine Nudel-Terrine über die Theke. Sie trägt eine Eisenbahnerweste, ihr Kopf ist voller Zöpfe. Wer nett zu ihr ist, dem gießt sie die Fertiggerichte sogar mit kochendem Wasser auf. Viele Gäste bleiben stundenlang, erzählen Myers ungefragt ihre Lebensgeschichten. Sie behält dabei ihre gute Laune, auch am dritten Tag.
"Ehrlich gesagt ist der letzte Tag oft ätzend. Aber mit netten Kunden kann alles gut laufen. Ich liebe zum Beispiel die Leute, die noch an Züge glauben, wie diese eine Lady, die muss 90 sein, die wirft sich für das Abendessen immer richtig in Schale, sehr förmlich. Die schickt sogar Weihnachtskarten."
Vor drei Jahren war Carolyne ihre Arbeit leid. Kaum Passagiere, miese Bezahlung. Dann fuhr US-Präsident Barack Obama im Zug zu seiner Vereidigung und versprach acht Milliarden Dollar für Hochgeschwindigkeitstrassen.
"Wenn der Präsident Zug fährt, fahren alle Zug. Er hatte einen riesigen Einfluss, seither kommen die Leute wieder an Bord. Die letzte Regierung mochte Züge gar nicht."
Carolyne schließt ihr Verkaufsfenster, dann schaukelt sie der Treppe entgegen, ein Schlüsselbund baumelt gegen ihre Beine. Natürlich kommt der letzte Kunde immer dann, wenn sie gerade geht.
Einen Tipp hat sie noch.
"Ich muss jetzt echt los, aber wenn Du noch mehr erfahren willst, sprich mit John im Speisewagen, der ist schon ewig hier im Zug."
Auf zu John. Der ist nicht zu verfehlen. Blaue Schürze, weiße Uniform, Krawatte - ein Gentleman der singt, während er eindeckt für das Mittagessen. Auf jedem Tisch breitet er eine Rüschendecke aus, rückt die Blumen zurecht, zupft den Vorhang akkurat in Position. Genau so macht er das seit mehr als 40 Jahren.
"In meiner Zeit hat sich die Eisenbahn stark verändert. Anfangs mussten wir noch im Speisewagen schlafen, Zimmer hatten wir keine. Und wir durften nichts mit den Leuten zu tun haben, die wir bedienten."
Von den weißen Fahrgästen hatte sich der farbige John Islam fernzuhalten, er trat seinen Job mitten in der Bürgerrechtsbewegung an. Auch heute noch muss er mit rassistischen Äußerungen umgehen, erzählt er schulterzuckend.
"Ich wurde aber in dem Glauben erzogen, dass man zurückbekommt, was man gibt. Mir macht es Freude, Leute so zu behandeln, wie ich auch behandelt werden will. So arbeite ich, und so lebe ich auch."
Dann keucht der Zug nach New Orleans hinein. Wer den Anschluss nach Chicago nimmt, hat keine Eile. Der fährt nämlich erst in 22 Stunden. Der Bahnhof liegt nah am French Quarter, dem berühmten Jazz-Viertel der Stadt am Golf von Mexiko. Wer im Zug geschlafen hat, kann hier die ganze Nacht auf den Straßen verbringen.
Aufgebrachte Priester warnen voller Pathos vor den Stripklubs, und vor einer kolonial anmutenden Kirche setzt sich ein tanzender Hochzeitszug in Bewegung. So geht es von Party zu Party, von Jazzbar zu Jazzbar, bis es Zeit ist für den Anschlusszug.
Ein paar Tage später. Die Fahrt mit dem California Zephyr führt von Chicago nach San Francisco, ans andere Ende des Kontinents. Zwei Tage lang rollt der Zug durchs flache Land, vorbei an den Stoppelfeldern der Maisindustrie. Kurz hinter Denver, kriecht er dann kurz nach Sonnenaufgang steil hinauf, durch 27 Tunnel hoch in die Rocky Mountains. Im rundum verglasten Aussichtswagen klicken Kameras, es geht vorbei an vereisten Seen und wilden Canyons. Manchmal zwingt eine Flussbiegung die Gleise zum Ausweichen. Dann schleicht sich der Zug durch die Kurve, und im Aussichtswagen rücken Pärchen enger zusammen.
Immer wieder hält der Zug - mal um neue Passagiere aufzunehmen, mal um Frachtzügen Vorfahrt zu gewähren. So trifft man im Landesinneren vor allem Passagiere, die es nicht eilig haben. Zugfahren, so scheint es, ist hier mehr nostalgisches Vergnügen als effizienter Transport.
Am späten Nachmittag machen es sich drei Männer im Kiosk-Wagen bequem. Sie sind laut und vergnügt, und es dauert nicht lange, bis ein bärtiger Busfahrer aus Oregon namens Art ein Lied anstimmt.
Art bindet seine weiße Mähne zu einem Zopf zusammen, darunter kommt ein rundes Gesicht mit wachen Augen zum Vorschein. Sein Kapuzenpulli erinnert an früher, da war er radikaler und verübte Anschläge auf Fabriken, die die Umwelt verschmutzten. Heute will er die Dinge lieber im Kleinen verändern.
"Ich fahre Zug weil das weniger Emissionen verursacht als Fliegen oder Autofahren. Ich verstehe nicht, warum nicht mehr Leute das machen."
Art gegenüber sitzt Steve, ein Lebenskünstler aus Nordkalifornien. Er legt seine Winterjacke ab und rückt die goldene Nickelbrille zurecht. Bevor er singt, fährt er sich noch einmal durch die lichten Haare.
Draußen tobt ein Schneesturm, irgendwo zwischen dem großen Salzsee von Utah und der Sierra Nevada. Die Männer trinken Bier und singen Lieder, sie erzählen Geschichten und streiten über Politik
Es sind Abende wie dieser, an denen die Zugfahrer spüren, dass sich die lange Fahrt gelohnt hat. Das viele Warten, das stundenlange Dahinrollen durch monotone Landschaften. An denen selbst scheinbar banale Reisetipps wie die von Steve irgendwie nach Weisheit klingen.
"Die erste Regel ist: Verlasse sofort deinen Platz. Ich schreibe mir notfalls meine Sitznummer auf die Hand, Wagen 1, Nummer 37. Mir wird nie langweilig, ich suche Leute mit Büchern, Laptops, einem Drink in der Hand, ich setze mich neben Fremde und frage, ob sie Lust haben, zu reden. Wer so weit gekommen ist, hat auf jeden Fall eine Geschichte zu erzählen. Jeder hat doch eine Geschichte."
Lesetipps:
Waiting on a train - A year spent riding across America. James McCommons beschäftigte sich ein Jahr lang mit der Zukunft der Passagierzüge in den USA.
The first tycoon - The epic life of Cornelius Vanderbilt. Biographie, für die T.J. Stiles mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.