Dirk-Oliver Heckmann: Das Zweite Deutsche Fernsehen und die Forschungsgruppe Wahlen haben es getan, ebenso wie die "Bild"-Zeitung und das INSA-Institut, und die "Bild am Sonntag" will sogar noch am Wahltag selbst Umfrageergebnisse zur Bundestagswahl veröffentlichen – ein Vorgehen, das für Kritik sorgt, denn bisher hieß es ja, dass die letzte Woche vor der Wahl den Wählern gehöre, die nicht immer mit neuen Zahlen beeinflusst werden sollen. Jetzt hat Bundestagspräsident Norbert Lammert Anlass gesehen, sich in die Diskussion einzuschalten
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Am Telefon begrüße ich jetzt Friedrich Nowottny, ehemals WDR-Intendant. Er hat seit 1949 jeden Bundestagswahlkampf verfolgt. Schönen guten Tag, Herr Nowottny.
Friedrich Nowottny: Ich grüße Sie, Herr Heckmann. Guten Tag.
Heckmann: Herr Nowottny, die Wählerinnen und Wähler werden dieses Mal noch auf dem Weg ins Wahllokal mit den Ergebnissen der Demoskopen konfrontiert. Bekommen wir also amerikanische Verhältnisse?
Nowottny: Die haben wir längst. Diese Befragung, diese Meinungserforschung ist ja eine amerikanische Erfindung. Gallup hat sie erfunden, Professor Noelle-Neumann [Anm. der Redaktion: Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach] hat sie mit rübergebracht. Die gab es übrigens auch schon im Kaiserreich, Befragungen dieser Art, und selbst bei den Nazis gab es Meinungsbefragungen, die nicht veröffentlicht wurden. Sie haben ein politisches Gewicht und vor allen Dingen in Vorwahlzeiten.
Heckmann: Aber im Vergleich zu heute, welche Rolle haben diese Umfragen früher gespielt? Was hat sich da verändert?
Nowottny: Die durften auch in der Bundesrepublik vor der Wahl nicht veröffentlicht werden, jedenfalls nicht so kurz vor der Wahl. Ich erinnere mich: 1965 hat das ZDF das erste Mal in einer Show geradezu die Wahl veröffentlicht, 1969 war es die ARD. Im Bundestag, in einem feierlichen Zeremoniell, wurde ein Briefumschlag geöffnet, der Tage zuvor die letzten Ergebnisse einer Meinungsbefragung von Frau Noelle-Neumann bei einem Notar im Tresor hinterlegte, und das Ergebnis dieser Umfrage durfte erst nach 18 Uhr am Wahltag veröffentlicht werden. Ich habe noch den Kommentar eines Kollegen von mir im Ohr, der sagte, nachdem er die Zahlen sah, dies ist der Sieg, der große Sieg der Union. Und es gab die sozialliberale Koalition, knapp, aber immerhin: FDP 5,8 Prozent.
Heckmann: So kann man sich täuschen, Herr Nowottny. – Bisher war es ja Konsens, dass keine Umfrageergebnisse mehr veröffentlicht werden in der Woche vor der Wahl. Dies war eine Selbstverpflichtung, es war kein Gesetz. Macht diese Selbstbeschränkung noch Sinn?
Nowottny: Nun ja, jetzt ist sie durchbrochen und sie wird nicht mehr wiederkehren, diese Selbstbeschränkung. Wir leben nicht in Zeiten von Selbstbeschränkungen. Das erleben Sie ja auch in der Politik.
Heckmann: Aber die Frage ist ja trotzdem, ob eine Selbstbeschränkung Sinn machen würde oder Sinn gemacht hat in der Vergangenheit.
Nowottny: Ja ich glaube, sie hat dazu geführt, dass möglicherweise mehr Leute zur Wahl gegangen sind. Wenn die Wahlergebnisse so knapp sind, wenn die Meinungsforschungsergebnisse so knapp sind, wie sie heute sind für ein, zwei, drei, vier Parteien oder fünf Parteien, dann kann das einen mobilisierenden Effekt haben, ohne Zweifel.
Heckmann: Das Argument dagegen lautet ja immer, dass die Wähler in der Woche vor der Wahl nicht weiter irritiert werden sollen, mit immer neuen Zahlen konfrontiert werden sollen. Weshalb aber soll das nicht für die gesamte Legislaturperiode gelten?
Nowottny: Die gesamte Legislaturperiode wäre etwas zu happig. Die Wähler haben schon ein Interesse daran, wie sich das politische Meinungsbild entwickelt, und warum sollte man es ihnen vorenthalten. Schließlich findet die Meinungsbildung über Politik ja auch die ganze Legislaturperiode statt, wenn auch nicht so konzentriert wie in den letzten vier Wochen vor der Wahl.
Heckmann: Und was halten Sie davon, dass noch am Wahltag, am Sonntag also, frische Zahlen auf den Markt gebracht werden sollen, durch die "Bild am Sonntag"?
Nowottny: Das halte ich für eigentlich nicht erlaubt. Aber was nicht verboten ist, ist erlaubt.
Heckmann: Das taktische Wählen, Herr Nowottny, das könnte durch diese ganzen Zahlenspielereien in der Woche vor der Wahl noch beschleunigt und gefördert werden, weil sich ja alle nach den Zahlen orientieren, oder viele zumindest. Steckt darin auch eine Gefahr für die Demokratie?
Nowottny: Na ja, bis jetzt hat die Demokratie das alles ertragen, was die Meinungsforscher ihnen präsentiert haben. Die Meinungsforschung ist ja immer intensiver geworden, wie man weiß. Früher galt die Meinung von Frau Noelle-Neumann, die wie gesagt die Meinungsforschung aus Amerika nach Deutschland gebracht hatte, jedenfalls die Wahlmeinungsforschung.
Es galt der Grundsatz, eine Befragung ist nur seriös, wenn sie von Angesicht zu Angesicht, Face to Face, zwischen dem Befrager und der befragten Person stattfindet. Heute macht man das mit dem Telefon. Tausend Menschen, die einen soziologischen Querschnitt der Bevölkerung ausmachen, oder 1300 davon, vielleicht auch nur 500, sind schon, da sie sorgfältig ausgesucht worden sind nach Meinung der Meinungsbefrager und der Meinungserforscher, ausreichend, um ein politisches Meinungsbild zu schaffen und zu präsentieren. Das ist schon bemerkenswert.
Heckmann: Sehen Sie darin, dass immer mehr Wähler möglicherweise taktisch ihr Kreuz machen, eine Gefahr für die Demokratie?
Nowottny: Der Wähler kann wählen, wie er will. Er kann taktisch wählen und er kann ideologisch fest gefügt wählen, oder er kann überhaupt nicht wählen. Dem Wähler sollte man nicht sagen, wie er zu wählen hat. Wenn er taktisch wählt, also eine schwarz-gelbe Koalition in diesem aktuellen Fall oder eine rot-grüne Koalition, dann soll er es tun. Und die sind natürlich beeindruckt von den Zahlen, die sie heute vor sich haben. Wenn die FDP nur 5,5 erreicht bei der letzten Befragung des ZDF, dann wird mancher FDP-Wähler, wie in Niedersachsen ja geschehen, bei der letzten Landtagswahl, darüber nachdenken, ob er nicht diesmal auch, trotz allem inneren Widerstrebens möglicherweise, seine Stimme der FDP gibt oder nicht, und dasselbe ist bei den Grünen. Die sind plötzlich einstellig.
Um Gottes Willen, denkt sich da mancher Kampfgrüne, das kann doch wohl nicht wahr sein, von den Linken ganz zu schweigen. Die kleineren Parteien in Deutschland sind nach den jetzigen Meinungsumfragen alle einstellig, und das hat mobilisierenden Effekt. Die Tatsache, dass das veröffentlicht wurde, das ist der mobilisierende Effekt.
Heckmann: Wie wir in Niedersachsen gesehen haben, wo dann diese Kampagne viel stärkere und größere Früchte getragen hat, als das eigentlich beabsichtigt gewesen ist.
Nowottny: So ist es, ja.
Heckmann: Herr Nowottny, Sie haben es gerade eben schon gesagt: Die Demoskopie hat sich immer weiter ausdifferenziert. Es gibt ja kaum eine Sach- oder Fachfrage mehr, die nicht befragt wird und wo Zahlen vorgelegt werden. Wie sehr machen eigentlich Politiker ihre Entscheidungen von diesen Zahlen abhängig?
Nowottny: Ich fürchte, in zu größerem Umfang und immer wieder. Sie achten natürlich darauf, wie ihr Meinungsbild, das Meinungsbild der Politiker in der Öffentlichkeit dasteht. Schauen Sie einmal: In dieser Euro-Frage, die ja kaum Thema war im Wahlkampf – und das hatte seinen Grund, dass es kein Thema war. Die Politiker wussten, dass das ein ganz sensibles Thema ist, das an das Eingemachte bei den Wählern geht, und da haben sie lieber den Mantel der Hoffnung drübergelegt und haben zum Euro und zu der Entwicklung in Griechenland und zu den Reflexionen, die sich daraus für uns ergeben, geschwiegen, oder haben flüchtig Antworten gegeben. Die Politiker achten schon darauf, was sie sagen, es sei denn, sie sind temperamentvoll und ecken auch schon mal an und gönnen sich Beinfreiheit.
Heckmann: Ist das legitim, Herr Nowottny, solche wichtigen Themen außen vor zu lassen im Wahlkampf?
Nowottny: Legitim oder nicht legitim, es wird gemacht. Es entspricht nicht der Grundidee der Demokratie, wie ich vermute, sondern es entspricht den Notwendigkeiten des politischen Alltags, der ja immer komplizierter geworden ist, auch unter dem Eindruck und Druck der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, in Europa.
Heckmann: Die Tatsache, dass bestimmte Themen ausgeblendet wurden und nicht so intensiv diskutiert wurden, wie es vielleicht nötig gewesen wäre, hatte möglicherweise ja auch zur Folge, dass viele Menschen den Wahlkampf als langweilig empfunden haben. Haben Sie ihn auch als langweilig empfunden?
Nowottny: Ich glaube, die Journalisten haben ihn als langweilig empfunden. Vielleicht haben sie zu flüchtig hingeschaut und zugehört. Ich fand ihn nicht langweilig. Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass wir eine Urlaubszeit vor dem Wahlkampf hatten, eine Urlaubszeit, die dazu geführt hat, dass zum Beispiel die Kanzlerin in erster Linie natürlich da oben war, wo die Ferien stattfanden, an der Ostsee, in ihrem Wahlkreis tätig war und ansonsten Zurückhaltung übte, wie alle anderen auch. Die wollten ja auch mal Urlaub machen.
Es gab die Auseinandersetzung um die Frage der Abhörtechniken, die sich da entwickelte. Die gab es, die spielte im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen immer wieder eine große Rolle. Das empfand man aber nicht als Wahlkampf, sondern als Sachthema. Ich fand den Wahlkampf in den letzten vier Wochen gar nicht so schlecht. Er war interessant, das Publikum war aufgeschlossen, volle Säle, viele Tausend Menschen auf den Plätzen, wenn die Spitzenkräfte der Politik antanzten. Das waren, jedenfalls die Veranstaltungen, die ich mitgekriegt habe, ansehenswerte und anhörenswerte Veranstaltungen. Gar nicht so schlecht!
Heckmann: Viele halten die Wahl dennoch für gelaufen, so oder so bleibe Angela Merkel Bundeskanzlerin. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir am Wahlsonntag jetzt dann doch eine kleine Überraschung erleben? Sie können ja auf einen langen Erinnerungsschatz zurückgreifen.
Nowottny: Ach ja, wissen Sie, das ist ja wunderbar. Natürlich ist die Kanzlerin im Augenblick – ich greife auf die letzten Meinungsbefragungen zurück – eine Spitzenfigur und führt die Sympathieskala mit 58 Prozent an, verlor einen Punkt, wie dramatisch festzustellen ist, während ihr Herausforderer Steinbrück unverändert und fest gefügt auf 32 Prozent kommt. Er versucht es jetzt ja mit der Kavallerie, er wollte sie wieder loslassen, aber das war nichts.
Aber das sollte niemanden verblüffen, denn Willy Brandt war der einzige SPD-Bundeskanzler, der einmal seine Partei zur stärksten Partei gemacht hat. Das war 1972. Nach Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, den beiden ersten Kanzlern der Bundesrepublik, kam Kurt Georg Kiesinger, das war der Kanzler der Großen Koalition mit den Sozialdemokraten. Der war nicht mehr der stärkste Mann, der hat nicht mehr die meisten Stimmen auf die CDU und auf die CSU vereinen können. Helmut Schmidt …
Heckmann: Aber aus Ihrer Sicht, Herr Nowottny – Pardon, wenn ich da einhake -, ist aus Ihrer Sicht die Wahl gelaufen?
Nowottny: Wenn ich so sehe, nach den Erfahrungen der letzten 60 Jahre, würde ich sagen, ist die Wahl so gut wie gelaufen. Vor Überraschungen ist man Gott sei Dank nie ganz sicher.
Heckmann: Der ehemalige WDR-Intendant Friedrich Nowottny war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Nowottny, danke Ihnen für das Gespräch und auf Wiederhören!
Nowottny: Danke! Wiedersehen, Herr Heckmann!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Am Telefon begrüße ich jetzt Friedrich Nowottny, ehemals WDR-Intendant. Er hat seit 1949 jeden Bundestagswahlkampf verfolgt. Schönen guten Tag, Herr Nowottny.
Friedrich Nowottny: Ich grüße Sie, Herr Heckmann. Guten Tag.
Heckmann: Herr Nowottny, die Wählerinnen und Wähler werden dieses Mal noch auf dem Weg ins Wahllokal mit den Ergebnissen der Demoskopen konfrontiert. Bekommen wir also amerikanische Verhältnisse?
Nowottny: Die haben wir längst. Diese Befragung, diese Meinungserforschung ist ja eine amerikanische Erfindung. Gallup hat sie erfunden, Professor Noelle-Neumann [Anm. der Redaktion: Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach] hat sie mit rübergebracht. Die gab es übrigens auch schon im Kaiserreich, Befragungen dieser Art, und selbst bei den Nazis gab es Meinungsbefragungen, die nicht veröffentlicht wurden. Sie haben ein politisches Gewicht und vor allen Dingen in Vorwahlzeiten.
Heckmann: Aber im Vergleich zu heute, welche Rolle haben diese Umfragen früher gespielt? Was hat sich da verändert?
Nowottny: Die durften auch in der Bundesrepublik vor der Wahl nicht veröffentlicht werden, jedenfalls nicht so kurz vor der Wahl. Ich erinnere mich: 1965 hat das ZDF das erste Mal in einer Show geradezu die Wahl veröffentlicht, 1969 war es die ARD. Im Bundestag, in einem feierlichen Zeremoniell, wurde ein Briefumschlag geöffnet, der Tage zuvor die letzten Ergebnisse einer Meinungsbefragung von Frau Noelle-Neumann bei einem Notar im Tresor hinterlegte, und das Ergebnis dieser Umfrage durfte erst nach 18 Uhr am Wahltag veröffentlicht werden. Ich habe noch den Kommentar eines Kollegen von mir im Ohr, der sagte, nachdem er die Zahlen sah, dies ist der Sieg, der große Sieg der Union. Und es gab die sozialliberale Koalition, knapp, aber immerhin: FDP 5,8 Prozent.
Heckmann: So kann man sich täuschen, Herr Nowottny. – Bisher war es ja Konsens, dass keine Umfrageergebnisse mehr veröffentlicht werden in der Woche vor der Wahl. Dies war eine Selbstverpflichtung, es war kein Gesetz. Macht diese Selbstbeschränkung noch Sinn?
Nowottny: Nun ja, jetzt ist sie durchbrochen und sie wird nicht mehr wiederkehren, diese Selbstbeschränkung. Wir leben nicht in Zeiten von Selbstbeschränkungen. Das erleben Sie ja auch in der Politik.
Heckmann: Aber die Frage ist ja trotzdem, ob eine Selbstbeschränkung Sinn machen würde oder Sinn gemacht hat in der Vergangenheit.
Nowottny: Ja ich glaube, sie hat dazu geführt, dass möglicherweise mehr Leute zur Wahl gegangen sind. Wenn die Wahlergebnisse so knapp sind, wenn die Meinungsforschungsergebnisse so knapp sind, wie sie heute sind für ein, zwei, drei, vier Parteien oder fünf Parteien, dann kann das einen mobilisierenden Effekt haben, ohne Zweifel.
Heckmann: Das Argument dagegen lautet ja immer, dass die Wähler in der Woche vor der Wahl nicht weiter irritiert werden sollen, mit immer neuen Zahlen konfrontiert werden sollen. Weshalb aber soll das nicht für die gesamte Legislaturperiode gelten?
Nowottny: Die gesamte Legislaturperiode wäre etwas zu happig. Die Wähler haben schon ein Interesse daran, wie sich das politische Meinungsbild entwickelt, und warum sollte man es ihnen vorenthalten. Schließlich findet die Meinungsbildung über Politik ja auch die ganze Legislaturperiode statt, wenn auch nicht so konzentriert wie in den letzten vier Wochen vor der Wahl.
Heckmann: Und was halten Sie davon, dass noch am Wahltag, am Sonntag also, frische Zahlen auf den Markt gebracht werden sollen, durch die "Bild am Sonntag"?
Nowottny: Das halte ich für eigentlich nicht erlaubt. Aber was nicht verboten ist, ist erlaubt.
Heckmann: Das taktische Wählen, Herr Nowottny, das könnte durch diese ganzen Zahlenspielereien in der Woche vor der Wahl noch beschleunigt und gefördert werden, weil sich ja alle nach den Zahlen orientieren, oder viele zumindest. Steckt darin auch eine Gefahr für die Demokratie?
Nowottny: Na ja, bis jetzt hat die Demokratie das alles ertragen, was die Meinungsforscher ihnen präsentiert haben. Die Meinungsforschung ist ja immer intensiver geworden, wie man weiß. Früher galt die Meinung von Frau Noelle-Neumann, die wie gesagt die Meinungsforschung aus Amerika nach Deutschland gebracht hatte, jedenfalls die Wahlmeinungsforschung.
Es galt der Grundsatz, eine Befragung ist nur seriös, wenn sie von Angesicht zu Angesicht, Face to Face, zwischen dem Befrager und der befragten Person stattfindet. Heute macht man das mit dem Telefon. Tausend Menschen, die einen soziologischen Querschnitt der Bevölkerung ausmachen, oder 1300 davon, vielleicht auch nur 500, sind schon, da sie sorgfältig ausgesucht worden sind nach Meinung der Meinungsbefrager und der Meinungserforscher, ausreichend, um ein politisches Meinungsbild zu schaffen und zu präsentieren. Das ist schon bemerkenswert.
Heckmann: Sehen Sie darin, dass immer mehr Wähler möglicherweise taktisch ihr Kreuz machen, eine Gefahr für die Demokratie?
Nowottny: Der Wähler kann wählen, wie er will. Er kann taktisch wählen und er kann ideologisch fest gefügt wählen, oder er kann überhaupt nicht wählen. Dem Wähler sollte man nicht sagen, wie er zu wählen hat. Wenn er taktisch wählt, also eine schwarz-gelbe Koalition in diesem aktuellen Fall oder eine rot-grüne Koalition, dann soll er es tun. Und die sind natürlich beeindruckt von den Zahlen, die sie heute vor sich haben. Wenn die FDP nur 5,5 erreicht bei der letzten Befragung des ZDF, dann wird mancher FDP-Wähler, wie in Niedersachsen ja geschehen, bei der letzten Landtagswahl, darüber nachdenken, ob er nicht diesmal auch, trotz allem inneren Widerstrebens möglicherweise, seine Stimme der FDP gibt oder nicht, und dasselbe ist bei den Grünen. Die sind plötzlich einstellig.
Um Gottes Willen, denkt sich da mancher Kampfgrüne, das kann doch wohl nicht wahr sein, von den Linken ganz zu schweigen. Die kleineren Parteien in Deutschland sind nach den jetzigen Meinungsumfragen alle einstellig, und das hat mobilisierenden Effekt. Die Tatsache, dass das veröffentlicht wurde, das ist der mobilisierende Effekt.
Heckmann: Wie wir in Niedersachsen gesehen haben, wo dann diese Kampagne viel stärkere und größere Früchte getragen hat, als das eigentlich beabsichtigt gewesen ist.
Nowottny: So ist es, ja.
Heckmann: Herr Nowottny, Sie haben es gerade eben schon gesagt: Die Demoskopie hat sich immer weiter ausdifferenziert. Es gibt ja kaum eine Sach- oder Fachfrage mehr, die nicht befragt wird und wo Zahlen vorgelegt werden. Wie sehr machen eigentlich Politiker ihre Entscheidungen von diesen Zahlen abhängig?
Nowottny: Ich fürchte, in zu größerem Umfang und immer wieder. Sie achten natürlich darauf, wie ihr Meinungsbild, das Meinungsbild der Politiker in der Öffentlichkeit dasteht. Schauen Sie einmal: In dieser Euro-Frage, die ja kaum Thema war im Wahlkampf – und das hatte seinen Grund, dass es kein Thema war. Die Politiker wussten, dass das ein ganz sensibles Thema ist, das an das Eingemachte bei den Wählern geht, und da haben sie lieber den Mantel der Hoffnung drübergelegt und haben zum Euro und zu der Entwicklung in Griechenland und zu den Reflexionen, die sich daraus für uns ergeben, geschwiegen, oder haben flüchtig Antworten gegeben. Die Politiker achten schon darauf, was sie sagen, es sei denn, sie sind temperamentvoll und ecken auch schon mal an und gönnen sich Beinfreiheit.
Heckmann: Ist das legitim, Herr Nowottny, solche wichtigen Themen außen vor zu lassen im Wahlkampf?
Nowottny: Legitim oder nicht legitim, es wird gemacht. Es entspricht nicht der Grundidee der Demokratie, wie ich vermute, sondern es entspricht den Notwendigkeiten des politischen Alltags, der ja immer komplizierter geworden ist, auch unter dem Eindruck und Druck der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, in Europa.
Heckmann: Die Tatsache, dass bestimmte Themen ausgeblendet wurden und nicht so intensiv diskutiert wurden, wie es vielleicht nötig gewesen wäre, hatte möglicherweise ja auch zur Folge, dass viele Menschen den Wahlkampf als langweilig empfunden haben. Haben Sie ihn auch als langweilig empfunden?
Nowottny: Ich glaube, die Journalisten haben ihn als langweilig empfunden. Vielleicht haben sie zu flüchtig hingeschaut und zugehört. Ich fand ihn nicht langweilig. Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass wir eine Urlaubszeit vor dem Wahlkampf hatten, eine Urlaubszeit, die dazu geführt hat, dass zum Beispiel die Kanzlerin in erster Linie natürlich da oben war, wo die Ferien stattfanden, an der Ostsee, in ihrem Wahlkreis tätig war und ansonsten Zurückhaltung übte, wie alle anderen auch. Die wollten ja auch mal Urlaub machen.
Es gab die Auseinandersetzung um die Frage der Abhörtechniken, die sich da entwickelte. Die gab es, die spielte im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen immer wieder eine große Rolle. Das empfand man aber nicht als Wahlkampf, sondern als Sachthema. Ich fand den Wahlkampf in den letzten vier Wochen gar nicht so schlecht. Er war interessant, das Publikum war aufgeschlossen, volle Säle, viele Tausend Menschen auf den Plätzen, wenn die Spitzenkräfte der Politik antanzten. Das waren, jedenfalls die Veranstaltungen, die ich mitgekriegt habe, ansehenswerte und anhörenswerte Veranstaltungen. Gar nicht so schlecht!
Heckmann: Viele halten die Wahl dennoch für gelaufen, so oder so bleibe Angela Merkel Bundeskanzlerin. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir am Wahlsonntag jetzt dann doch eine kleine Überraschung erleben? Sie können ja auf einen langen Erinnerungsschatz zurückgreifen.
Nowottny: Ach ja, wissen Sie, das ist ja wunderbar. Natürlich ist die Kanzlerin im Augenblick – ich greife auf die letzten Meinungsbefragungen zurück – eine Spitzenfigur und führt die Sympathieskala mit 58 Prozent an, verlor einen Punkt, wie dramatisch festzustellen ist, während ihr Herausforderer Steinbrück unverändert und fest gefügt auf 32 Prozent kommt. Er versucht es jetzt ja mit der Kavallerie, er wollte sie wieder loslassen, aber das war nichts.
Aber das sollte niemanden verblüffen, denn Willy Brandt war der einzige SPD-Bundeskanzler, der einmal seine Partei zur stärksten Partei gemacht hat. Das war 1972. Nach Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, den beiden ersten Kanzlern der Bundesrepublik, kam Kurt Georg Kiesinger, das war der Kanzler der Großen Koalition mit den Sozialdemokraten. Der war nicht mehr der stärkste Mann, der hat nicht mehr die meisten Stimmen auf die CDU und auf die CSU vereinen können. Helmut Schmidt …
Heckmann: Aber aus Ihrer Sicht, Herr Nowottny – Pardon, wenn ich da einhake -, ist aus Ihrer Sicht die Wahl gelaufen?
Nowottny: Wenn ich so sehe, nach den Erfahrungen der letzten 60 Jahre, würde ich sagen, ist die Wahl so gut wie gelaufen. Vor Überraschungen ist man Gott sei Dank nie ganz sicher.
Heckmann: Der ehemalige WDR-Intendant Friedrich Nowottny war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Nowottny, danke Ihnen für das Gespräch und auf Wiederhören!
Nowottny: Danke! Wiedersehen, Herr Heckmann!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.