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NS-Konzentrationslager
Von Besserunganstalten zu Hinrichtungsstätten

Über die Konzentrationslager der Nazis ist so gut wie alles bekannt - so könnte man denken. Doch noch immer halten sich Vorurteile. Der Historiker Nikolaus Wachsmann möchte mit diesen aufräumen. Schon der Titel seines Buchs rückt ein Detail gerade: Denn KZ wurden die Lager erst in der Nachkriegszeit genannt. Und so heißt sein Werk auch "KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager".

Von Michael Kuhlmann | 25.04.2016
    Die Gedenkstätte Sachsenhausen
    Die Gedenkstätte Sachsenhausen (Deutschlandradio / Ann-Kathrin Büüsker)
    In jeder Fernsehdokumentation über den Nationalsozialismus tauchen sie auf: die Konzentrationslager. In der Tat – wie keine andere Institution verkörperten diese Lager den Geist der ersten deutschen Diktatur, schreibt Nikolaus Wachsmann: als Kulminationspunkte der Unmenschlichkeit und des Sadismus.

    "Jeder Häftling war für die SA- und SS-Wachen Freiwild. Sie schlugen die Insassen mit Händen, Fäusten und einem ganzen Arsenal von Schlagwaffen wie Knüppeln, Peitschen und Stöcken. Haut wurde aufgerissen, Kiefer (wurden) zertrümmert, innere Organe verletzt und Knochen gebrochen. Die Folterer befahlen ihren Opfern, sich gegenseitig zu schlagen, Exkremente zu essen und Urin zu trinken. Männer wurden auf ihre nackten Genitalien geschlagen, oder man zwang sie zu gegenseitiger Masturbation."
    Was Wachsmann hier schildert, ereignete sich nicht erst im Krieg, sondern bereits im Frühjahr 1933. Schon in einer Zeit, in der viele Deutsche glaubten, es gehe nun endlich aufwärts, gab es jene Konzentrationslager. Die ersten, die verschleppt wurden, waren politische Gegner: Sozialdemokraten wie der einst profilierte Politiker Ernst Heilmann, vom Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg auf einem Auge erblindet.
    "Manchmal musste er den Tag von Kopf bis Fuß mit menschlichen Exkrementen beschmiert verbringen. Ein anderes Mal kroch er, von einem SS-Mann an einer Kette geführt, auf allen Vieren in die Häftlingsbaracken, bellte laut und rief: 'Ich bin der jüdische Landtagsabgeordnete Heilmann von der SPD-Fraktion!' - bevor man ihn zu den Wachhunden sperrte, die über ihn herfielen."
    1933 waren KZ-Gräueltaten schon bekannt
    Sieben Jahre verbrachte Ernst Heilmann in den Lagern, bis er 1940 ermordet wurde. Andere aber kamen 1933 schon nach Wochen frei; und viele erzählten draußen von den Schrecken. Auch die Presse berichtete offen über die Lager – und so wusste schon bald jeder Deutsche von ihnen. Gerade dieses Wissen trug dazu bei, dass Opposition verstummte und sich die Tyrannei so schnell etablieren konnte. Parallel wurden gezielt Lügen gestreut: Die meisten Lagerinsassen seien Schwerkriminelle – heute würde man sie Intensivtäter nennen –, vor denen die Allgemeinheit geschützt werden müsse.
    "Solche Behauptungen stießen in Deutschland auf offene Ohren. Die Weimarer Gesellschaft war auf Verbrechen fixiert gewesen, besonders in ihren letzten Jahren, und ein immer lauterer Chor hatte nach härteren Maßnahmen gegen Menschen mit sozial abweichendem Verhalten gerufen. Das Dritte Reich konnte auf diesem Erbe aufbauen."
    Schon jetzt bildete sich die vorherrschende Reaktion der Deutschen gegenüber dem Terrorsystem heraus: Gleichgültigkeit und Nichts-wissen-Wollen. 1935 freilich schien es, als brauche man die Lager nicht mehr. Denn das Regime saß fest im Sattel. Da aber trat der Reichsführer-SS Heinrich Himmler auf den Plan. Er brachte die KL unter seine Kontrolle und baute sie zu einem gigantischen Apparat aus.
    Vielgestaltigkeit der Lager
    "In den Vorkriegsjahren nutzte die SS die Konzentrationslager als Abschreckungsmittel, Besserungsanstalten, Zwangsarbeiter-Reservoirs und Folterkammern, nur um im Krieg noch weitere Funktionen hinzuzufügen: KL wurden nun Orte der Kriegswirtschaft, Hinrichtungsstätten und Menschenversuchsanstalten. Die Lager wurden gerade durch ihre Vielgestaltigkeit definiert – ein wesentlicher Aspekt, der aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verschwunden ist."
    Um diese Vielgestaltigkeit zu zeigen, flicht Nikolaus Wachsmann zahllose Details und Einzelschicksale ein. Zwar unterläuft ihm ein kleiner Fehler, wenn er schreibt, unter den Kommunisten im KL sei kein späterer DDR-Spitzenpolitiker gewesen; Hermann Axen, prominenter Außenpolitiker der SED, saß lange Zeit im Lager. Doch wichtiger sind die großen Entwicklungsstränge. So zeigt Wachsmann, wie die SS versuchte, ein ganzes Wirtschaftsimperium zu schaffen, in dem Häftlinge als Sklaven eingesetzt wurden. Massenweise Panzer, Artillerie und Flugzeuge zu bauen, gelang den Tätern so allerdings kaum: Zum einen bekam die SS nicht einmal die simpelste Logistik in den Griff; und zum anderen misshandelte sie ihre Opfer so gnadenlos, dass diese kaum noch zu arbeiten fähig waren.
    Auffallend freilich, wie sehr sich die Menschenverachtung über die Jahre immer noch steigerte. Das Lagersystem zielte stets darauf an, dass die Häftlinge auch gegeneinander Aggressionen entwickelten. Deutsche Konzentrationslager waren Orte fabrikmäßigen Massenmordes, aber sie waren noch schlimmer als das: Sie waren Orte einer täglichen Inhumanität, deren Details sich auch eine überspitzte Fantasie kaum ausmalen kann.
    Wachsmanns Quellenfundus lässt darauf schließen, dass es bis zuletzt Deutsche gab, die das für gut hielten. Das zeigte sich spätestens dann, wenn die ausgemergelten Opfer einmal die Lager verließen.
    "Manche Schaulustige, darunter auch Kinder, zeigten sich offen feindselig und beschimpften und verhöhnten die Häftlinge, wenn sie durch die Straßen marschierten. Als im Sommer 1944 eine Gruppe von Jungen in Hannover-Misburg an einer Baustelle vorbeischlenderte und Jean-Pierre Renouard entdeckte, der gerade kurz Pause machte von der Knochenarbeit, trat ein Junge vor und schlug los, angefeuert vom Rest seiner Clique."
    Die zwiespältige Rolle der Kapos
    Auch wenn Wachsmann nicht darauf eingeht, inwieweit die Deutschen von Gaskammern und Krematorien wussten – sie wussten, dass Hunderttausende Menschen gequält wurden. Diffiziler zu beurteilen war schon die Stellung der sogenannten Kapos: jener Häftlinge, die von der SS als Aufseher eingesetzt wurden. Sie genossen Privilegien, noch in der infernalischsten Phase während der letzten Kriegsmonate.
    "Als sich im Januar 1945 ein deutscher Kapo in Ebensee übergeben musste, weil er offenbar zu viel Gulasch gegessen hatte, verschlang ein ausgehungerter russischer Gefangener sein Erbrochenes."
    Kapos vollzogen allerdings einen ständigen Drahtseilakt: Sie durften nicht zu hart vorgehen. Denn von einem Tag zum anderen konnten sie ihre Privilegien verlieren, waren dann wieder normale Häftlinge und der Rache ihrer Leidensgenossen ausgeliefert. Gerade zum Verständnis der Kapos und ihrer zwiespältigen Rolle liefert das Buch wertvolle Details.
    Nikolaus Wachsmanns Erkenntnisse haben nun insgesamt nicht zur Folge, dass man die Geschichte des Nationalsozialismus umschreiben müsste. Aber das Buch zeigt, wie dieses Kernelement der deutschen Barbarei funktionierte. Wie der braune Sadismus diese Lager bis zuletzt prägte - und wie Sadismus und Terror auch gewährleisteten, dass kaum ein Kritiker sich gegen den Staat aufzulehnen wagte. Eine wahrlich bedrückende Lektüre. Aber in Zeiten, in denen nachgeborene Deutsche danach rufen, man möge die zwölf Jahre doch endlich ad acta legen, ist solch ein Buch wichtiger denn je.
    Nikolaus Wachsmann:
    "KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager",
    Siedler Verlag, 984 Seiten, 39,90 Euro