
Die NSA und die mit ihr verbundenen Geheimdienste sind auf dem Weg, die gesamte menschliche Kommunikation zu erfassen und auszuwerten. Mit der Methode des Big Data: Man sammelt anfangs ungezielt alles an Daten, was man kriegen kann, so viele Informationsbröckchen wie irgend möglich. Facebookeinträge, Telefondaten, Videobilder, Onlinekäufe, Handyortungen, alles. Ein gewaltiges Datenmeer fließt zusammen und wird dann mit spezieller Software nach wiederkehrenden Mustern gefiltert. Und aus diesen Mustern ziehen die Auftraggeber dann ihre Schlüsse: Ein Wirtschaftskonzern glaubt nun etwa zu wissen, welches neue Produkt die besten Marktchancen haben wird. Diese Mechanismen sind eigentlich bekannt. Die meisten Menschen bedienten sie jedoch unbewusst, meinen die Herausgeber, Lektor Heinrich Geiselberger und der Zeitschriftenjournalist Tobias Moorstedt:
"Wir haben so lange unbemerkt (und unbenannt) Big-Data-Services in Anspruch genommen, haben uns von Google die richtigen Webseiten suchen lassen, von Amazon die richtigen Bücher und von Facebook die richtigen Freunde, dass es fast verwunderlich erscheint, wie verwundert die – deutsche – Zivilgesellschaft im Frühsommer 2013 auf die Enthüllungen Edward Snowdens reagierte."
Die Nutzung des Internets ist eben mehr als ein lustiges Abenteuer, es ist auch eine Selbstentblößung. Der Whistleblower Snowden hat offen gelegt, vor wem wir uns enthüllt haben: nicht bloß vor der Werbeindustrie, auch vor den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden. Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher sieht viele bis dato unbekümmerte Internetnutzer im Schockzustand:
"Es ist der Schock darüber, wohin uns die Marktautomaten der Informationsökonomie zielsicher navigiert haben: in die Welt von Doppelagenten, die uns Suchergebnisse, Bücher, Freundschaften verschaffen und im Gegenzug jeden einzelnen unserer Schritte aufzeichnen, speichern und weitermelden."
... und in das große Datenmeer einspeisen. Wie „Big Data“ funktioniert, erklären im gleichnamigen Buch neben Schirrmacher viele Publizisten aus aller Welt, unter ihnen Fachjournalisten, aber auch Wissenschaftler, Vertreter von Behörden oder Privatunternehmen wie Facebook. Der österreichische Schriftsteller und Computerexperte Peter Glaser erläutert an einem Beispiel, wie Sicherheitsbehörden Big Data nutzen können, um in die nahe Zukunft zu blicken. Sie durchsieben laufend gewaltige Datenmengen, um prognostizieren zu können, welcher Mensch wo und wann zu einem Sicherheitsrisiko werden könnte. Neben den Daten, die die Bürger durch ihre Smartphones oder andere Computer im Netz hinterlassen, werden auch Daten von Überwachungskameras benutzt – mehrere hundert Millionen soll es mittlerweile weltweit geben.
"Kameras, die einfach nur aufnehmen, was zu sehen ist, sind Schnee von gestern: Visuelle Künstliche Intelligenz erkennt nun Autonummern und analysiert Live-Videos. Die Algorithmen sind in der Lage, 'normales' von 'ungewöhnlichem' menschlichen Verhalten zu unterscheiden, Zusammenhänge zwischen Orten, Personen und Aktivitätspunkten herzustellen und so zu analysieren, dass daraus Schlüsse auf künftige Aktivitäten und Situationen gezogen werden können."
Früher konzentrierten sich die Polizei und andere Sicherheitsbehörden darauf, Kriminelle nach begangener Tat zu fassen. Zwar gab es auch schon immer Bemühungen zur Verbrechensprävention. Aber durch Big Data verschiebt sich nach Glasers Auffassung der Fokus: Zunehmend geraten Bürger ins Visier, bei denen die Computer mit Wahrscheinlichkeitsalgorithmen berechnet haben, dass sie zu einer Gefahr für andere oder den Staat werden könnten. Zum Beispiel ein junger Mann, der gerade ohne Job ist, sich im Internet für Gangsta-Rap interessiert, im Wohnblock die falschen Nachbarn hat und beim Flanieren durch die Stadt zur falschen Zeit am falschen Ort zu lange stehen bleibt, der könnte in den Big-Data-Rechnern als potentieller Unruhestifter markiert werden. Keine Zukunftsmusik! Glaser berichtet, dass ähnliche Software bereits eingesetzt wird...
"...unter anderem in den polizeilichen Real Time Crime Centers amerikanischer Großstädte wie New York, Dallas oder Memphis. Das von IBM entwickelte Programm verknüpft Daten zu bisherigen Straftaten mit Wetterberichten, wirtschaftlichen Indikatoren, Veranstaltungshinweisen, Zahltagen und Ähnlichem und macht so Kriminalitätsmuster sichtbar, die darauf hinweisen, wann und wo es Probleme geben könnte."
Der Sammelband macht einen sehr heterogenen Eindruck. Fachaufsätze im Wissenschaftsjargon stehen neben plaudernden Experteninterviews, faktenorientierte journalistische Texte neben gedanklich assoziierenden Essays. Die Herausgeber haben keine klare inhaltliche Klammer gesetzt – was allerdings die Zielgruppe nicht stören wird: Denn wer sich für das Internet interessiert, der ist auch mit der Methode vertraut, sich von einem Beitrag zum nächsten zu hangeln. Für Einsteiger ins Thema ist das Buch allerdings dadurch weniger geeignet. Wer ein Grundverständnis für die digitalen Datenschutzprobleme mitbringt, findet indes viele spannende Gedankenanstöße. Und auch Plädoyers für eine Nutzung des Prinzips Big Data: Denn es könne auch benutzt werden, um zivile Fortschritte zu erreichen, um unzweifelhaft Gutes zu tun, betonen etliche der im Sammelband vertretenen Autoren. Eine effiziente Lenkung der Verkehrsströme in den Großstädten sei möglich. Vielleicht sogar die Verwaltung unserer Zivilisation durch eine Künstliche Intelligenz, die aus unseren Daten berechnet, welche Bedürfnisse wir haben und wie sie am besten befriedigt werden können. Durch einen allwissenden, allmächtigen, göttlichen Big Brother – na, wenn das nicht eine schöne neue Welt wäre.
"Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit", herausgegeben von Heinrich Geiselberger und Tobias Moorstedt. Erschienen bei Suhrkamp. 309 Seiten kosten 14 Euro.