Dienstag, 23. April 2024

Archiv

NSU-Ausschussvorsitzender über Ermittlungsarbeit
"Es gab nicht den einen Fehler, nicht die eine schuldige Behörde"

Bei den Ermittlungen rund um die NSU-Morde seien an vielen Stellen Fehler passiert, sagte der frühere Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses, Clemens Binninger (CDU), im Dlf. Hinweise, dass einem Verfassungsschutzamt das Agieren des NSU-Trios bekannt gewesen wäre, habe es nicht gegeben.

Clemens Binninger im Gespräch mit Silvia Engels | 11.07.2018
    Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Clemens Binninger, spricht in Mikrofone.
    Der ehemalige NSU-Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (imago / Christian Ditsch)
    Silvia Engels: Rund um die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund gibt es nicht nur die juristische Aufarbeitung, sondern auch die politische. Im Bundestag und in insgesamt acht Landtagen gab oder gibt es Parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum NSU.
    Clemens Binninger saß bis 2017 für die CDU im Deutschen Bundestag. Er war Mitglied im ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages von 2012 bis 2013 und dann später Vorsitzender des zweiten U-Ausschusses, der den ganzen Fall noch einmal 2015 bis 2017 aufrollte. Er ist nun am Telefon. Guten Morgen, Herr Binninger.
    "Wo wir immer noch ein großes Fragezeichen machen"
    Clemens Binninger: Guten Morgen, Frau Engels.
    Engels: Welches ist die Frage im Zusammenhang mit dem NSU, die Sie nach all den Jahren am stärksten noch umtreibt, weil Sie offen geblieben ist?
    Binninger: War der NSU wirklich nur ein Trio, so wie es die Bundesanwaltschaft ja formuliert, und kann es wirklich sein, dass alle 27 Verbrechen – wir reden ja über zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle – nur von den beiden Männern alleine begangen wurden? Das war die Frage, die sich für uns auch parteiübergreifend im Untersuchungsausschuss gestellt hat und wo wir auch nach unserer Arbeit immer noch ein großes Fragezeichen machen.
    Erwartung, dass Ermittlungen nochmal "intensiv aufgegriffen werden"
    Engels: Warum muss diese Frage offen bleiben?
    Binninger: Nun, man hat intensiv ermittelt. Man muss dem Eindruck entgegenwirken, dass hier nicht alles versucht wurde. Man hat sich vielleicht früh festgelegt und hat gesagt, diese Hypothese ist für uns die überzeugendste seitens der Ermittler, und wir haben letztendlich auch keine neuen Beweise finden können, aber natürlich eine Reihe von Zweifeln. Ich will sie mal kurz nennen. Die Auswahl mancher Tatorte ist ja so ungewöhnlich, dass viele gesagt haben, auch Zeugen bei uns, dazu braucht man eigentlich Ortskunde, da fährt man nicht zufällig, aus Zwickau kommend, daran vorbei oder darauf zu. Wir haben den Umstand, dass wir an keinem der 27 Tatorte DNA von Mundlos und Böhnhardt gefunden haben, keine Fingerabdrücke, auch keine ganz klaren Zeugenaussagen, all diese Dinge. Und es bleibt auch offen zu sagen, kann man so etwas wirklich begehen, gerade Anfang der 2000er-Jahre, mit hohem Fahndungsdruck noch nach dem Trio, wo man das Trio ja noch gesucht hat, ohne jemals entdeckt zu werden, ohne Spuren zu hinterlassen, ohne wirkliche Helfer am Tatort gehabt zu haben. Das ist das und im Moment gibt es dazu keine Antworten. Es gibt allerdings - und darauf setze ich auch ein bisschen - nach wie vor ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt, das die Generalbundesanwaltschaft führt. Es gibt weitere Ermittlungsverfahren gegen Beschuldigte. Meine und die Erwartung meiner Kollegen im Ausschuss war schon auch, dass dort solche Fragen, die nicht in München geklärt werden konnten und dort auch nicht Gegenstand der Verhandlung waren, intensiv in diesen Ermittlungsverfahren noch mal aufgegriffen werden.
    Kein Anhaltspunkt für Schuld eines Verfassungsschutzamtes
    Engels: Bei der Frage, warum so viele Kenntnisse offenbar auch dieses Trio hatte, bei all diesen Fragen, ob der Kreis der NSU-Gruppe größer war, kommt ja immer wieder der Verfassungsschutz und seine Rolle in den Blick. Sicher ist, dass der Verfassungsschutz Aktenpapiere vernichtet, zum Teil zurückgehalten hat, V-Leute im rechtsextremen Bereich auch als Quelle geschützt hat. 2012 trat der Verfassungsschutzpräsident Fromm zurück. Würden Sie so weit gehen, dass der Verfassungsschutz eine frühere Enttarnung des NSU verhindert hat?
    Binninger: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Und was mir an der jetzt einmal etwas einseitigen Betonung - kein Vorwurf an Sie, aber ich nehme das ja auch wahr im Vorbericht - auf den Verfassungsschutz nicht gefällt und dem haben wir im Ausschuss auch widersprochen: Es gab nicht den einen Fehler und es gab nicht die eine schuldige Behörde. Schwere Fehler, Versäumnisse, Fehleinschätzungen sind an vielen Stellen passiert: Bei den Nachrichtendiensten unbestritten, bei der Polizei auch, bei der Justiz und bei der Politik. Und wir haben wirklich in einer Art und Weise und intensiv - das konnte das Gericht ja gar nicht - die Arbeit der Verfassungsschutzämter untersucht, wie es, glaube ich, noch nie in der Geschichte unseres Landes vorkam. Wir konnten V-Mann-Akten einsehen, wir haben sogar ehemalige V-Leute vernommen, V-Mann-Führer - das sind dann die Beamten, die dafür zuständig sind - in einer Tiefe, wie es sie noch nie gab. Dabei, finde ich, muss man, wenn man fair bleibt, differenzieren, und das habe ich immer versucht und meine Kollegen auch. Wir haben klar benannt, dass wirklich schwere Fehler passiert sind, aber wir konnten keinen Anhaltspunkt dafür finden, weder in den Akten, noch bei den Zeugenbefragungen, dass einem Verfassungsschutzamt der Aufenthaltsort des Trios oder gar schlimmer das Agieren des Trios irgendwie bekannt gewesen wäre. Dass es möglicherweise V-Leute gab - es gab ja eine Menge – im Umfeld des Trios, die vielleicht gewusst haben, wo deren Unterschlupf ist, es dann aber nicht gesagt haben, das halte ich für wahrscheinlich und schlimm genug. Aber jetzt einseitig beim Verfassungsschutz zu sagen, die haben das alles verhindert und unterminiert, das wäre nicht gerecht. Schwere Fehler ja und harsche und deutliche Kritik ja, auch angebracht, und notwendige Reformen, die wir angemahnt haben, die dann auch umgesetzt wurden, die gab es dann auch.
    Schwäche von Parallelzuständigkeit bei Bund und Land
    Engels: Dann greifen wir das einmal auf. Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat in seinem Abschlussbericht der Politik Hausaufgaben hinterlassen. Danach sollte die Ermittlungsarbeit der Sicherheits- und Justizbehörden professionalisiert, der technische und rechtliche Informationsaustausch zwischen den Bundesländern besser werden. Ist das wirklich mittlerweile so gut, dass eine solche Kette von Versäumnissen in Zukunft auszuschließen wäre?
    Binninger: Ich kann Ihnen keine ganz klare Antwort geben, weil ich natürlich nicht Teil der Exekutive bin. Aber ich kann Ihnen das sagen, was umgesetzt wurde, und da glaube ich schon, dass vieles besser wurde, aber manches auch noch nicht. Besser wurde zum Beispiel die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzämter. Die hat man auf neue Füße gestellt, auch was den Informationsaustausch angeht. Man hat eine Rechtsextremismus-Datei eingeführt, wo Polizei und Nachrichtendienste alle ihre Informationen über gewaltbereite Neonazis einstellen müssen, nicht können, sondern müssen. Da gab es teilweise Kritik wegen dem Trennungsgebot, aber wir haben das gemacht und das hat auch Bestand. Auch sonst gab es Änderungen im Bereich der Justiz, dass Staatsanwaltschaften leichter die Federführung übernehmen können. Und auch einen Kulturwandel, glaube ich, heute, 20 Jahre danach. Wir sind ja von '98 bis 2018 20 Jahre später, was den Anfang des Geschehens betrifft. Einen Kulturwandel in den Behörden gab es schon auch.
    Was es noch nicht gibt - und das ist etwas, was mich immer wieder umtreibt und was wir auch im Fall Amri, der gerade parlamentarisch untersucht wird, noch mal erleben -, wir haben eine föderale Sicherheitsarchitektur. An der will ich nicht rütteln. Die hat aber ihre Schwäche, nämlich die Parallelzuständigkeit von Bundes- und Landesbehörden. Dieses Problem, dass eine Zuständigkeitsfrage nicht klar geregelt ist, wenn mehrere Bundesländer betroffen sind, dass man möglicherweise immer noch ein bisschen so agiert, einer wartet auf den anderen oder keiner hat so richtig das Sagen, diese Grundfehler in der Struktur, die bestehen noch. Die bestehen auch bei Terrorismusbekämpfung noch. Und da plädiere ich immer dafür, dass man hier zur Regelung kommen müsste, dass klar ist, bei solchen Fällen hat am Ende auf Polizeiseite, auf Nachrichtendienstseite und auf Justizseite nur eine Stelle das Sagen und die kann auch Weisungen erteilen. Da sind wir noch nicht so weit, aber ansonsten muss ich auch noch mal festhalten: Wir haben 47 Empfehlungen ausgesprochen im Abschlussbericht parteiübergreifend - auch das gab es so ja noch nie -, und davon ist wirklich ein Großteil auch dort, wo Gesetzgebung notwendig war, umgesetzt worden.

    "Niemand, der bereit ist, richtig umfassend auszusagen"

    Engels: Nun fällt heute wohl ein Urteil in München. Ein Teil der Aufklärungsversuche nähert sich dem Ende. Wie stehen denn die Chancen, dass die vielen offenen Fragen rund um den NSU sich überhaupt noch klären können?
    Binninger: Realistische Einschätzung, Stand heute, müssen wir uns darauf einstellen, dass sie möglicherweise nicht geklärt werden können. Gleichwohl muss es das Ziel aller staatlichen Behörden sein, deren Auftrag es ist, daran weiter zu arbeiten. Darum habe ich die Verfahren angesprochen gegen Unbekannt. Und vielleicht erleben wir auch mal noch die Wendung, dass doch irgendjemand noch eine Lebensbeichte ablegt. Vielleicht tauchen irgendwo noch neue DNA-Spuren auf oder die DNA-Forensik ermöglicht noch etwas mehr. Da gibt es schon noch Chancen. Man muss alles dafür tun, um vielleicht diese offenen Fragen zu klären, Mittäter, wie wurden die Tatorte ausgewählt, Ablauf der Tat, woher kommen die ganzen anderen Waffen, gab es einen weiteren Unterschlupf. All diese Punkte sind ja noch offen. Man muss dafür alles tun. Aber man kann im Rechtsstaat nur versprechen, dass die Behörden und die staatlichen Stellen alles tun für Aufklärung. Man kann Aufklärung nicht garantieren. Und angesichts der Schwierigkeit, dass man ja niemand hat, der bereit ist, richtig umfassend auszusagen, und dass Sie auch keine Zeugen haben und die Spurenlage ja auch so ist wie sie ist, angesichts dieser Schwierigkeiten muss man auch ehrlich genug sein und realistisch, dass wir möglicherweise keine oder nicht so schnell Antwort auf die offenen Fragen erhalten.

    "Offenen Fragen weiter nachgehen"

    Engels: Bundeskanzlerin Merkel hatte ja nach Bekanntwerden der Mordserie den Angehörigen 2012 versprochen, die NSU-Morde aufzuklären und Hintermänner und Helfer zu fassen. Viele Angehörige beklagen, das Versprechen sei nicht eingelöst. Was sagen Sie ihnen?
    Binninger: Ich kann, sofern man das als Außenstehender überhaupt kann, den Schmerz und die Enttäuschung der Angehörigen schon nachvollziehen und verstehen, dass hier der Seelenfrieden, wie es auch Ihr Kollege angesprochen hat, noch nicht da ist. Aber ich will auf anderer Seite auch schon deutlich machen, dass wir als Staat, dass die Behörden, dass die Parlamente schon all das getan haben, was in ihrer Möglichkeit steht. Und das war, glaube ich, das Versprechen, alles zu tun, was ein Rechtsstaat tun kann. Was wir nicht abgeben konnten, eine Garantie, dass es uns gelingt, alle Täter, Mittäter, Helfershelfer zu entdecken, und deshalb bleibt es, auch wenn heute ein wichtiger Schlusspunkt gesetzt wird, eine Aufgabe von uns allen, A wachsam zu sein, und bleibt es eine Aufgabe der staatlichen Stellen, die dafür zuständig sind, diesen offenen Fragen weiter nachzugehen.
    Engels: Vielen Dank an Clemens Binninger. Er war Vorsitzender des NSU-Ausschusses im Bundestag. Und wir können Sie nach dem Urteil heute im Deutschlandfunk noch einmal hören in unserer Sendung "Zur Diskussion" um 19:15 Uhr. – Vielen Dank für das Gespräch.
    Binninger: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.