Freitag, 29. März 2024

Archiv

NSU-Mord in Kassel
Verfassungsschützer ahnte Verbrechen

Der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme gilt bei der Aufklärung des NSU-Mordes von Kassel für viele als Personifizierung des Behördenversagens. Nun haben Recherchen der "Welt am Sonntag" ergeben, dass er möglicherweise mehr vom Mord wusste, als er bisher angab.

Von Ludger Fittkau | 23.02.2015
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Ismail Yozgat, Vater von Halit Yozgat, fordert die lückenlose Aufklärung der NSU-Morde. (Jesco Denzel/Bundespresseamt)
    Es ist ein Autorenteam um Stefan Aust, das in der "Welt am Sonntag" bisher nicht bekannte Tonbandmitschnitte polizeilicher Ermittlungen zum NSU-Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel veröffentliche. Dabei geht es um die Rolle des Kasseler Verfassungsschützers Andreas Temme, der sich zum Zeitpunkt des Mordes seinem Bekunden nach zufällig in dem Internet-Café befand, in dem das Verbrechen geschah, das dem NSU zur Last gelegt wird. Recherchen der "Welt am Sonntag" legen nun nahe, dass der hessische Verfassungsschützer möglicherweise mehr von dem Mordgeschehen wusste, als er bisher sagte.
    Temme hatte bislang immer angegeben, er sei zum Zeitpunkt der Tat privat in dem Internet-Café gewesen und habe von dem Mord an Halit Yozgat nichts mitbekommen. Die Polizei hatte das Telefon des Verfassungsschützers jedoch nach der Tat abgehört, weil er zunächst als Verdächtiger galt. Der "Welt"-Autor Stefan Aust und sein Rechercheteam berichten nun über bisher unveröffentlichte Details aus den Abhörbändern der Polizei. Stefan Aust: "Es gibt jedenfalls erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme, der zur Tatzeit für elf Minuten in diesem Internet-Café gewesen ist, eine Ahnung davon hatte, dass da was passiert. Jedenfalls kann man das Ablesen aus einem Telefonat, das er geführt mit dem Sicherheitsbeauftragten des Verfassungsschutzes."
    Konkrete Kenntnisse
    In diesem Telefonat soll der Sicherheitsbeamte wörtlich zu Temme gesagt haben: "Ich sag ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren." Im laufenden Münchener NSU-Prozess ist dieses Zitat nun in neue Beweisanträge eingeflossen, die Hamburger Nebenklägeranwälte vorgelegt haben. Die Anwälte haben die gesamten Telefongespräche ausgewertet, die Temme zwischen April und September 2006 geführt hatte und die von der Polizei mitgeschnitten worden waren. Die Anwälte behaupten nun in ihrem neuen Beweissantrag, dass Temme "konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Tatopfer und den Tätern hatte".
    "Wenn es tatsächlich so ist, dann steht natürlich im Raum, ob nicht der damalige Verfassungsschützer doch dienstlich am Tatort war. Dann steht weiter im Raum ob er möglicherweise - und das wäre natürlich ein ziemlicher Hammer - das muss man einfach sagen, vor der Tat schon wusste, dass dort etwas geschehen soll. Das müssen wir jetzt zügig aufklären, weil das bringt natürlich nochmal ganz anderes Gewicht in die Situation", sagt Nancy Faeser, hessische SPD-Generalsekretärin. Faeser ist gleichzeitig Obfrau der Sozialdemokraten im Untersuchungsausschuss des Wiesbadener Landtages, der sich zur Zeit mit dem NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel auseinandersetzt.
    Kein Aufklärungsinteresse
    Die "Welt am Sonntag", so Faeser, entwerfe das Bild eines hessischen Verfassungsschutzes, "der nicht nur etwas über die NSU-Morde gewusst und seine Erkenntnisse der Öffentlichkeit und den Ermittlungsbehörden gegenüber bewusst verschwiegen hat." Der Verfassungsschutz habe darüber hinaus "überhaupt kein Aufklärungsinteresse gezeigt, als die Mordserie bekannt wurde", so Faser. "Und wenn dies auch noch von der politischen Spitze mitgetragen worden sein soll, dann wäre es das Schlimmste, was ich bisher in Hessen erlebt habe", sagt die hessische SPD- Generalsekretärin.
    Der hessische Verfassungsschutzminister Peter Beuth (CDU) war heute Morgen für Stellungnahme zu den Veröffentlichungen nicht zu erreichen. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) soll nun auf Antrag der Nebenklagevertreter als Zeuge beim NSU-Prozess in München vorgeladen werden. Bouffier war während des NSU-Mordes 2006 in Kassel noch Innenminister in Hessen. Im Beweisantrag für den Münchener NSU-Prozess heißt es, der CDU-Politiker sei wohl spätestens am 12. Juli 2006 über den Tatverdacht gegen Temme informiert worden. Das geht aus einem Schreiben der Staatsanwaltschaft Kassel hervor. In einer Innenausschusssitzung des Wiesbadener Landtags behauptete Bouffier jedoch, dass er "von dem gegen Temme bestehenden Tatverdacht erst aus der Zeitung erfahren habe". Der NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen will bis zum Sommer aufklären, ob Bouffier seinerzeit als Innenminister die Ermittlungen der Polizei zur Rolle des Verfassungsschutzes beim Kasseler NSU-Mord behindert hat.