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Obdachlose in Berlin
Jeder Suppenteller zählt

Obdachlosigkeit ist ein großes Thema in der Hauptstadt. Wie groß, konnte bisher nur geschätzt werden. In der "Langen Nacht der Solidarität" vom 29. auf den 30. Januar zählen Ehrenamtliche, wie viele Menschen auf der Straße leben.

Von Simon Berninger | 29.01.2020
In einem Hauseingang in Berlin schläft ein Obdachloser in einem Schlafsack.
Obdachloser in der Uhlandstraße in Berlin. (picture alliance / dpa / M. C. Hurek)
"Schönen guten Tag, ich bin der Danny, und bin leider obdachlos und wollte von daher gerne fragen, ob Sie nicht vielleicht eine kleine Spende für mich haben". Alltag in Berlin: Obdachlose ziehen durch die U-Bahn, bitten um etwas Geld oder verkaufen die Obdachlosenzeitschrift. Selbst wer darüber hinweghört, kann erahnen, dass Obdachlosigkeit in der Hauptstadt ein großes Thema ist. Doch wie groß genau, konnten Politiker und Sozialarbeiter bislang nicht sagen.
Bisher keine verlässlichen Zahlen
"Es gibt nur Schätzungen. Und die Schätzungen reichen - auch das ist unterschiedlich - mal von 2.000 bis 20.000, oder 3.000 bis 6.000. Also selbst die Schätzungen weichen so voneinander ab, dass man einfach keine realistische Zahl hat, auch keine realistische Schätzung, weil das eben schwierig zu schätzen ist."
Sagt Klaus-Peter Licht, zuständig für bürgerschaftliches Engagement bei der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Der Sozialarbeiter hat in den vergangenen Wochen an erster Stelle dafür geworben, die Zahl der Obdachlosen genauer zu ermitteln. Unter seiner Leitung hat der Sozialsenat am 29. Januar zur Langen Nacht der Solidarität geladen. Die Idee: Ehrenamtliche zählen alle Menschen, die ihr Quartier in dieser Nacht auf der Straße haben.
"Drei Stunden, von 22 Uhr bis ein Uhr - das ist so üblich auch in anderen, internationalen Zählungen, denn 22 Uhr ist die Zeit bei vielen Kältehilfeeinrichtugen, wo man dort sein muss. Und wir haben die Stadt aufgeteilt in lebensweltlich orientierte Räume im Land Berlin. 448 Planungsräume, pro Planungsraum ein Team, mindestens drei Personen, immer möglichst geleitet von einem Professionellen - oder erfahrene Studierende, sechstes, siebtes Semester, die wirklich Vorerfahrung haben", sagt Licht.
"Es ist ja ganz oft so, dass man sie nicht wahrnimmt"
Zum Beispiel die Studierenden an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen (KHSB) in Berlin-Karlshorst. Dort machte in der Vergangenheit schon die so genannte Obdachlosen-Uni Station. Das Projekt der Outreach gGmbH will Obdachlosen ermöglichen, selbst Vorträge zu halten - von und für Menschen, die auf der Straße leben. Das soll ihnen das Gefühl geben, gebraucht, gehört und für ihr Wissen geschätzt zu werden.
Umgekehrt haben auch schon Studierende der KHSB Kurse in Obdachloseneinrichtungen angeboten. So schwinden Berührungsängste - und auch Julia und Mark, beide eingeschrieben für Soziale Arbeit, mussten nicht lange überlegen, ob sie bei der Nacht der Solidarität mitmachen würden.*
"Ich finde es wichtig, eine konkrete Zahl zu haben, um auch Forderungen besser zu gestalten, wenn man genau weiß, was eigentlich der Bedarf ist und was die tatsächliche Anzahl an beispielsweise Notunterkünften ist, die gestellt wird."
"Und wir erleben das da nur für drei Stunden, draußen zu sein und zu zählen und frieren schon sehr. Und diese Menschen haben das tagtäglich jede Nacht. Und ich bin selber auch Christ, und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zum Beispiel: Es ist ja ganz oft so, dass man dran vorbei geht an den Obdachlosen, sie nicht wahrnimmt."
"Ja, wahrscheinlich ist das die Übersetzung von Nächstenliebe, ich weiß es nicht."
So falsch kann die Studentin nicht liegen. Denn auch kirchliche Akteure in der Obdachlosenhilfe berufen sich bei ihrer Arbeit auf die Bibel.
Hilfe in der Suppenküche
Die Suppenküche der Franziskaner in Pankow gehört in Berlin zu den prominentesten konfessionellen Angeboten für wohnungs- und mittellose Menschen.
"Es ist das: ‚Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.‘ Das wird hier tagtäglich greifbar. Das ist auch das Ideal des Heiligen Franziskus: Die Zuwendung Gottes spürbar machen. Wir machen sie hier spürbar durch eine Suppe, durch persönliche Ansprache", sagt Bernd Backhaus.
Er leitet die Suppenküche seit sechs Jahren, die Einrichtung gibt es schon seit der Wende. Eine Franziskaner-Schwester erkannte damals die Not.
Die Suppenküche im Kloster Pankow
Die Suppenküche im Kloster Pankow (imago stock&people / Rolf Zöllner)
Backhaus erzählt: "Schwester Monika war mit Menschen hier im ehemaligen Osten im Kontakt, die mit dem Fall der Mauer nicht nur einen Käfig, sondern auch gewisse Sicherheiten verloren hatten - und erstmal vor ziemlichen Herausforderungen standen. Und da waren immer wieder Menschen dabei, die ihr dann gesagt haben: Monika, ich habe Hunger."
Daraufhin hat Schwester Monika einfach angefangen, für die Bedürftigen zu kochen. Damals wie heute bekommen Obdachlose hier sechsmal in der Woche eine kostenlose Suppe. Und den leeren Suppentellern nach zu urteilen ist die Not nach wie vor groß.
"Komisches Gefühl: da kommt jemand, und zählt mich"
"Mittags zählen wir die abgewaschenen Schalen und wissen dann, wie viele Gäste wir da hatten", sagt Bernd Backhaus. "Gestern waren es 224, das ist schon relativ viel. Aber die 224 sind nicht alle Menschen, die in Berlin hungrig sind. Das sind die, die den Schritt gewagt haben über die Schwelle der Suppenküche und sich entblößen. Da gibt es noch eine große Zahl an Menschen, die genau das nicht wagen."
Daher findet es Bernd Backhaus gut, dass der Berliner Sozialsenat mit der Obdachlosenzählung nun versucht, Klarheit zu schaffen. Und auch bei Tobi, einem der Gäste in der Suppenküche, kommt die Aktion grundsätzlich gut an.
"Für die Statistik natürlich gut, fürs Wissen. Damit die vielleicht in der Politik auch etwas verändern. Aber es ist klar, dass sich die Leute dann auch ein bisschen komisch fühlen. Komisches Gefühl, da kommt jemand, und zählt mich. Und steckt mich in eine Liste rein!"
Tatsächlich erfasst die Zählung nicht nur die bloßen Personen, die auf der Straße leben, sondern neben Alter und Geschlecht auch deren Herkunft.
Viele Menschen aus dem EU-Ausland
Bei Letzterem konnten Obdachlosenhelfer in den vergangenen Jahren Veränderungen auf Berlins Straßen beobachten. So auch Anna-Sofie Gerth, Diakonin und Leiterin der City Station in Charlottenburg. Das ist tagsüber ein kostengünstiges Café mit Duschmöglichkeiten, abends ein Nachtquartier mit 30 Betten, geleitet von der Berliner Stadtmission, die zur evangelischen Kirche in Berlin gehört.
"Anmeldung machen." - "Dann brauchst Du ja eine Wohnung. Ich kann ja keine Wohnung bauen." - "Hotel machen, und dann Adresse von Hotel." - "Nein, in einem Hotel kannst Du dich nicht anmelden. Du brauchst eine Wohnungsgeberbescheinigung. Ein Hotel kann dir das Dokument zum Anmelden nicht geben. Du brauchst eine richtige Wohnung." - "Ohne, dann Schwarzarbeit." "Schwarz darf man nicht arbeiten."
Für Anna-Sofie Gerth sind solche Gespräche kein Einzelfall. Im Gegenteil, sagt sie angesichts der Entwicklung, die sie hier seit acht Jahren beobachtet hat.
"Die Beobachtung ist ganz klar, dass es mehr Menschen gibt, die auf der Straße leben in Berlin. Als ich angefangen habe, gab es knapp 600 Notübernachtungsplätze in ganz Berlin. Und jetzt sind wir bei 1.200. Für die Zahl der Obdachlosen immer noch zu wenig, und es sind vor allen Dingen Menschen aus anderen europäischen Ländern, die hierher kommen. In Rumänien zum Beispiel Menschen, die da in Roma Camps leben, die haben zu über 50 Prozent keinen Zugang zu fließend Wasser. Und wir reden da noch nicht mal von Trinkwasser oder warmem Wasser. Diese Menschen kommen hierher mit der klaren Hoffnung auf ein besseres Leben."
Obdachlosenhilfe als Politikum
In bis dato ungezählten Fällen landen sie aber auf der Straße. Ohne deutschen Pass haben sie keinen Anspruch auf Wohnungslosenhilfe, die Deutschen nach Paragraph 67 im Sozialgesetzbuch XII zusteht. Deshalb sind niedrigschwellige Einrichtungen wie die City Station in Charlottenburg oder die Suppenküche in Pankow oftmals die einzigen Anlaufstellen für Obdachlose aus dem Ausland.
Das ist längst ein Politikum, sagt Jens Wurtzbacher, Professor für Sozialpolitik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen.
"Dass dann natürlich gesagt wird: Ja, was ist eigentlich mit unseren Obdachlosen? Dass also eine Trennung vorgenommen wird zwischen denen, denen die Hilfeleistung vermeintlich eigentlich zusteht und den anderen nicht, obwohl die Not völlig gleichbedeutend ist. Und in dem Zwiespalt befinden sich natürlich die Bezirkspolitiker auch. Es gab eine sehr restriktive Linie im Bezirk Mitte, Neukölln schickt Leute auch zurück, also organisiert Busse Richtung Polen, Bulgarien und dergleichen mehr."
Soweit denkt der Leiter der Nacht der Solidarität aber gar nicht. Fürs Erste betont Hans-Peter Licht:
"Die Ergebnisse müssen natürlich auch erstmal ausgewertet werden, und dann ist die politische Verantwortung natürlich bei der Senatorin und damit natürlich auch die Frage: Was machen wir mit den Ergebnissen? Aber allein für mich ein ganz wichtiger Nebeneffekt, nämlich das, was jetzt schon passiert ist. Ich sag mal so: Wir gucken nicht mehr weg, wir gucken hin. Das hat eine Auswirkung auf das Engagement, dass sich mehr Menschen engagieren werden, aber auch kritisch nachfragen werden: Was tut die Stadt eigentlich?"
Daran wird sich die Lange Nacht der Solidarität wohl auch messen lassen müssen.

*In einer vorherigen Version gab es falsche Angaben zur Kooperation der Obdachlosen-Uni mit der Katholischen Hochschule für Sozialwesen. Wir haben den entsprechenden Absatz im Beitrag korrigiert.