Donnerstag, 28. März 2024

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Obdachlose in Großstädten
"Wir müssen die Ursachen der Armutswanderung bekämpfen"

Städte wie Berlin sind nach den Worten der Bezirksbürgermeisterin von Neukölln, Franziska Giffey, mit der wachsenden Zahl von Obdachlosen aus Südosteuropa zunehmend überfordert. Das Problem könne aber nicht auf lokaler Ebene gelöst werden, sagte die SPD-Politikerin im Dlf. Hier sei die Bundesregierung gefragt.

Franziska Giffey im Gespräch mit Philipp May | 08.11.2017
    Eine groessere Brachflaeche in Bahngebiet-Naehe und Helsinforser Str. wird seit Monaten illegal von Obdachlosen als Camp genutzt. Aerger mit den umliegenden Anwohnern ist gegeben. ***
    Eine groessere Brachflaeche in Bahngebiet Naehe und Helsinforser Str wird seit Monaten illegal von (imago stock&people)
    Philipp May: Jetzt kommen sie langsam wieder, die kalten Nächte. Hier in Köln waren es fünf Grad, als ich mich um vier Uhr morgens auf den Weg ins Deutschlandfunk-Funkhaus gemacht habe. Es wird wieder richtig ungemütlich. Das gilt insbesondere für die vielen Obdachlosen, und die werden immer mehr. 8.000 bis 10.000 schätzungsweise allein in Berlin. Aber auch die anderen deutschen Großstädte sind betroffen. Und seit der EU-Osterweiterung kommen immer mehr Menschen aus Osteuropa. Wir haben schon gestern darüber berichtet. Ulrich Hermannes, Geschäftsführer der Hoffnungsorte Hamburg, dazu bei uns im Deutschlandfunk:
    O-Ton Ulrich Hermannes: "Wir rechnen ungefähr mit einem Anteil von 10 bis 15 Prozent derjenigen, die hier herkommen, die es nicht schaffen, die in prekäre Lebensverhältnisse abrutschen, weil sie nicht über die entsprechenden Voraussetzungen verfügen, sich unmittelbar am Arbeitsmarkt zu etablieren. Sie haben keine Ausbildung, sie verfügen nicht über genügend Sprachkenntnisse, oder sie bringen auch andere Probleme mit wie zum Beispiel Erkrankungen, sie sind häufig nicht ausreichend krankenversichert."
    May: Mehr als jeder zehnte Mensch, der auf der Suche nach Arbeit aus den östlichen EU-Ländern nach Deutschland kommt, landet auf der Straße. Das menschliche Drama, das das bedeutet, hat uns Ulrich Hermannes gestern ausführlich beschrieben. Das Interview können Sie auch noch mal nachhören unter Deutschlandfunk.de.
    Aber es ist auch für die Städte natürlich ein zunehmendes Problem, zum Beispiel in Berlin-Neukölln. Dort ist die SPD-Politikerin Franziska Giffey Bürgermeisterin und sie ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Franziska Giffey: Ja, guten Morgen!
    May: Frau Giffey, können Sie Zahlen nennen? Wie viele Obdachlose leben in Ihrem Bezirk?
    Giffey: Diese Zahlen können wir nicht so genau beziffern, weil wir natürlich immer nur von denen wissen, die bei uns in der sozialen Wohnhilfe landen. Wir haben im Moment über 3.500 Menschen, die in der sozialen Wohnhilfe um Hilfe gesucht haben und die wir untergebracht haben, nur aus Neukölln. Berlinweit ist es natürlich noch mal eine höhere Zahl.
    Wir haben ohnehin sehr, sehr viele Menschen in Heimen in Unterbringung. Jetzt kommt noch mal die Kältehilfe dazu seit Beginn November. Und wir können sagen, dass die Kapazitäten, die da sind, eigentlich nicht für den Bedarf ausreichen.
    Die Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Franziska Giffey (SPD).
    Die Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Franziska Giffey (SPD). (picture alliance / dpa / Sophia Kembowski)
    "Ganz andere Erwartung an Deutschland"
    May: Das heißt, viele Menschen müssen jetzt schon auf der Straße übernachten, das ist klar?
    Giffey: Na ja. Die Kältehilfe wird jetzt hochgefahren in Berlin. Wir sind auch bemüht, zusätzliche Kältehilfeplätze zu schaffen, um zumindest in den kalten Monaten für alle, die Hilfe brauchen, eine Unterbringung zu schaffen.
    Es ist sehr schwierig, auch bei manchen Obdachlosen, die sich nicht an die Hilfesysteme wenden. Die werden von uns direkt angesprochen und es wird dann geschaut, was man tun kann. Aber in der Tat ist es so, dass bei EU-Bürgern die Situation noch mal schwieriger ist, weil sie keinen regulären Anspruch haben auf die Unterbringung in der sozialen Wohnhilfe, auf Übernahme ihrer Wohn- und Mietkosten.
    May: Das heißt, was machen Sie mit denen?
    Giffey: Es ist so, dass die Kältehilfe jetzt von November bis März allen Zugang gewährt. Das heißt, da wird nicht geschaut, wo jemand herkommt. Bei denen, die in den anderen Monaten, in der wärmeren Jahreszeit in zum Beispiel Parks und Grünanlagen entdeckt werden, sagen wir schon, es geht nicht, dass sie dort weiter übernachten können. Wir haben ja eine Situation, dass wir teilweise 10, 20, 30 Leute haben, die eine Art Zeltlager aufbauen in Parks und Grünanlagen, dort dann übernachten, und das führt zu allen Begleiterscheinungen: Natürlich ein ganz hohes Müllaufkommen, die Menschen verrichten ihre Notdurft in den Grünanlagen, in den Sandkästen der Spielplätze, und das führt natürlich auch zu einem Unfrieden in der Bevölkerung. Die sagt, das geht nicht, dass unsere Parks so verwahrlosen.
    Wir haben auf der einen Seite das Elend der Menschen, das wir natürlich nicht hinnehmen können, aber auf der anderen Seite natürlich den Anspruch auch der Allgemeinheit zu sagen, wir wollen unseren Park, unsere Grünanlage so nutzen, wie es eigentlich gedacht war, und das ist nicht als Zeltlager gedacht.
    May: Jetzt sagen Sie, okay, sie können hier nicht übernachten. Was passiert dann? Dann sagen die, okay, und gehen weg?
    Giffey: Es ist sehr unterschiedlich. Wir versuchen erst mal zu gucken, haben die Menschen einen Anspruch auf die soziale Wohnhilfe. Dann verweisen wir sie an Hilfe. Wir arbeiten mit der mobilen Beratungsstelle der Caritas zusammen, die sich spezialisiert hat auf Südosteuropäer, das heißt, auch die Sprachkenntnisse hat und mit den Leuten redet und fragt, was ist. Ich kann bestätigen, dass viele hier hergekommen sind mit einer ganz anderen Erwartung an Deutschland. Sie haben sich ein besseres Leben erhofft, Perspektive auf Arbeit, auf Wohnung, und das ist alles so nicht eingetreten. Sie arbeiten teilweise in prekärsten Verhältnissen mit ganz geringen Löhnen, oder aber sie sind als Bettelbande organisiert hier hergekommen. Das ist sehr unterschiedlich.
    "Es gibt auch tatsächlich die organisierten Bettelbanden"
    May: Das gibt es auch tatsächlich, richtig organisiert aus Rumänien zum Betteln?
    Giffey: Ja, das gibt es auch. Es gibt auch die, die ausgebeutet werden auf dem Bau oder in Reinigungsfirmen oder sonst wo. Aber es gibt auch tatsächlich die organisierten Bettelbanden. Und das ist eine Situation, damit müssen wir umgehen. Wir versuchen, im Gespräch mit den Leuten rauszufinden, wie man ihnen helfen kann. Einige verweigern das Gespräch mit uns, andere sind aber offen auch für Hilfsangebote. Was wir gemacht haben ist ein konkretes Hilfsangebot freiwillige Rückreise und die Organisation dieser Rückreise und auch die Bezahlung dieser Rückreise. Das haben wir im letzten Jahr und auch in diesem Jahr gemacht und das ist auch angenommen worden von über 60 Personen.
    May: Und was ist, wenn die Leute nicht gehen wollen?
    Giffey: Das ist in der Tat eine große Schwierigkeit. Wenn die Leute nicht gehen wollen, entziehen sie sich uns. Sie packen ihre Sachen und gehen aus dem Park raus. Im Moment haben wir die Situation, dass es dann eigentlich nur zu einer Verschiebung der Problemlagen kommt. Das ist natürlich nicht gut. Aber wir können auf der lokalen Ebene dieses große europäische Problem einer europäischen Armutswanderung nicht wirklich lösen. Wir sehen, dass immer mehr Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben aus den südosteuropäischen Ländern hier herkommen, weil das Wohlstandsgefälle so groß ist, weil das durchschnittliche Monatseinkommen in Rumänien, in Bulgarien bei 200 Euro liegt. Ich bin selbst in Rumänien gewesen, in Bulgarien gewesen, habe mir die Situation angeschaut, gerade auch der Roma, die dort leben. Uns ist gesagt worden, es gibt Menschen, die sehen das so: Jeder Papierkorb in Deutschland gibt mehr her als das, was das Leben dort ihnen bieten kann. Das ist eine Problematik, die muss natürlich auf Bundesebene, auf europäischer Ebene auch angegangen werden. Da geht es um ein massives Wohlstandsgefälle und darum, wie man eigentlich Lebensverhältnisse auch in Herkunftsländern verbessern kann.
    "Das werden wir nicht finanzieren können"
    May: Es muss mehr Geld nach Rumänien und nach Bulgarien, in die osteuropäischen Länder fließen?
    Giffey: Es muss auch ein Gespräch darüber geben mit den Regierungen der anderen europäischen Länder, wie die eigentlich mit ihren Obdachlosen, mit Menschen in prekärer Lage umgehen. Dass sich so viele auf den Weg machen, das ist natürlich alarmierend. Wir haben auf der anderen Seite die Situation, dass wir Menschen, die hier arbeiten wollen, auch unterstützen. Wir haben spezielle Angebote, Beratungsangebote, auch Deutschkursangebote für EU-Bürger, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren, und das ist ja die andere Seite. Es gibt an vielen Stellen sehr wohl die Möglichkeit zu arbeiten, aber vielfach fehlt ihnen die Kenntnis, die Sprachkenntnis, die Vermittlungsfähigkeit, um da auch zu schauen, kann man nicht Leute in Arbeit vermitteln, damit sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Das ist genauso auch eine Aufgabe.
    May: Jetzt kennen wir die Diskussion ja schon aus der Flüchtlingskrise. Wir können hier nicht allen helfen, heißt es. War die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgarien und Rumänien ab 2014, war das ein Fehler?
    Giffey: Ich denke, dass der europäische Binnenmarkt und auch die Möglichkeit der Freizügigkeit kein Fehler ist, sondern das ist ein großer Fortschritt für unsere Entwicklung. Nur die Frage ist, was ja immer wieder auch diskutiert wird, …
    May: Aber kam die vielleicht zu früh?
    Giffey: Na ja. Der Punkt ist doch, öffnen wir die Sozialsysteme für alle, und das ist ja im Moment nicht so, und ich finde es auch nicht vertretbar, wenn man sagt, das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland muss in seiner Gänze auch EU-Bürgern offenstehen. Das werden wir nicht finanzieren können. Man muss sagen, die Freizügigkeit ist in Ordnung. EU-Bürgerinnen und EU-Bürger können hier leben und arbeiten. Aber sie müssen für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen. Es wird nicht funktionieren, dass der deutsche Staat die Mietkosten, die Lebenshaltungskosten für EU-Bürger, die hier herkommen, übernimmt. Das geht nicht, das ist nicht finanzierbar. Das ist bei den Flüchtlingen eine andere Situation. Wenn Menschen aus Gefahr für Leib und Leben hierher fliehen und Asyl beantragen, dann ist das noch mal eine ganz andere Lage. Aber ein EU-Land ist nicht ein krisen- und kriegsgeschütteltes Land, sondern es muss auch ein Land sein, in dem Menschen leben können. Deswegen ist es ja auch richtig zu sagen, die Sozialsysteme in Deutschland stehen nicht in ihrer Allumfänglichkeit den EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern offen.
    Wenn wir das tun würden, würde es eine Wanderungsbewegung geben, die noch viel stärker sich auswachsen würde als das, was wir jetzt haben. Deshalb kann man diese Themen, die wir hier vor Ort bei uns erleben, auch nur auf europäischer Ebene schlussendlich lösen, nämlich dadurch, dass wir dafür arbeiten, auch gemeinsam mit den anderen Regierungen der südosteuropäischen Länder, dass die Lebensverhältnisse in den EU-Staaten angeglichen werden.
    "Die Ursachen der Armutswanderung bekämpfen"
    May: Sind Sie da zuversichtlich, dass das klappt?
    Giffey: Das ist sicherlich nicht von heute auf morgen zu lösen. Ich kann das ja nur immer aus der Lokalperspektive sehen. Ich sehe, dass Bürgerinnen und Bürger mich anschreiben, Mütter, die mit ihren Kindern sich auf einem Spielplatz aufhalten wollen und sagen, ich möchte gerne den Spielplatz, den Park für das nutzen, wofür er eigentlich gedacht war. Und wenn der Wasserspielplatz als Badezimmer-Ersatz genutzt wird, dann geht das einfach nicht. Das ist für mich ein Punkt, dass wir nicht hinnehmen können, wenn Parks, Grünanlagen, öffentliche Plätze verwahrlosen. Wir können aber auch nicht hinnehmen, wenn Menschen in Elend leben, und wir können nicht hinnehmen, wenn Menschen im Winter hier erfrieren. Das nehmen wir auch nicht hin und deswegen müssen jetzt erst mal im November über den Winter die Plätze der Kältehilfe ausgebaut werden. Daran arbeiten wir, damit Menschen, egal wo sie herkommen, erst mal vor dem Erfrieren geschützt werden. Das ist die vordringlichste Aufgabe.
    Darüber hinaus sind das Fragen, die lokal nicht schlussendlich zu lösen sind, sondern die wirklich in ihrer Ganzheit angegangen werden müssen.
    May: Das heißt, wir gehen noch mal darüber hinaus. Erleben wir mal wieder ein europäisches Politikversagen? Würden Wir so weit gehen?
    Giffey: Ich finde immer solche pauschalen Aussagen schwierig. Wir haben in Europa eine Entwicklung, die ja an vielen Stellen positiv ist. Aber die hat Begleiterscheinungen. Und wenn ich eine Europäische Union mit freier Bewegungsmöglichkeit für alle habe, ist das ja erst mal was Positives. Trotzdem ist es so, wenn wir ein so starkes Wohlstandsgefälle haben zwischen den einzelnen EU-Ländern, dann ist es klar, dass es Menschen gibt, die sich auf den Weg machen, auf der Suche nach einem besseren Leben, auch mit bestimmten Vorstellungen, wie es hier ist. Wir haben teilweise die Erfahrung, dass Menschen mit vollkommen anderen Erwartungen hier herkommen als das, was sie dann tatsächlich erleben. Da ein Stück weit Klarheit zu schaffen und ein Stück weit auch wirklich zu schauen, warum verlassen Menschen ihre Heimat, und was kann man tun, damit sie das nicht machen müssen, das ist der entscheidende Fokus. Genauso wie wir Fluchtursachen bekämpfen müssen, müssen wir auch die Ursachen der Armutswanderung bekämpfen. Und das geht nur in Zusammenarbeit und vor Ort auch in den Herkunftsländern.
    May: Immer mehr Obdachlose in deutschen Großstädten. Was muss die Politik tun? Was kann die Politik tun? Antworten waren das von Franziska Giffey, SPD-Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln. Frau Giffey, vielen Dank.
    Giffey: Ja, gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.