Samstag, 20. April 2024

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Öffentlicher Wissenschaftsstreit
"Das war medial ein bisschen aufgebauscht"

Die im Verlauf der Coronakrise in den Medien dargestellten Dispute zwischen Virologen seien in Wahrheit oftmals gar nicht existent, sagte Dlf-Wissenschaftsredakteur Ralf Krauter. Dass der in der Wissenschaft übliche Meinungsaustausch so öffentlich stattgefunden habe, sei eben für alle neu gewesen.

Ralf Krauter im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 31.12.2020
Ein Reportermikrofon liegt auf einem Tisch
Dlf-Wissenschaftsredakteur Ralf Krauter: „Und plötzlich scheint da so ein Expertenstreit zu entstehen oder zu existieren, der in Wahrheit, glaube ich, gar nicht so da ist.“ (picture alliance / dpa | Inga Kjer)
Er sei der festen Überzeugung, dass mögliche Konflikte zwischen Virologen und/oder Epidemiologen sehr schnell aus der Welt geräumt werden könnten, sagte Krauter.
"Wenn man die alle mal an einen Tisch gesetzt hätte, wären die sich bei zwei Dingen relativ schnell einig gewesen, und zwar beim Kern der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen: Erstens, die Infektionszahlen müssen runter, und zweitens, wir müssen die Alten und vulnerablen Personengruppen schützen."
Coronavirus und Medien - Christian Drosten bei #formate20
Vor der Coronavirus-Pandemie war Christian Drosten einer breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Heute gilt er vielen Menschen als kompetenter Erklärer der Welt der Viren und hat dabei immer wieder mit der medialen Berichterstattung zu kämpfen.
In Wahrheit habe es über diese Punkte niemals Streit gegeben. Aufgrund einer öffentlichen Verzerrung habe dies jedoch manchmal so gewirkt. Krauter: "Weil Medien eben gerne so tun, als ob da ein Konflikt wäre, den man dann aufbauschen kann."

Durchwachsenes Zeugnis für die Politik bei der Corona-Bekämpfung

Was das Handeln der Politik auf Bundes- und Länderebene angeht, stellt Krauter ein ambivalentes Zeugnis aus. Im März habe es die Politik sehr geschickt verstanden, die Leute mitzuziehen und für den ersten Lockdown auf Linie zu bringen. Anders sähe die Lage aber im Herbst aus, sagte Krauter und erläuterte:
"Spätestens ab Sommer lagen ja viele Fakten zu Corona wirklich auf dem Tisch. Wir wussten, wir müssen Kontakte reduzieren, weil das Virus durch Aerosole vor allem übertragen wird. Wir wussten, die Reproduktionszahl muss unter 1, damit dieses exponentielle Wachstum zum Erliegen kommt. Wir wussten, wir müssen die Sieben-Tage-Inzidenz unter 50 bekommen, damit die Gesundheitsämter eine Chance haben, diese Infektionsketten nachzuverfolgen."
Die Pandemie und die Medien
Welche Rolle haben die Medien in der Pandemie gespielt? Haben Journalisten vor allem zu Information und Aufklärung beigetragen? Oder haben die Medien auch irrationale Ängste, Stimmungen und Spaltungen der Gesellschaft befördert? Deutschlandfunk-Korrespondenten sprechen über ihre (Selbst-)Beobachtungen.
Krauter betonte, dass die Wissenschaft schon vor November wieder härtere Maßnahmen gefordert habe. "Wir hätten heute deutlich mehr Wasser unterm Kiel, wenn wir schon im Oktober einen ordentlichen Lockdown verhängt hätten."

Das Gespräch in voller Länge:
Jörg Münchenberg: Wie ist die Rolle des Robert Koch-Instituts nun in der Pandemie zu bewerten?
Ralf Krauter: Ich finde, eigentlich muss man denen attestieren, dass sie ganz gute Arbeit gemacht haben. Das ist ja eine etwas durchaus behäbige Bundesbehörde gewesen, die eigentlich auch gar nicht darauf ausgerichtet war, direkt mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Das eigentliche Zielpublikum des RKI ist ja Fachpublikum, das heißt, man musste neue Strukturen aufbauen, man hat dann eben sich für dieses Pressekonferenzformat entschieden. Ich finde, im Großen und Ganzen fühlte ich mich immer gut und besonnen informiert. Klar kann man retrospektiv sagen, hätten die nicht schon früher manches anders sehen oder wissen können, aber ich glaube, solche Kritik im Nachhinein ist immer so ein bisschen wohlfeil, weil letztlich erleben wir bei dieser Pandemie ja Wissenschaft in Echtzeit. Wissen wird in Echtzeit erschaffen, und deswegen ist es total normal, dass die Erkenntnis fortschreitet und das, was man gestern gesagt hat, vielleicht morgen nicht mehr unbedingt genauso gilt. Ich fühlte mich immer gut informiert, und ich finde, die haben ihren Job relativ gut gemacht.
Münchenberg: Nun hat ja die Politik sozusagen fast gegiert nach den Empfehlungen der Virologen, man hat den Rat eingeholt, hat man den auch dann sich beherzigt?
Krauter: Ja, da würde ich sagen, jein. Ich finde, im Frühjahr ist das relativ gut gelaufen, da hat man, als sich die Erkenntnisse verdichteten, das Virus kam nach Deutschland, irgendwann war klar, es wird hier bleiben und nicht einfach wieder verschwinden, hat man dann doch relativ schnell sich dazu entschlossen, diese relativ weit reichenden Maßnahmen mit dem ersten Lockdown zu ergreifen, im März war das. Das hätten ja viele wenige Wochen vorher noch gar nicht für möglich gehalten, dass die Menschen da überhaupt mitziehen, weil wir hatten uns ja davor die Augen gerieben und gesehen, was in Wuhan passiert. Nun war der Lockdown bei uns nicht so strikt wie dort in China, aber es ging ja schon in die Richtung, und die Politik hat es sehr geschickt verstanden, finde ich, die Leute da mitzuziehen, mit auf Linie zu bringen, dass alle mitgemacht haben. Also im März würde ich relativ gute Noten ausstellen.
Ich finde, die Lage sieht anders aus im Herbst, denn man muss sagen, spätestens ab Sommer lagen ja viele Fakten zu Corona wirklich auf dem Tisch. Wir wussten, wir müssen Kontakte reduzieren, weil das Virus durch Aerosole vor allem übertragen wird. Wir wussten, die Reproduktionszahl muss unter 1, damit dieses exponentielle Wachstum zum Erliegen kommt. Wir wussten, wir müssen die Sieben-Tage-Inzidenz unter 50 bekommen, damit die Gesundheitsämter eine Chance haben, diese Infektionsketten nachzuverfolgen. All diese Fakten lagen im Sommer auf dem Tisch, und spätestens im September haben Wissenschaftler explizit, auch hier im Programm, davor gewarnt, die zweite Welle rollt auf uns zu, wir müssen jetzt schnell was tun, und passiert ist viele Wochen lang nichts. Erst im November konnten sich dann die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten auf den ersten weichen Lockdown einigen. Damals wurde schon von vielen ein härterer gefordert, der kam dann erst im Dezember. Da wurde wertvolle Zeit verschlafen. Ich glaube, das ist eine der Fragen, die man im Nachgang noch mal wird erörtern müssen, warum wurde diese doch sehr klare Stimme aus der Wissenschaft so lange nicht gehört, denn wir hätten heute deutlich mehr Wasser unterm Kiel, wenn wir schon im Oktober einen ordentlichen Lockdown verhängt hätten.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

"Wissenschaft ist immer nur eine Stimme unter vielen"

Münchenberg: Aber Herr Krauter, zeigt das nicht vielleicht auch ein Stück weit doch die Begrenztheit, was die Einflussmöglichkeit jetzt von Wissenschaft angeht, weil vielleicht diese Empfehlungen und die Erfahrungen, die man eigentlich auch hatte schon im Sommer dieses Jahres, dass die der Politik zu unbequem waren?
Krauter: Es ist natürlich klar, Wissenschaft ist immer nur eine Stimme unter vielen in einem Chor von Leuten und Einfluss und Interessen, die sich da Gehör verschaffen wollen. Politik muss das Machbare möglich machen, und Wissenschaft kann eben sozusagen Leitplanken vorgeben und sagen, wenn wir das tun, wird das sich so und so entwickeln. Das Interessante bei so einer Pandemie ist ja, die gehorcht relativ strikten mathematischen Gesetzen, das heißt, die Forscher wissen mit den Daten von heute ziemlich genau, wie die Infektionszahlen in vier oder sechs Wochen aussehen werden und wie die Intensivbetten belegt sein werden. Vor dem Hintergrund wundert es mich schon, dass man das so lange in den Wind geschlagen hat. Man hatte das Gefühl, die Politik muss sozusagen erst noch Zustimmung in der Bevölkerung suchen. Ich glaube, die Bundeskanzlerin zum Beispiel, Physikerin, die hatte es schon verstanden und auch im September schon gesagt, wir müssen da bald wieder was tun, das geht nicht so weiter, aber sie konnte sich dann eben nicht durchsetzen, weil mancher Landesfürst dann erst mal sagte, och, bei uns ist doch alles noch ganz entspannt, lasst uns doch erst mal so weitermachen wie bisher. Ein Virus, das darauf gepolt ist, sich exponentiell auszubreiten, verzeiht Nachlässigkeit nicht.

Expertenstreit in den Medien, der in Wahrheit nicht so existiert

Münchenberg: Vielleicht muss man die Politik ja auch ein bisschen verteidigen. Jeder Virologe fast war in der Öffentlichkeit, hat indirekt oder direkt Einfluss genommen vielleicht auf das Krisenmanagement auch der Politik. War es vielleicht für Politik auch schwierig, oder anders gefragt, nach welchen Kriterien hat man sich denn dann die Fachleute auch wirklich dann rausgesucht oder raussuchen können?
Krauter: Es ist natürlich in der Tat so, dass die Wissenschaft nie mit einer Stimme spricht, da gibt es immer divergierende Meinungen, aber es ist wie so oft: Es gibt eben die Schaumschläger, die sich gerne vor laufender Kamera oder in Talkshows äußern, vielleicht aber gar nicht so viel Ahnung haben, und es gibt eben die manchmal etwas Stilleren, die sich wirklich gut auskennen, aber vielleicht gar nicht von sich aus so ins Rampenlicht drängen. Das führt dann natürlich dazu, dass manche Medien das dann auch gerne so ein bisschen hochstilisieren, und dann ist die schnell rausgehauene steile These aus der Talkshow der Aufmacher für die "Bild"-Zeitung am nächsten Morgen. Und plötzlich scheint da so ein Expertenstreit zu entstehen oder zu existieren, der in Wahrheit, glaube ich, gar nicht so da ist.
Das war medial so ein bisschen aufgebauscht. Ich bin der festen Überzeugung, all die Virologen, Epidemiologen, die wir jetzt alle beim Namen kennen – also Drosten, Kekulé, Streeck und wie sie alle heißen –, wenn man die alle mal an einen Tisch gesetzt hätte, wären die sich bei zwei Dingen relativ schnell einig gewesen, und zwar beim Kern der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen: Erstens, die Infektionszahlen müssen runter, und zweitens, wir müssen die Alten und vulnerablen Personengruppen schützen. Da gab es eigentlich nie Streit drüber, in der Öffentlichkeit wirkte das aber manchmal so, und ich glaube, das war ein bisschen auch eine mediale Verzerrung, weil Medien eben gerne so tun, als ob da ein Konflikt wäre, den man dann aufbauschen kann. Und die Wissenschaft muss sich natürlich fragen, können wir vielleicht künftig eher mit einer Stimme sprechen, wobei eben Wissenschaft gerade auch von diesem Austausch von Meinungen profitiert, der ist wichtig. Neu war eben jetzt, dass dieser Meinungsaustausch unter Wissenschaftlern auf öffentlicher Bühne stattfand, und das hat dann für manche Überraschung gesorgt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.