Archiv


Ökonomie ohne Grenzen?

Im Rahmen eines Institutstags lud das Max-Planck-Institut zur Debatte über die gesellschaftliche Beherrschbarkeit ökonomischer Abläufe ein. Denn die aktuellen Probleme zeigen, dass die Sozialwissenschaft derzeit kein Instrumentarium besitzt, die Finanzkrise zu erklären. Geschweige denn, sie zu lösen.

Von Mirko Smiljanic |
    Die Zahlen sind erschreckend: Laut Maastricht-Regel darf der staatliche Schuldenstand nicht mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, tatsächlich bewegt er sich mittlerweile in schwindelerregende Höhen: Griechenland führt die Schuldenquote mit 143 Prozent an, gefolgt von Italien mit 119 Prozent und Portugal mit 93 Prozent. Selbst Deutschland knackt mit 85 Prozent die Maastricht-Linie, wobei hier Hauptgrund die Hilfe für pleitebedrohte Banken ist. Die konnten sich nach der Lehmann-Pleite nicht selber helfen, weil ihre Eigenkapitalquote gegen Null tendiert – eine Entwicklung übrigens, die schon lange anhält.

    "Wenn man sich Eigenkapitalquoten von Banken anschaut, dann lagen die im Jahre 1900 so im Schnitt so bei 20, 25 Prozent, im Jahre 1930 noch bei zehn Prozent und heute noch bei zwei Prozent oder sogar noch etwas drunter,..."

    ... sagt Carsten Burhop, Professor für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an der Universität zu Köln. Hinzukommt, dass Banken immer größer werden: 1930 entsprach die Bilanzsumme der Deutschen Bank etwa fünf Prozent des deutschen Volkseinkommens, heute sind es 80 Prozent, die zum größten Teil auch noch durch Schulden finanziert worden sind. Grundsätzlich sei gegen Schulden nichts einzuwenden, schon der österreichische Ökonomen Joseph Alois Schumpeter habe erkannt, "dass der Unternehmer auf Schulden zum Erfolg reite",...

    "... was aber ein Problem ist, wenn die Schulden nicht mehr dazu dienen, produktive Investitionen zu fördern, sondern wenn man sich verschuldet innerhalb des Finanzsektors, also wenn eine Bank mit der anderen Bank Geschäfte macht, ohne dass eben reale Wirtschaftsgüter damit finanziert werden."

    Kommt es zum Crash "systemrelevanter Banken", springt der Steuerzahler ein. Der hat aber vor allem in den südeuropäischen Ländern ohnehin mit hohen Schulden zu kämpfen. Nationalstaaten werteten früher in einer solchen Situation einfach ihre Währung ab – bezogen auf den Euro gibt es aber keine Nationalstaaten mehr. Ein Problem, das natürlich allen bei der Einführung des Euro klar war, allerdings hat keiner der Akteure an die sogenannte No-Bailout-Klausel geglaubt.

    "Man ging davon aus, dass, wenn eben Griechenland oder Portugal in Probleme gerät, dass dann die Schulden von den anderen Mitgliedern der Eurozone übernommen werden, und das bedeutet, dass es kein Ausfallrisiko mehr für solche Schuldner mehr gibt, und da es auch kein Währungsrisiko mehr gab, da ja alle des Euro haben, bedeutet das, dass alle Länder den selben Zinssatz haben."

    Kurz: Die Ökonomie in Europa kennt keine Grenzen. Ganz anders übrigens in den USA: Auch dort gibt es mit dem Dollar zwar eine einheitliche Währung, geht einer der 50 Bundesstaaten pleite, haften aber weder die Zentralregierung in Washington noch einer der anderen Bundesstaaten. Das Konzept der "Vereinigten Staaten von Europa" lässt sich mittelfristig aber kaum umsetzen, andere Lösungen müssen her. Fatal sei zum Beispiel, dass die Staatsanleihen zum größten Teil von ausländischen Investoren gekauft würden. Wären inländische Investoren die Besitzer, wäre der Druck auf die Regierungen wesentlich geringen. Gleichzeitig hat sich aber der Euro für viele Länder zu einer Währungsreserve entwickelt – was Paul Windolf, Professor für Soziologie an der Universität Trier, durchaus positiv bewertet.

    "Deshalb passen auch die Nicht-Euro-Staaten ganz genau auf, was mit dieser Eurokrise hier in Euroland passiert, weil sie wissen, wenn der Euro massiv abgewertet wird, haben sie massive Verluste in Bezug auf die Währungsreserven, die sie halten."

    China etwa investiert auch deshalb viele Milliarden Euro in Europa, weil ein starkes Europa in seinem ureigenen Interesse liegt. Geht der Euroraum pleite, verliert es viel Geld! Die Eurokrise lässt sich allein mit diesen Maßnahmen aber kaum beilegen, dafür bedarf es schweres Gerät. Zwei Varianten kommen in Frage: Inflation oder Schuldenschnitt.

    "Es wird wahrscheinlich ein Ansteigen der Inflationsrate geben, es wird einen Schuldenschnitt geben, wir haben das in Bezug auf Griechenland in der ersten Runde schon beobachtet, es wird wahrscheinlich einen zweiten Schuldenschnitt geben, es wird einen Maßnahmenbündel geben, anders kann ich mir den Ausweg aus dieser Krise auch nicht vorstellen."

    Flankierend sind aber noch weitere Vorschläge im Gespräch. Mikrokredite etwa für notleidende Menschen, ein Konzept für die Ärmsten der Armen in Entwicklungsländern. Zwischen 100 und 300 Euro betragen die Darlehen für Nähmaschinen oder Werkzeug. Was anfangs als elegante Lösung finanzieller Probleme gefeiert wurde, ist heute allerdings in Misskredit geraten. Erstens sind die Zinsen mit knapp 30 bis knapp 200 Prozent exorbitant hoch; und zweitens fließen die Kredite keineswegs alle in Nähmaschinen oder Werkzeug, die Mehrheit finanziert ihren Lebensunterhalt mit dem Geld.

    "Andererseits ist es aber auch so, dass diese Kredite allgemein nicht sonderlich viel wirtschaftliches Wachstum schaffen, weil die Leute ja in genau denselben einfachen Geschäftstätigkeiten wie vorher agieren."

    Philip Mader, Soziologe am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln. Das System der Mikrokredite gewinnt im Rahmen der Finanzkrise auch in Europa eine immer größere Bedeutung.

    "Die EU hat jetzt speziell in den letzten Jahren einen eigenen Mikrofinanzfonds aufgesetzt, Deutschland hat das auch getan, es ist gerade so in der Entstehungsphase, Mikrokredite auch in den Krisenländern und bei Arbeitslosen als Teil der Sozialpolitik einzusetzen, es ist dann genauso wie in den Entwicklungsländern, dass den Leuten statt einer Unterstützung, ein unternehmerisches Risiko abverlangt wird."

    Die Schulden armer Portugiesen oder Griechen lassen sich mit Mikrokrediten kaum senken. Immerhin eine klare Antwort unter vielen unklaren. Auf dem Institutstag wurde wieder einmal das Grunddilemma der Sozialwissenschaften deutlich: Niemand kann verlässliche Prognosen über die Zukunft geben!

    Wolfgang Streeck, Professor für Soziologie und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln.

    "Das ist genau das, was die Politiker gerne hätten, die würden gerne wissen, wenn ich an diesem Hebel ziehe, was kommt dann hinten raus. Das können wir denen nicht sagen. Es gibt einige Kollegen, die tun so, als könnten sie denen das sagen, die sind meistens Ökonomen, ich glaube, die Politiker, die nehmen die weniger ernst denn je, nach 2008, als die alle noch Rekordwachstumsraten vorhergesagt haben, und nachher brach das Ding ein und keiner wusste, dass das kommt, haben die natürlich ihre Glaubwürdigkeit verloren."

    Was aber kann Sozialwissenschaft leisten? Zunächst einmal müsse sie aufklären, so Streeck, viele Politiker möchten ja gar nicht, dass ihre Wähler im Detail verstehen, was sie da machen. Jenseits dieser Bringschuld gehe es aber auch um eine neue Theoriebildung. Die aktuelle Finanzkrise belege überdeutlich, dass die Sozialwissenschaft kein Instrumentarium besitzt, die Krise zu erklären, geschweige denn zu lösen.