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Oettinger über Auftritte türkischer Politiker
"Man muss vor Ort entscheiden"

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger hat sich gegen ein generelles Auftrittsverbot für türkische Politiker ausgesprochen. Es gebe keine einheitliche europäische Rechtsordnung, sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk. Versammlungsrecht sei nationales Recht, in Deutschland sogar Länderrecht. Deshalb müsse man vor Ort entscheiden.

Günther Oettinger im Gespräch Christoph Heinemann | 17.03.2017
    EU-Kommissar Günther Oettinger
    EU-Kommissar Günther Oettinger (AFP / Emmanuel Dunand )
    In Holland verhängte Verbote könne man nicht einfach in Deutschland kopieren, sagte Oettinger im DLF. Mit Blick auf die Wahl in den Niederlanden fügte er hinzu, dass Geert Wilders mit seiner Partei nicht zur stärksten Kraft geworden sei, werde die Demokraten in anderen Ländern bestärken, für Werte und die europäische Einigkeit einzutreten. Wilders sei nicht irgendwen, sondern der neben Frau le Pen bekannteste Restpopulist mit ganz harter Kante gegen Europa, die europäische Währung und gegen Einwanderer.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie ist sich sicher: Das jüngste Wahlergebnis in unserem Nachbarland wirkt über die Grenzen der Niederlande hinaus. Leggewie gestern bei uns im Deutschlandfunk:
    O-Ton Claus Leggewie: "Ich glaube, wir haben es in ganz Europa mit einer Trendwende zu tun. Hier ist jetzt eine klare Alternative und das ist eben sehr wichtig, dass wir gewissermaßen nicht nur angstvoll auf die Populisten schauen und auf ihren nächsten rhetorischen Ausfall oder ihre nächste Propaganda starren, sondern dass wir ein Programm für ein nicht mehr Europa, nicht für weniger Europa, sondern für ein besseres und anderes Europa vorlegen."
    Wähler mit klaren Aussagen überzeugen
    Heinemann: Da war es, das Zauberwort "Trendwende", denn nach der Wahl ist vor der Wahl. Wenn wir die Farben der niederländischen Nationalflagge vertikal anordnen, dann ergibt das die französische Tricolore. Kleine Anekdote: Den Unterschied zwischen längs und quer kannten protestierende Erdogan-Befürworter offenbar nicht, als sie jüngst in der Stadt Samsun eine französische Fahne verbrannten. Dabei dürfen Erdogans Sendboten in Frankreich für die umstrittene Verfassungsreform werben, allerdings nicht in den Niederlanden. – Am Telefon ist der CDU-Politiker Günther Oettinger, EU-Haushaltskommissar. Guten Morgen.
    Günther Oettinger: Guten Morgen.
    Heinemann: Herr Oettinger, haben die Wählerinnen und Wähler in den Niederlanden einen Trend gewendet?
    Oettinger: Das wird man sehen. Ich glaube, ja. Herr Wilders ist ja nicht irgendjemand. Er ist der neben Frau Le Pen bekannteste und auch am stärksten mit einer ganz harten Kante gegen Europa, gegen die europäische Währung, gegen Zuwanderung, Ausländer, gegen Muslime per se, der am stärksten profilierte Rechtsaußen. Deswegen: Indem ihm in Holland die Grenzen aufgezeigt wurden, wird das mit Sicherheit auch Demokraten in anderen europäischen Ländern bestärken, jetzt zu kämpfen für unsere Werte, für Liberalität, für die europäische Gemeinschaft einzutreten. Ich bin sicher, dass dies in Frankreich in wenigen Wochen sichtbar wird.
    Heinemann: Es ist ja die Frage, wer sich da wirklich durchgesetzt hat. Mark Rutte hat sich Geert Wilders angenähert und nicht umgekehrt. Rutte hat ja den Menschen mit Migrationshintergrund ganz offen gesagt, benehmt euch, oder geht. Ist das die richtige Sprache?
    Oettinger: Ich halte dies für vertretbar. Im Wahlkampf muss man mit klaren, wenn auch verkürzten Aussagen die Wähler überzeugen. Das hat Rutte gemacht und Rutte ist ansonsten im gesamten politischen Leben jemand gewesen, der liberale Gedanken unterstützt, der Weltoffenheit unterstützt, der Holland nicht irgendwie in eine Wagenburg bringen will. Und er hat eben auch Herrn Erdogan klar gemacht, dass der Stil und der Inhalt, der aus Ankara kommt, in Europa nicht akzeptabel ist.
    "Noch immer sind nicht alle ausländischen Mitbürger ausreichend integriert"
    Heinemann: Sollte das die CDU im Bundestagswahlkampf auch sagen, benehmt euch, oder geht?
    Oettinger: Wir haben noch keinen Wahlkampf. Wir haben in Deutschland, glaube ich, eine große Integrationsaufgabe, unverändert. Noch immer sind nicht alle ausländischen Mitbürger in der Gemeinschaft in den Städten, in dem Vereinsleben, in der Arbeitswelt ausreichend integriert. Da ist gerade bei türkischen Mitbürgern noch viel zu tun, von beiden Seiten, und zwar von uns, das heißt Politik, Verwaltung, Öffentlichkeit, aber auch von den Mitbürgern, die mehr tun müssen, um sich nicht abzuschotten, zu isolieren, sondern um sich einzubringen und zu integrieren.
    Heinemann: Was heißt das jetzt genau? Die Regierung in Den Haag hat sich einen türkischen Wahlkampf in den Niederlanden verbeten und sie hat das auch durchgesetzt. Die Bundesregierung sagt, wir wollen keine türkische Innenpolitik in Deutschland, aber wir tun nichts dagegen. Welche Haltung ist glaubwürdiger?
    Oettinger: Wir haben ja hier keine einheitliche europäische Rechtsordnung, und damit ist das Versammlungsrecht, das Recht, Veranstaltungen abzuhalten oder zu demonstrieren, öffentliche Auftritte in Stadthallen, auf Marktplätzen zu machen, nationales Recht. Und in Deutschland ist das Versammlungsrecht gar Länderrecht. Das heißt, wir haben hier 16 unterschiedliche Regelungen. Deswegen muss man im Augenblick vor Ort entscheiden, und das hängt dann sehr stark von der Sicherheit, der Gefährdungslage ab. Und ansonsten: Inhaltliche Aussagen müssen sich dem Strafrecht stellen. Das heißt, sie dürfen nicht verleumden, nicht beleidigen, sie dürfen nicht verunglimpfen. Insoweit kann man nicht generell sagen, Holland kann in Deutschland kopiert werden. Aber ich glaube schon, dass die türkische Regierung und die Partei, die das Referendum unterstützt, wissen muss, sie kann in Deutschland nicht auftreten, wie sie es in Ankara plant.
    "Sie müssen sich an deutsche Regeln und an Regeln in Europa halten"
    Heinemann: Macht sie aber doch.
    Oettinger: Mit Einschränkungen. Wir haben Gaggenau hinter uns, wir haben eine klare Aussage der saarländischen Regierungschefin. Ich glaube, wir haben schon auch die Kanzlerin im Gespräch mit dem Premierminister den Türken aufgezeigt, sie müssen sich an deutsche Regeln und an Regeln in Europa halten.
    Heinemann: Der türkische Außenminister hat in Hamburg den sogenannten Wolfsgruß gezeigt. Das ist ein rechtsnationalistischer Gruß.
    Oettinger: Ja, das ist unmöglich! Das war nicht absehbar.
    Heinemann: In Deutschland ist das möglich.
    Oettinger: Das war nicht absehbar, das war nicht angekündigt. Aber es jetzt zu kritisieren und damit noch mehr kritisch darauf zu achten, was in den nächsten Wochen passiert, ist sicherlich notwendig.
    Heinemann: Herr Oettinger, rechnen Sie damit, dass in den europäischen Staaten künftig häufiger Wahlkämpfe anderer Nationen ausgetragen werden?
    Oettinger: Das glaube ich nicht. Gut: Ich meine, auch wir haben in deutschen Wahlkämpfen oftmals auf Mallorca oder in Nachbarregionen gewisse Kontakte und auch Gespräche, aber ich glaube, dass trotzdem der Schwerpunkt in den Mitgliedsstaaten auf der Ebene bleibt, in der die Wahl stattfindet. Das heißt, eine Bürgermeisterwahl in dem Ort, eine Landtagswahl in dem Land und nationale Themen in den Mitgliedsstaaten und nicht in den Nachbarstaaten.
    "Ich glaube, dass der Binnenmarkt ein ganz wichtiger Faktor ist"
    Heinemann: Ende der kommenden Woche feiert Europa die Römischen Verträge, oder feiern die europäischen Regierungen die Römischen Verträge, die dann ihren 60. Geburtstag begehen. Was hält die EU augenblicklich eigentlich noch zusammen?
    Oettinger: Sehr viel! Bei allen Sorgen, die wir haben, es gibt auf der Welt keinen Kontinent, der so über 24 Sprachen hinweg mit so vielen Kriegsgeschichten der letzten Jahrhunderte kooperiert und vieles gemeinsam entscheidet. Und ich glaube, dass der Binnenmarkt ein ganz wichtiger Faktor ist. Schauen Sie, ich komme aus Baden-Württemberg. Wir Baden-Württemberger stellen viel mehr Autos her, als der Baden-Württemberger selbst benötigt. Das gleiche gilt für den Maschinenbau, die Exportwirtschaft generell. Für uns Deutsche ist der Binnenmarkt von 500 Millionen Menschen mit assoziierten weiteren Ländern, Schweiz, Norwegen, der Westbalkan, ein großes Stück und die Grundlage für unseren sozialen Wohlstand: Ein Standard, keine Zölle, keine Abschottung, keine Protektion.
    Der Binnenmarkt, aber auch die Friedensunion. Gehen Sie nur mal 20 Jahre zurück. Da war auf dem Westbalkan ein schlimmer Bürgerkrieg und Hunderttausende von Flüchtlingen kamen zu uns nach Deutschland. Kroatien, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Kosovo, Slowenien, die könnten keinen neuen Staat Jugoslawien gründen. Aber als Regionen in der europäischen Friedensfamilie, das kann gut gehen. Das heißt, wir exportieren auch in der Gegenwart Frieden und Werte.
    "Die Berufszugangsvoraussetzungen bleiben nationale Kompetenz"
    Heinemann: Herr Oettinger, Sie haben den Binnenmarkt genannt. Darum gibt es gerade wieder Ärger, genau gesagt um die Haltung der Kommission. Unser Europakorrespondent Jörg Münchenberg schildert uns kurz das Problem:
    Jörg Münchenberg: "Im Januar dieses Jahres hat die Kommission ein umfangreiches Paket zur Umsetzung des Binnenmarktes auch bei Dienstleistungen vorgelegt, gegen das wiederum das deutsche Handwerk seither Sturm läuft. Die geplanten Maßnahmen würden weder die Chancen von kleineren und mittleren Betrieben für den Binnenmarkt verbessern, heißt es. Außerdem sei der Vorschlag nicht mit der Souveränität der Mitgliedsstaaten zu vereinbaren. Brüssel wiederum schwärmt von einem potenziellen Kundenkreis von 500 Millionen Menschen, den sich nun Handwerk und die freien Berufe erschließen könnten. Dazu hat die EU-Kommission drei Vorschläge unterbreitet.
    Zum einen eine elektronische Dienstleistungskarte, die beim Gang ins Ausland den Verwaltungsaufwand reduzieren helfen soll. Zudem hat Brüssel einen umfassenden Leitfaden vorgelegt, mit dem die Mitgliedsstaaten die geltenden Auflagen für die freien Berufe überprüfen sollen. Schließlich – und dieser Punkt ist am umstrittensten – will sich die Kommission vorbehalten, geplante Auflagen durch die Mitgliedsstaaten auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüfen zu dürfen. Hier aber – so heißt es beim Handwerk – sei die Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof völlig ausreichend."
    Heinemann: Herr Oettinger, da ist wieder der Vorwurf: Die Kommission mischt sich dauernd in Dinge ein, die sie nichts angeht. Warum?
    Oettinger: Wir haben im Dienstleistungssektor den Binnenmarkt noch nicht vollendet. Und wir glauben, dass hier große Chancen für Handwerk und freie Berufe bestehen. Übrigens: Der Europäische Rat, das heißt die Regierungschefs fordern uns seit zwei Jahren im Vierteljahrestakt auf, genau dies vorzulegen. Jetzt haben wir es getan und meine Bitte ist an alle Beteiligten, lesen Sie unsere Texte. Durch Handauflegen alleine kann man den Inhalt nicht verstehen. Der Meisterbrief wird nicht verändert. Die Berufszugangsvoraussetzungen bleiben nationale Kompetenz. Aber wir glauben, dass im grenzüberschreitenden Dienstleistungsbereich große Potenziale liegen: Der Handwerker aus Kehl in Straßburg, der freie Berufler, der Architekt aus Kollmar in Freiburg. So wie das bei der Industrie längst der Fall ist, sollten wir alles tun, um auch grenzüberschreitend Dienstleistungsberufen den Zugang zu erleichtern.
    Heinemann: EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Oettinger: Einen guten Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.